KISHOU II

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Der Auftrag Suäl Graals

Rahon tobte.

Die Bewohner Zargos blickten betreten auf die leere, runde Kammer des Engerle, in dem sie nun einen reumütigen Tek zu finden erhofften.

Ein kleiner Grabenmacher drängte sich durch die Menge – seine Kleidung und Haare waren verschmutzt mit Sand und Staub. „Der Tunnel verdrängt das Allsein bis dort drüben vor dem Grenzwall!“, rief er aufgeregt, noch bevor er Rahon, der offenbar das Ziel seines Drängens war, endlich erreichte. Sein Arm wies in die entsprechende Richtung.

Rahon war verstummt, als er den Jungen kommen sah, und nickte nun mit finsterer Miene. „So verdrängt es das Allsein!“, sagte er, und blickte angestrengt überlegend zum Himmel. Plötzlich machte er ein paar Schritte auf die schwere, hölzerne Tür der Kammer zu, und warf sie wütend in das Schloss. „Der junge Tek hat den Ort und seinen Stamm verraten. Er verdrängt nun nicht mehr das Allsein als ,Tek, der Dompteur, vom Stamme der Grabenmacher!“ Er holte tief Luft. „Er gehört nicht mehr zu uns!“, schrie er erbost in die Menge, was von denen mit einem tiefen Brummen und zustimmenden Nicken bestätigt wurde. „Geht in eure Reviere, und sammelt die Pfeile, Bögen, und sonstigen Besonderen Apparate. Schon morgen werden wir den Pfad bemessen gegen Luegra, der Oase der Langen Schatten. Tek kennt unseren Plan und wird sie warnen. Wir müssen die Eroberung vom Allsein verdrängen, bevor ihre Zeit genügend Raum bietet, sich auf uns vorbereiten zu können!“

Sofort stob die Menge in alle Richtungen auseinander. Nur der kleine Grabenmacher, der den Tunnel erkundet hatte, blieb zurück. Mit leuchtenden Augen schaute er zu Rahon hoch. „Darf ich dabei sein, wenn wir Luegra als einen Ort der Grabenmacher vom Allsein verdrängen?!“

Rahon schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Nein Kleiner. Du verdrängst noch nicht genügend Zeit und Raum vom Allsein. Es wird schwer werden ohne die Unterstützung deiner Bemessungen, aber wir werden es noch einmal ohne dich vom Allsein verdrängen müssen!“, fügte er tröstend hinzu.

Der Kleine nickte verständig und ernst. „Dann werde ich den Tunnel wieder dem Allsein zuführen, den Tek bemessen hat, damit nicht noch einmal jemand aus dem Engerle entfliehen kann.

„Wenn du dies vom Allsein verdrängen würdest, wäre darin eine große Hilfe für mich entschieden – denn sonst müsste ich es womöglich selber tun, und könnte dann nicht zur rechten Zeit unseren Stamm gegen Luegra führen!" Rahon war wohl zurecht der Anführer von Zargo. Er verstand es sehr gut, mit seiner Gefolgschaft umzugehen.

Der Kleine zog stolz seinen ebenso kleinen Spaten von der Schulter, den jeder Grabenmacher wie einen Teil seines eigenen Körpers ganz selbstverständlich mit sich trug. „Mach dir keine Sorgen!“, sagte er, und klopfte dabei Rahon beruhigend auf den Oberarm – bis an seine Schulter reichte er eben noch nicht. „Ich mach das schon!“ Und schon war er weg.

Rahon wollte sich gerade auch auf den Weg in sein Revier machen, als er die kleine Gruppe von Grabenmachern bemerkte, die geradewegs auf ihn zukam. Sie stritten scheinbar miteinander, und einer von ihnen stieß immer wieder die anderen von sich, wenn sie ihm zu nahe kamen. Rahon erkannte in ihm den alten Kasid, einen der ältesten Grabenmacher dieses Ortes. Er lag schon seit einigen Tagen im Sterben, und war eigentlich lange schon viel zu schwach, sein Revier zu verlassen.

Ungläubig blickte Rahon auf die sich ihm nähernde Gruppe, und fixierte den Alten misstrauisch, als die Gruppe ihn endlich erreicht hatte. Irgend etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. „An dir verdrängt kein Spaten das Allsein, Kasid!“, sagte er zu dem Alten – eher, um überhaupt irgend etwas zu sagen. Denn der Alte schien alles andere als schwach und sterbend, und schaute ihn vielmehr mit durchdringenden Augen an.

„Kasid braucht seinen Spaten nicht mehr!“, antwortete dieser, ohne seinen durchdringenden Blick von Rahon zu lassen. „Du bist Rahon, der Führer dieses Ortes, und du bist der, dessen Wort zählt in Zargo – einem jener wenigen Orte in der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms, in denen die Wasser noch nicht gänzlich versunken sind!“

Rahon zögerte einen Moment. Es waren nicht die Worte, die ein Grabenmacher sprach. „Du solltest es bemessen können!“, antwortete er ausweichend. „Aber ich frage mich, ob sich in dir Kasid vom Allsein verdrängt. Ich kenne Kasid, doch du ...!“

„Kasid ist nicht mehr in eurer Zeit!“, unterbrach ihn der Alte mit fester Stimme. „Ich nutze nur das Nachleuchten seines verlassenen Ortes, um an dem deinen zu sein!“

Rahons Brauen zuckten nach oben, als sich seine Augen weit öffneten. Er hatte eine böse Ahnung, die ihm im selben Augenblick als Gewissheit erschien. Es woben sich viele Legenden um die Fähigkeiten eines Dompteur – diese war ihm fremd, doch es konnte nicht anders sein ... „Du bist Tek, der Dompteur, der die schwäche Kasids nutzt, um in ihm statt seiner das Allsein an diesem Ort zu verdrängen!“ Während er dies ausrief, hatte er bereits seine Lanze erhoben und sie mit aller Wucht gegen den Alten geschleudert. Der kurze Flug der Lanze musste nur wenige Schritte überwinden, bevor die Gewalt des Wurfes den gespitzten Stab tief in den Körper des Alten trieb.

Das Abbild Kasids zeigte keinerlei Reaktion, und starrte mit seinem durchdringenden Blick weiter in Rahons Augen – und wie von Geisterhand geführt, verließ die Lanze langsam den Körper des Alten auf dem selben Wege, wie sie in ihn eingedrungen war. Rahon und die Gruppe, die Kasid begleitet hatte, erstarrte.

Als der Stab den Körper gänzlich verlassen hatte, begann er sich zu drehen, und richtete seine Spitze gegen Rahon. Unfähig sich zu rühren, sah er, wie sich die Lanze in Augenhöhe langsam auf ihn zu bewegte, bis die scharfe Spitze direkt zwischen seinen Augen zum stehen kam – gerade, dass sie seine Nasenwurzel berührte. Rahon schloss die Augen. Er war nicht fähig irgend etwas zu tun.

Der Druck der Spitze ließ plötzlich nach, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie sich das hintere Ende des Lanzenschaftes langsam nach oben bewegte, bis sie gänzlich senkrecht stand. Mit einem Zischen stieß sie nach unten und bohrte sich zwischen seinen Sandalen tief in den Boden ...

„Du solltest nicht meine Macht herausfordern!“, sagte die Stimme des Alten. „In dir ist nur eine Zeit, in der du das Allsein verdrängst, weil ich so entschieden habe. Ich kann auch anders entschieden sein! Es ist Deine Unwissenheit, die meinen aufkommenden Zorn beschwichtigt. So will ich in dir vom Allsein trennen: Ich bin kein kleiner Dompteur eures Volkes, den ihr als Tek vom Allsein verdrängt!“

Rahon spürte, wie die Erstarrung von seinem Körper wich, und er seine Glieder wieder zu bewegen in der Lage war. „Wer bist du dann?!“, quetschte er angestrengt aus seiner noch nicht ganz befreiten Kehle hervor.

„Ich bin die Ursache, und ich bin die Wirkung!“, tönte es aus dem Munde Kasids, und seine ohnehin dunkle Stimme klang plötzlich, als hätte sie sich verdoppelt. „Ich bin der Schatten, der das Licht spiegelt. Ich bin wider dem Allsein – Suäl Graal, Hüterin der Großen Tore der Großen Wasser, und Herrscherin, über alles was da war, ist, und sein wird!“

Rahon spürte, wie sich seine Haut eng um ihn zusammenzog. Bleich sank er, wie alle anderen auch, langsam auf seine Knie. „Verzeih die Unbemessenheit meiner Verdrängung ...!“, stotterte er zutiefst erschrocken. „... ich konnte nicht ahnen ...!“

„So höre denn, was ich dir zu sagen habe!“, unterbrach ihn die durchdringende Stimme, die nun nichts mehr mit dem alten Kasid zu tun hatte. Auch seine Lippen bewegten sich nicht mehr, als er sprach – und seine Augen schienen über den knienden Rahon hinweg ins Unendliche zu schauen.

„Dies ist die Zeit der Entscheidung!“, sprach es.

„Das Untere Squatsch,

Herrscher über die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms,

Hat seine Untertanen,

Hat sein Volk,

Verraten.

Er hat Einlass gewährt,

In die Zweite Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms,

Kishou,

Die da entschieden ist,

Die Große Ordnung Suäl Graals zu stören.

Kishou,

In sich tragend,

Die Macht aller vergangenen Dompteure,

In sich tragend,

Die Macht des Erkennens,

Doch auch in sich tragend,

Die Ohnmacht der Unerfahrenheit,

Und damit der Aufhaltsamkeit,

Ist entschieden,

Zu erfahren,

Und damit unaufhaltsam zu werden!“

Der Blick des Alten kehrte wieder zurück aus der Unendlichkeit, und bohrte sich erneut in die Augen Rahons. Auch seine Lippen bewegten sich nun wieder.

„So höre denn, was ich dir auftrage:

Du wirst Deinen Stamm zu einer Stätte führen, die ich dir benennen werde.

Dort wirst du zusammentreffen mit weiteren Stämmen der Grabenmacher, als auch der Stämme der Langen Schatten. Gemeinsam und unter deiner Führung solltet ihr die Kraft haben, das Wesen, das als Kishou erkannt werden will, und sich mit Macht vom Allsein trennt, zu vernichten und dem Allsein zuzuführen!“

Rahons Augenlider ruckten nach oben. Er sollte sich mit den Langen Schatten vereinigen ...? Der Blick Suäl Graals erstickte aber sogleich den Reflex des Widerspruchs.

„Doch damit nicht genug!“, setzte Suäl Graal in der Erscheinung Kasids fort. Die Macht Kishous ist groß. Zu groß, als das ihr es wagen solltet, ihr zu begegnen. So wird sich auch ein großes Heer der Korks bei euch einfinden, die ich nahe genug verstreut fand, um dem Verlangen meiner Entschiedenheit zur rechten Zeit beiwohnen zu können. Sie werden sich deinen Anweisungen unterwerfen, wie auch die Stämme der Langen Schatten, bis das die Entscheidung vollendet, und vollkommen entschieden vom Allsein verdrängt sein wird! Ihr aber haltet euch in gebührenden Abstand und mit gebundenen Augen gegenüber der, die als Kishou erkannt sein will, wie ihr es entscheidet, wenn ihr auf den Rjuchhu trefft. Von dort sollt ihr eure Pfeile zum Ort des Zieles führen – während das Heer der Korks deinem lautenden Befehl folgend, vordringt. All dies, was ich in dir nun vom Allsein getrennt, trenne ebenso vom Allsein in deinem Gefolge und auch in den Stämmen der Langen Schatten, und sie werden gehorchen!“

 

Die Ausführungen des Alten waren wohl zu Ende, und es entstand eine kleine Pause, bevor seine Stimme noch einmal nachfragte. „Ist da noch etwas, dass du wissen solltest?!“

Rahon biss sich auf die Lippen. „Du verlangst viel von mir und meinem Stamm. Die Langen Schatten ... .“

„Suäl Graal ,verlangt’ nicht, Suäl Graal ist entschieden!“, wurde er von der unheimlichen Stimme aus Kasids Körper barsch unterbrochen – sie kam wieder aus unbewegtem Munde.

Rahon schluckte, und senkte erschrocken seinen Blick. „Wo ist der Ort der Zusammenkunft, und wo verdrängen wir das Wesen vom Allsein, das als Kishou erkannt sein will?!“, fragte er sehr kleinlaut.

„Gut! – Das ist die Frage, die ich hören wollte, und die in mir vom Allsein trennt, dass du mich verstanden hast!“, antworteten die unbewegten Lippen Kasids. Ihr werdet euch zusammenfinden im Angesicht der verbotenen Stätte – im Schatten des vierten Winkels, welcher erscheint, wenn die Sonne die verbotene Stätte zu Gänze bemessen hat!

„Rahons Augen weiteten sich erschrocken „Die ,Verbotene Stätte’ ...?

„So soll es euch gestattet sein in der Zeit, die eure Tat an Raum bemisst!“, unterbrach ihn die Stimme sofort wieder. „Sucht und folgt der Fährte des Dompteurs. Dort, wo ihr seine Zeit bemisst, werdet ihr die anderen – und Kishou bemessen!“

Die Stimme verstummte. Die durchdringenden Augen des Alten fielen wieder durch Rahon hindurch, und begannen glasig zu werden. Langsam neigte sich der alte Körper steif nach hinten über seinen Schwerpunkt hinaus, um endlich wie ein gefällter Baum nach hinten umzukippen, und auf dem Boden aufzuschlagen. In den weit geöffneten Augen war kein Leben mehr zu erkennen. Der Körper war nur noch das Nachleuchten eines einstmaligen Wesens, das sich in einer Zeit des Ausglimmens mit dem Sande vereinigen würde – wie sich alle Zeit irgendwann mit der des Sandes vereint ...

Es dauerte noch einige Zeit, bis sich in Rahon und den Anderen wieder etwas regte.

Noch sichtlich benommen erhob er sich endlich und atmete einige Male tief durch. „In euch ist vom Allsein getrennt, wie Suäl Graal entschieden ist, und was nunmehr das Allsein verdrängen wird!“, sagte er, und man sah ihm an, dass es ihm nicht leicht fiel, diese unerwartete Entwicklung anzunehmen. Es war nicht dieses Wesen, das Suäl Graal ,Kishou’ nannte, dass in ihm Unmut und Besorgnis auslöste – er konnte die Bedrohung nicht einschätzen, die von ihm ausgehen sollte. Es war eher zum einen der Umstand, dass sie gegen das Untere Squatsch kämpfen sollten, dessen Untertan sie immerhin alle waren, und der sich niemals in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte – aber noch viel mehr die kaum ertragbare Vorstellung, sich mit den Langen Schatten verbünden zu müssen. Das hatte es nicht gegeben, seit die Wasser begannen zu versiegen, und der Kampf der Stämme um die verbliebenen Oasen ihren Anfang nahm. Jene Ära lag weit vor der Zeit Rahons, und inzwischen erinnerte sich niemand mehr an den ursprünglichen Anlass der Fehden unter den Stämmen, von denen nur noch diese zwei geblieben waren. Die fehlende Erinnerung war längst ersetzt durch einen allgemeinen Hass gegen ,die Fremden’, die nicht zum eigenen Stamm gehörten, und daher keinen Anspruch hatten auf die immer weniger werdenden Oasen.

„Geht – und verdrängt das eure vom Allsein! Ich werde den Stamm zusammenrufen, um das Unvermeidliche in ihnen vom Allsein zu trennen!“, sagte Rahon knirschend. „Wir werden mit der nächsten Sonne aufbrechen, um in ihrem Untergang die verbotene Stätte zu bemessen!“

Ohne weitere Worte ließ er die Gruppe stehen und verließ den Ort des Geschehens. Er ging in sein Revier, um das 'Lange Horn' zu blasen, dessen weitreichender Ton den Stamm aufrief, sich auf dem Versammlungsplatz Zargos einzufinden.

~*~

Entdeckungen

Mo hatte die Führung übernommen. Sie schritt voran, wie es jemand tut, der keinen Zweifel an der einzuschlagenden Richtung hat. Ab und zu verharrte sie einen Augenblick und schien in das weite Land hineinzuhorchen – machte dann zuweilen einen harten Schlenker und änderte die Richtung. Das war aber kein Ausdruck von Orientierungslosigkeit, sondern ihr Gespür für die Grenzen der Reviere, die hier die verschiedensten Wesen wohl für sich in Anspruch nahmen, und die respektiert werden wollten. Weitere böse Überraschungen, wie die mit den Knüppelhörnern, galt es möglichst zu vermeiden.

Es war ganz im Sinne Kishous, die sehr wohl Mos Verhalten verstand – wenn sie auch selbst nichts von dem bemerkte, was Mo immer wieder zu einer Korrektur der Richtung ihres Marsches veranlasste. Um so mehr versuchte sie ihre Augen möglichst überall gleichzeitig zu haben. Der Schrecken mit den Knüppelhörnern saß ihr noch tief in den Knochen, und sie hoffte sehr, dass ihnen eine Wiederholung erspart bliebe.

Es tauchten dennoch immer wieder einmal irgendwelche, oft seltsam anmutende Wesen auf, wie sie Kishou niemals zuvor gesehen hatte. Nur in den wenigsten Fällen schienen sie etwas mit den Tieren gemeinsam zu haben, die sie von ihrem großen Garten her kannte. Sie wäre oft gern stehengeblieben, um sie genauer zu betrachten, aber sie wagte es nicht, um nicht womöglich im gemeinsamen Marsch von der Gruppe zurückzufallen. Sie hielt sich eher möglichst in der Mitte des kleinen Trecks auf – und natürlich auch noch an der Seite Boorhs. Hinter ihnen watschelte das Untere Squatsch – hin und wieder leise vor sich hinschimpfend, wenn er mit seinen kurzen Beinen irgendein Hindernis nicht so ohne weiteres überwinden konnte.

Irgendwelche Geräusche waren immer zu hören. Entweder kamen sie von den zuweilen recht seltsamen Lauten der unzähligen Wesen, die dieses öde Land bewohnten, oder von brechenden kleinen Ästen der kahlen Bäume, die das Gewicht irgendeines Tieres nicht mehr zu tragen vermochten. Nicht zuletzt war da immer das Rascheln des trockenen, hohen Grases, das sie selbst oder irgendwelche Tiere verursachten, die in seinem Schutz verborgen die Steppe durchstrichen.

Die Landschaft mutete Kishou immer seltsamer an, je länger sie unterwegs waren. Es war ein sehr wildes Land – eigentlich zunächst ohne größere Besonderheiten – wenn man einmal davon absah, dass es im Gegensatz zum Ersten Drom nahezu sanft in seinen landschaftlichen Formen erschien.

Nur wenige hartkantige Felsen waren zu sehen, alles war eher abgerundet oder bestenfalls borstig – wie die Brust Boorhs, kam es Kishou einen Moment in den Sinn. Unzählige kleine Hügel und Täler – die mehr Senken als wirkliche Täler waren, sorgten für ein stetes auf und ab des Marsches. Aber das war nicht jeder Zeit ersichtlich, weil immer wieder ausgedehnte kahle Wälder und Baumgruppen die wechselnden Höhen für die Augen ausglichen. Die Bäume in den Senken wollten wohl einst der Sonne ebenso nahe kommen, wie diejenigen auf den Hügeln. Das, was die Landschaft letztlich wirklich seltsam erscheinen ließ, war, dass ihr bei aller Vielfalt jegliche Farben fehlten. Alles verlor sich in der Kontrastlosigkeit zwischen allen möglichen von zumeist hellen Brauntönen.

Wenn sie die Höhe eines Hügels überschritten, und dieser einigermaßen baumlos war, konnte Kishou in gehöriger Entfernung immer wieder diese schwarzgrauen Säulen erblicken, die sich verschiedentlich in den Himmel erhoben, und immer wieder ihre Verwunderung hervorriefen. Große, dunkle Berge schoben sie unablässig aus ihren Gipfeln hinaus.

„Boorh entscheidet: Es verdrängen sich viele Feuerberge in der Zweiten Ebene des Zweiten Tals des Zweiten Droms!“, ließ Boorh sich entgegen seiner gewohnten Wortkargheit vernehmen. Er hatte wohl das Staunen Kishous über diese Erscheinungen aus ihren geweiteten Augen, und ihrem offenen Mund erraten, mit denen sie bei jeder Gelegenheit zu ihnen hinüber starrte. Oder vielleicht war er auch so wortselig, weil er es offenbar genoss, all das zu sehen. Er hatte immerhin wohl eine halbe Ewigkeit auf diesen Anblick seiner zweiten Heimat verzichten müssen.

„Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir Trautel Melanchful mal erzählt hat – da gab es viele rauchende Berge – manchmal kam auch Feuer aus ihnen raus. Sind das solche Berge?", fragte sie fasziniert.

„Boorh entscheidet: Wenn Kishou so entscheidet, so verdrängt es das Allsein!“

Mo war wieder einmal stehen geblieben und erspürte mit geschlossenen Augen die Gegend. Dieses Mal bedurfte es aber nicht des besonderen Gespür Mos, um zu erkennen, dass sie nicht alleine hier in der Gegend waren. Ein unüberhörbares Gezeter, schreiende Laute und das Krachen berstender Äste zeigte an, dass unweit vor ihnen offenbar ein heftiger Kampf entbrannt war.

Kishou schrak heftig zusammen, und drängte sich dicht an Boorh, der in dem selben Augenblick bereits seine Axt aus dem Schulterhalfter gezogen hatte. Aber es war wohl mehr ein Reflex, denn eine unmittelbare Bedrohung bestand nicht. Der Kampf fand ohne Zweifel ein erklägliches Stück weiter vor ihnen statt.

Mo schien letztlich auch eher unbeeindruckt von dem Geschehen, und schwenkte einfach nur nach rechts ab, wie sie es immer tat, wenn sie meinte, ein Revier umgehen zu müssen.

„Was ist das?!“, fragte Kishou dennoch etwas besorgt.

Boorh schob bereits seine Axt wieder in seine Ruhestätte zurück. „Boorh entscheidet: Nur eine kleine Bemessung der Kräfte!“

Kishou konnte zwar die Ruhe seiner Haltung keineswegs teilen, fühlte sich dann aber doch besser, nachdem niemand von ihren Begleitern eine ernste Gefahr erkannte.

Nachdem sie offenbar erfolgreich dem Kampfgeschehen ausgewichen waren, kamen sie bald in ein ausgedehntes Waldgebiet. Es war ein unheimlicher Ort, befand Kishou, denn obwohl der Wald sehr dicht war, hatte die Sonne keinerlei Schwierigkeiten, ihren Weg bis zum Boden zu finden. Das blattlose Geäst bot trotz seiner Dichte den gleißenden Strahlen der Sonne kaum einen Widerstand. Mächtige hölzerne Stämme, die sich hoch in den Himmel reckten, standen dicht an dicht mit fingerdicken Stöckchen, die nicht mehr die Zeit gefunden hatten, erwachsen zu werden, und beim kleinsten Anstoß brachen.

Hellbraun war alles hier um sie herum. Ein helles, sandiges Braun, das sich nicht von den trockenen Gräsern unterschied – und auch nicht von dem Boden, aus dem sie vor langer Zeit einmal hervorgekrochen waren. Ein einziges, großes, wunderliches Skelett, das jegliches Fleisch verloren hatte. Und doch schien es, als wollte es leben. Kishou schauderte. Das stetige Krachen des spröden Holzes um sie herum, wo immer sie mit ihm in Berührung kamen, ließ es nicht zu, dass die Ohren voraushörten, um eventuelle Gefahren einschätzen zu können.

Seltsamerweise war dieser brüchige Wald offenbar frei von allen Wesen, die dieses Drom bewohnten. Nicht ein einziges Mal änderte Mo ihre Richtung, was darauf hindeutete, dass sie tatsächlich ganz allein in dieser seltsamen Kulisse wandelten. Als sich Kishou bei Mo darüber verwunderte, gab sie ihr zu verstehen, das man einen solchen Ort nicht verteidigen konnte, ohne ihn zu zerstören. Ein so brüchiges Revier wird niemand in Besitz nehmen wollen.

Bis zum Abend brauchte es, bis sie den knöchernen Wald durchschritten hatten. Als sie aus ihm heraustraten, fanden sie sich am Ufer eines gigantischen Sees wieder – zumindest das, was von ihm übrig geblieben war, vermutete Kishou in einer entsprechenden Äußerung sofort. Sie wurde in ihrer Annahme von Boorh sogleich bestätigt.

Der Anblick der weiten öden Fläche erinnerte sie an ihre ersten Schritte in der Ersten Ebene des Ersten Tals des Ersten Droms, nachdem sie Trautel Melanchful verlassen hatte – und sie ertappte sich dabei, dass sie nach unten schaute, um ihre Fußspuren zu sehen. Nach einer leichten Dünung erstreckte sich das weißlich-braune Tuch des ehemaligen Seegrundes bis zum Horizont, und riss dort in einem Spiegelbild die rote Abendsonne in tausend Fetzen. Doch sehr schnell erkannte sie die Unterschiede zu ihrer ersten Erfahrung. Der Boden war nicht gleichmäßig bedeckt mit feinem Sand, wie sie es im Ersten Drom Anfangs vorgefunden hatte. Hier war er brüchig – wie eine riesige zerborstene Glasscheibe: flach aus großer Höhe aufgeschlagen, in tausend Scherben gesprungen – und doch in einem Stück geblieben.

 

Kishou setzte sich, wo sie stand, und schnürte sich das Bündel von der Schulter, um erst einmal einen kräftigen Schluck aus ihrem Wasserbeutel zu nehmen. Noch nie zuvor bis zu diesem Augenblick hatte sie das Drama der Dürre so deutlich empfunden wie in diesem Moment. Eine ganze Weile saß sie so da, und starrte in die zerrissene Ebene hinein. Auch Boorh und Mo schienen sehr beeindruckt. Regungslos und mit versteinerten Gesichtern konnten auch sie sich offenbar nicht von dem Anblick lösen.

„Boorh entscheidet, wenn Kishou die Großen Wasser wieder wieder sein lässt im Großen Belfelland, werden ihre Augen vom Allsein trennen, was auch Boorhs Augen vom Allsein trennten, als er zuletzt diesen Ort bemaß!"

Kishou antwortete nicht, nur ihre Hand bewegte sich langsam nach oben zu ihrer Brust, bis sie den großen kristallenen Schlüssel darunter spürte. Durch ihre Bluse hindurch umspannte ihre Hand hart den langen Schaft. „Werden wir eine Oase sehen?“, fragte sie plötzlich leise, ohne ihren Blick abzuwenden.

„Boorh entscheidet: Der Pfad Kishous in das Zweite Tal der Zweiten Ebene des Zweiten Droms verdrängt den Ort ,Sahier’ vom Allsein. Es ist der ,Stamm des Zehnten’, der diesen Ort sein Eigen nennt. Doch Boorh kann nicht entscheiden, ob Sahier noch das Allsein verdrängt, nachdem nur noch zwei Stämme an diesem Ort bemessen sind – wie das Untere Squatsch entschieden ist.

Die Blicke von Boorh und Mo wanderten zu dem Erwähnten, der wohl von der ganzen Situation noch am wenigsten beeindruckt war. Er kannte das Land und seinen Niedergang – er hatte es in der langen Zeit mit angesehen, und sich längst daran gewöhnt. „Oh ...!“, stichelte er gespielt erstaunt gegen Boorh, und musste sich dabei fast den kurzen Hals verrenken, um zu dem nahestehenden Muskelberg aufzuschauen. „Er hat sich was gemerkt! Er hat sich tatsächlich was gemerkt – hat er sich! Wenn eine Zeit dafür ist, musst du in mir unbedingt den Trick vom Allsein trennen, wie du das bemessen ... oh – oh ... verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ... ich – äh ...!“ Er watschelte kopfwackelnd und schulterzuckend zu Kishou hinüber. „Natürlich, natürlich – es verdrängt dort eine Oase das Allsein – nicht sehr groß, ... nicht sehr groß! Die Grabenmacher hatten den ,Stamm des Zehnten‘ vor vielen Zeiten dem Allsein zugeführt. – hatten sie! ... und verdrängten jenen Ort fortan vom Allsein als ein Revier der Grabenmacher! Allerdings vor noch nicht sehr vielen Zeiten – nicht sehr vielen – nahm der Stamm der langen Schatten die Oase in seinen Besitz. Es war ein furchtbares Gemetzel ... ja, das war es! Nun ja, nun ja. Die Zeit der Oase verdrängt nicht mehr viel Raum vom Allsein – nicht mehr sehr viel. Aber sie ist noch immer im Besitz der Langen Schatten!“ Er wackelte mit dem Kopf. „Aber wie ich schon sagte, wir müssen vorsichtig sein. Aber wenn der Plattfuß da ... . Oh – oh ... verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ...!“ Er räusperte sich verlegen. „Also mit Mo und Boorh und meiner Wenigkeit können wir es sicherlich wagen, die Oase zu bemessen. Sicherlich! Ohne Frage das! Euer Beutel ist sicherlich nicht mehr gut gefüllt – ist er nicht, und ein Bad wäre wohl für euch ... nun ja – ... eine vollkommen bemessene Verdrängung des Allseins – wäre es wohl!“

„Baden ... was für ein Traum!“, schwärmte Kishou mit einem tiefen Seufzer. Sie nahm ein kleines Steinchen auf, und warf es im hohen Bogen von der Dünung herunter. „Plumps!“, sagte sie, als das Steinchen auf den harten Boden des einstigen Sees aufschlug. Sie lächelte dabei und zuckte resignierend mit den Schultern.

„Noch eine andere Oase verdrängt das Allsein – nicht sehr viel Zeit ist bemessen von diesem Ort!“, wusste das Untere Squatsch noch zu berichten. „Sie ist als ,Zargo’ vom Allsein getrennt – als Zargo! ... und ein Revier der Grabenmacher. Sie ist größer als Sahier – ja das ist sie! ... hat mehr Zeit. Aber ist wohl auch unangenehmer – ja das ist sie!“

„Was ich ehrlich gesagt nicht so recht verstehe, ist, warum wir vor den Afeten Angst haben müssen?“, wunderte sich Kishou. „Ich meine, du bist doch hier der König oder so was – also du herrschst doch über sie, oder nicht? Das Volk der Ky war doch auch sehr nett zu mir, nachdem ich Boorh getroffen hatte.

Dieses Thema war dem Unterem Squatsch offenbar nicht besonders angenehm. Er wackelte nervös mit seinem Kopf, trat von einem Bein auf das andere, und blickte immer wieder verstohlen zu Boorh und Mo hinüber, die sich inzwischen auch gesetzt hatten, und mit unbewegtem Blick auf den See starrten. Er vergewisserte sich wohl, dass sie ihn nicht hören konnten, bei dem, was er nun eingestehen musste. „Nein, nein – ja – doch ... natürlich! Ich bin ich der Herrscher über diesen Teil des Droms – das bin ich schon ... Das bin ich ohne jeden Zweifel ...!“, raunte er, und blickte dabei erneut verstohlen zu Boorh hinüber, als befürchtete er, dass dieser ihn hören konnte. „Aber ... ich bin eben doch nur ein ... – na sagen wir – ein halber Herrscher. ... Also natürlich ist in meiner Wenigkeit ein gänzlicher Herrscher ... keine halben Sachen – nein, nein – keine halben Sachen ...!“ Er rückte näher an Kishou heran, um noch etwas leiser sprechen zu können. „Aber wie ihr ja wisst, ist auch in Boorh ein Herrscher über diesen Teil des Droms vom Allsein verdrängt – also zur Hälfte ist auch er ...!“ Er schob sich noch etwas mehr an Kishou heran ... „..natürlich nur zur Hälfte! Aber das Volk verdrängt leider nicht viel Intelligenz vom Allsein, und meint immer, was größer bemessen ist, und eine Axt mit sich herumschleppt ...” Er wiegte seinen zu großen Kopf hin und her und kratzte sich nervös an seinem Hals herum ... „Nun sagen wir mal ... „er rückte sein Sakko zurecht. „... in mir verdrängt sich nun einmal nicht eine ganz so gewaltige Erscheinung vom Allsein ... nicht äh ... nicht ganz so gewaltig!" Nun schüttelte er fast ein wenig ärgerlich den Kopf. „Dabei bin ich sehr mächtig – sehr mächtig! Immerhin beherrsche ich das Allsein. Meine Wenigkeit verdrängt das Sein vom Allsein ... verdrängt es! – niemand außer mir ist dazu im Stande ... ihr habt’s ja bemessen – ihr habt’s bemessen ...!“

„Du meinst, wenn du dich in diese komische Kugel verwandelst – das sieht echt toll aus!“, sagte Kishou anerkennend. „Aber was machst du damit, mehr passiert ja eigentlich nicht ...!“

„Oh nein – Oh doch, doch!“, wurde sie vom Unteren Squatsch fast erschrocken unterbrochen. „Um das Allsein zu verdrängen, bedarf es einer ungeheuren Kraft – einer ungeheuerlichen Kraft. Niemand verfügt über solch ungeheuerliche Kräfte – ... außer meiner Wenigkeit – Oh, oh – Verzeiht diese kleine Unbescheidenheit – außer euch selbstverständlich, selbstverständlich außer euch!“

Kishou stutzte. „Außer mir? Was ist das denn nun wieder – wie kommst du denn auf so was?!“

„Aber ihr habt eben nicht das Problem, das ich habe!“, Überhörte er die Frage Kishous. „Ihr seid viele, doch ich bin nur einer. ... nur einer! Da braucht es eben noch mindestens eines weiteren, der meine Kraft vom Allsein trennt! Nun ja ... Ohne so jemanden ... „sein Blick sprang wieder einen verstohlenen Moment zu Boorh hinüber ... „Ohne so einen angeberischen Kraftmeier ... Oh, oh – verzeiht die kleine Unbemessenheit meiner Verdrängung ... Also ich meine ... Also ich will es mal so bemessen: Ohne so einen Boorh ist meine Kraft eben ... nun ja ... eben nur eine Kraft. ... eine Kraft eben – nicht mehr! ... und eine Kraft ist nunmal Allsein. Es muss jemand da sein, der sie letztlich vom Allsein verdrängt. ... Meine Kraft! ... Und jeder meint dann aber zu bemessen, er wäre es gewesen! Er! Aber in Wirklichkeit ...”