KISHOU I

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Zorn und Hass lagen in den Augen Halem Saiis – doch auch die Ohnmacht einer vermeintlichen Schuld lasteten auf ihm, wie er so vom Fenster des Hauses den Gespaltenen Berg wieder und wieder mit seinen Augen bemaß. Nun war er es, der dort stand – kaum, dass er seit jenem Tag diesen Platz noch verließ. Er galt als der Stärkste und der Tapferste der Siedlung, doch seine Kraft hatte keinen Wert, denn sie hatte es nicht verhindern können.

Nur die Schwester war ihm noch geblieben ...

Die Tür des kleinen Verschlags in der Ecke des Raumes öffnete sich knarrend, und Mujie Saii trat heraus. Einen langen Moment stand sie da, und schaute stumm in den Rücken des Bruders. Ihre großen, dunklen Augen schienen aber durch ihn hindurch zu sehen, als erblickte sie etwas in weiter Ferne, und es lag eine stille Furcht in ihnen.

Wenngleich Mujie doch jünger war als er, so ließ die Herbheit ihres Gesichts dies kaum erahnen. Ihre langen, dunklen Haare waren verfilzt und bedeckten in dicken Strähnen die kräftigen Schultern. Sie war im ersten Moment eine wilde Erscheinung, aber ihre Augen erzählten etwas anderes.

Mit langsamen Schritten trat sie endlich an die Seite Halem Saiis und folgte schweigend dessen Blick zum Gipfel des Gespaltenen Berges ... „Ich habe Gäa gebeten dich aufzuhalten“, sagte sie nach einer Weile, ohne ihren Blick abzuwenden.

Halem Saii nickte. „Ich weiß!“, sagte er ruhig, während eine Hand über die kleine Wölbung seines Bauches strich. „Gäa erhörte deine Worte, und hat es versucht ...“ Sein Kopf wandte sich langsam dem Bretterverschlag zu, dessen notdürftig gezimmerte Tür, noch halb geöffnet, den Blick in die kleine dahinter liegende Kammer zuließ, die Mujie gerade verlassen hatte. Im flackernden Licht einiger Talklampen erhob sich eine verblasst bunte, hölzerne Gestalt, deren fleischige Hände ihren kugeligen Bauch umschlossen. Es war das Abbild Gäas, der Schutzgöttin der Nin. Sie war seit Urzeiten deren höchste Gottheit, und ihr wichtigstes Indiz war die stark ausgeprägte Wölbung ihres kugelförmigen Bauches, der in einer kleinen Andeutung auch jeden Nin auszeichnete. Gäa bewohnte nach den Überlieferungen ein großes, hell strahlendes Schloss mitten auf dem Meer, und die Bewohner des Ortes meinten es des Nachts zuweilen von der hohen Steilküste aus sehen zu können, wenn das raue Wetter sich einmal kurz aufklärte.

„... aber sie hat nicht mehr die Kraft, mich aufzuhalten!“ Halem Saiis Blick wandte sich wieder dem Berg zu, und betrachtete ihn schweigend.

„Mutter und Vater fürchteten mich, weil ich nicht war, wie die anderen!", sagte Mujie plötzlich in die Stille hinein.

„Was redest Du da!", war die abwehrende Reaktion des Bruders.

„Alle fürchten mich. Ich habe es immer gespürt. Ich war oft gekränkt und einsam, weil ich nicht zu euch gehören konnte!", widersprach sie mit unmerklichem Kopfschütteln. "Sie haben recht!", sprach sie im flüsternden Ton weiter. "Es es ist alles meine Schuld. Aber ich verstehe es nicht!"

„Hör auf so zu reden!", wurde sie von dem Bruder scharf unterbrochen, und sein Blick grub sich für einen Moment tief in ihre Augen, bevor sie sich wieder dem gespaltenen Berg zuwandten.

Es folgte ein Moment der Stille, doch Mujie hörte nicht auf. „Ich weiß nicht, was in mir ist!“, sprach sie leise weiter. „Sie sagen, Suäl Graal ist dort oben auf dem Gespaltenen Berg … Doch es ist nicht wahr“ Ihre Stimme klang, als würde sie mit sich selbst sprechen. „Ich weiß es – ich spüre es ganz deutlich. Sie ist in einer anderen Welt – tausendfach größer als der Himmel über uns!“

„Es sind Phantasien – Irrbilder. Was geschehen ist, hat den schützenden Mantel zerrissen, den die Altwisin über dich legte!“, wehrte Halem ab, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

Mujie schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich habe Angst. Ich muss zu ihr gehen. Ich muss sie aufhalten – dort wo sie zu Hause ist. Gäa wird mich führen und mit mir sein. Sie hat es mir versprochen!“

Nun wandten sich die Augen des Bruders doch zu ihr. Eine tiefe Sorge lag in diesem Moment in ihnen. „Du wirst wieder vergessen, Mujie! Es ist eine schwere Zeit für uns alle, doch ich werde sie beenden!“

„Nein Halem!“, brach es aus Mujie heraus, als würde sie erschreckt aus einem bösen Traum erwachen, und ein Zittern lag in ihrer Stimme. „Ich habe nur noch dich, du darfst mich hier nicht allein zurücklassen! Wer soll mich schützen? Selbst Gäa hat keine Macht über Suäl Graal ... Suäl Graal ist eine Unsterbliche ... Du kannst ihr nicht gegenübertreten in dieser Welt. Niemand kann das! du kannst sie nicht bezwingen. Niemand kann Suäl Graal bezwingen! Aber du könntest ihren Zorn erwecken!“

Halem Saii antwortete nicht. Seine Augen wandten sich wieder dem Fenster zu und sein Blick grub sich tief in den Berg.

„Dann werde ich dich begleiten!“, sagte Mujie nun wieder mit leiser, aber entschlossener Stimme, während ihre Augen wieder denen des Bruders folgten. Ihre schwieligen Hände umschlossen sanft ihr kleines Bäuchlein, das offenbar sein Einverständnis verweigerte.

„Nein!“, brach es zutiefst erschrocken aus Halem Saii hervor, und seine Hände gruben sich heftig in die Schultern der Schwester, als er sie zu sich herumriss. „Ich verbiete es dir mich zu begleiten! Hast du mich gehört, ich verbiete es dir! Wenn ich nicht zurückkehren sollte, so wird Rahmin dich schützen, wie er es mir versprochen hat. Und wenn ich zurückkehre, so ist es wieder Gäa, die mit uns ist!“

Mujie hielt ohne Regung dem Schmerz stand, den ihr die erschrockenen Hände des Bruders zufügten. Stumm blickte sie in seine wilden Augen, bis er endlich von ihr abließ.

~

Als Mujie Saii am darauf folgenden Morgen schon sehr früh in Unruhe erwachte, war sie bereits allein. Die beiden Holzscheite, auf denen gewöhnlich das schwere Schwert des Bruders an der Wand ruhte, waren verwaist, und es fehlte etwas von ihren Vorräten. Halem war bereits unbemerkt aufgebrochen. Weit konnte er noch nicht sein, denn sein Bett hatte noch nicht ganz die Kälte seiner Umgebung angenommen.

Ohne erkennbare Erregung lief sie halb bekleidet in die kalte Morgendämmerung vor das Haus, tauchte ihren Schopf in das eisige Wasser der großen Regentonne, die gleich neben der Eingangstür stand, und warf kurz darauf mit ihrem dichten verfilzten Haar das Wasser gegen die spröde, hölzerne Wand, dass es nur so spritzte.

Sie ging zurück ins Haus, schnürte die Sandalen, warf sich ein Fell über den Leib, stopfte ihren Schulterbeutel mit Wegzehrung voll, schob die Schleuder tief in den Gürtel, mit der sie eine gute Treffsicherheit bewies, und verließ das Haus bereits wieder. Die Siedlung lag noch im tiefen Schlaf, als sie nun aufbrach.

Bereits in der folgenden Nacht hatte sie den Bruder eingeholt. Was Halem Saii der Schwester an Kraft voraus hatte, ersetzte sie durch Zähigkeit. Der Schein eines kleinen Feuers, das der Bruder entzündet hatte um sich in der eisigen Nacht vor der Kälte zu schützen, verrieten Mujie, dass er nur noch einen Steinwurf von ihr entfernt war. Er durfte sie nicht entdecken, also kauerte sie sich hinter ein dichtes Buschwerk, das sie auch einigermaßen vor den schneidenden Winden schützte, zog das Fell eng um ihren Körper, und schlief sofort ein.

Als sie erwachte, hatte es die Sonne noch nicht geschafft, die dichte Wolkendecke soweit zu durchdringen, dass ihr Licht das Land erhellte – so wie sie es sich vorgenommen hatte.

Hungrig stopfte sie in sich hinein, was sie gerade in ihrem Beutel zu fassen bekam, und machte sich bald eilig auf den Weg, um den Rastplatz des Bruders zu erkunden. Sie kam noch gerade rechtzeitig, um hinter einem Felsen verborgen, dessen Aufbruch zu erkennen. Sie musste sehr vorsichtig sein, denn es durfte nicht geschehen, dass er sie bemerkte.

Von nun an sollte sie ihn nicht mehr aus den Augen verlieren, und folgte ihm vorsichtig und in gebührendem Abstand auf dem beschwerlichen Weg, der in vielen Windungen und ermüdenden Steigungen zum Gipfel des Gespaltenen Berges führte.

Die Vegetation wurde nach und nach immer spärlicher und der nackte Fels war feucht und schlüpfrig. Aber es gelang ihr, dem Bruder über die drei Tage, die es brauchte, um auf den höchsten Punkt des Berges zu gelangen, zu folgen, ohne dass der einen Verdacht schöpfte.

So kam dann endlich der Augenblick, dass sich die Augen Halem Saiis über das Haupt des Berges erhoben. Es war das erste Mal in der langen Geschichte der Stammes, dass ein sterbliches Wesen diesen Ort sah. Zögerlich richtete er sich auf, nachdem er mit einer letzten Anstrengung den Aufstieg bewältigt hatte, und nun endlich den göttlichen Platz betrat.

Doch der Gipfel des Gespaltenen Berges bot nicht den Anblick, der in den Köpfen seines Stammes, weit unten am Fuße des Berges seinen festen Platz hatte. Ein schroffes Plateau war alles, was am Ende von seinem mächtigen Fuß blieb, und nicht sehr viele Schritte brauchte es, um zu der Stelle zu gelangen, die dem Berg seinen Namen gab. Eine fast gradlinige Kante beschrieb den Ort, wo der Berg abgerissen war. Steil wie der Fall eines Lots bot sich hier der Abgrund dar. Irgendwann erreichte er das Wasser, das sich in ewig wiederholenden Schlägen gegen den glatten Fels warf. Doch das immerwährende Grau der feuchtkalten Luft ließ es wohl niemals zu, dieses Schauspiel von dort oben mehr als nur erahnen zu können. Der Blick konnte nur den schweren Wolken folgen, bis sie sich bald im gleichförmigen Grau des Himmels verloren.

Mujie blieb ein wenig unterhalb des Plateaus hinter einem Felsvorsprung verborgen, gerade, dass sie den Bruder sehen konnte.

Halem Saii hatte sein Schwert aus dem Gürtel gezogen, und lief offenbar irritiert auf der gut überschaubaren Fläche, die der Berg an seiner höchsten Stelle belassen hatte, hin und her. Er war fassungslos – er konnte es nicht glauben. Alles was er fand, war schroffer Fels, Wind, und das abgründige Werk derjenigen, die er hier zu finden den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte. Es sollte eine Festung hier sein – eine Burg, oder was auch immer – und es sollte zumindest sie selbst hier sein – Suäl Graal!

 

Ungläubig wandte er sich nach allen Seiten. Für einen Moment erinnerte er sich der Worte Mujies, dass Suäl Graal nicht an diesem Ort zu finden wäre – aber das konnte nicht sein – das durfte nicht sein. ... Der Wind, der an seinem Körper zerrte, brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht, aber das ansteigende Rollen eines Donners lenkte seinen Blick nach oben, in die nahen schwarzen Wolken.

Ohnmächtig vor Zorn schrie er in sie hinein. Er rief nach Suäl Graal, streckte sein schweres Schwert hoch gegen den Himmel und forderte die Gottheit auf, sich nicht feige hinter den Wolken zu verbergen ...

Mujie Saii sah, wie unter dem Schlag eines heftigen Donners der gleißende Blitz herabfuhr, und den Himmel geradewegs mit dem Schwert Halem Saiis verband. Die Luft um ihn herum glühte blendend hell auf – als im selben Moment noch ein zweiter Blitz in die Spitze seines Schwertes schlug.

Ohne einen Laut von sich zu geben, brach Halem Saii in sich zusammen.

Die Lautlosigkeit des Todes Halem Saiis wurde ersetzt durch den gellenden Aufschrei der Schwester. Fast besinnungslos vor Schmerz sprang sie die letzten Schritte auf die Ebene, um sich über ihren Bruder zu werfen. Sie schrie und trommelte mit ihren Fäusten auf seiner Brust herum – aber es war kein Leben mehr in ihm.

Bald Ermattet und schluchzend lag sie eine lange Zeit auf seinem leblosen Körper, bis auch sie still wurde.

Es war noch einmal eine lange Zeit vergangen, als sie wieder ihren Kopf hob. Langsam richtete sie sich auf, und ebenso langsam schritt sie zum Rand des Abgrundes. Lange blickten ihre leeren Augen in die graue Welt hinein. Irgendwann zog ihre Hand die Schleuder aus dem Gürtel, um nach einem Moment des Verharrens mit ihr schlaff herab zu sinken. Vom Stöhnen der Winde übertönt, fiel sie lautlos neben ihren Füßen auf den Fels – und ohne auch nur einmal zu wanken, neigte sich ihr Körper langsam über seinen Schwerpunkt hinaus, und kippte still in den Abgrund.

Schon bald verschlang das Grau der feuchten, schweren Luft Mujie Saii. Und es war noch eine Zeit – die Letzte – bevor ihr Körper auf das harte Wasser aufschlug.

~*~

1.Buch

Wandlung

Und so Mujie Saii NICHT war

War sie EINS

Und so Mujie Saii EINS war

War sie wahrhaftig

Und so Mujie Saii wahrhaftig war

War sie

NICHT

Denn das WAHRHAFTIG

Das ohne WIDERSPRUCH

Das IST NICHT

Und so Mujie Saii NICHT war

Und so Mujie Saii EINS war

War da nichts AUßER Mujie Saii

War da nichts außer MUJIE SAII.

Und so da nichts AUßER Mujie Saii war

Und so da nichts außer MUJIE SAII war

So war

ALL.

Und so sie All war

SOWOHL ALS AUCH

JENE als auch DIESER

SCHWARZ als auch WEIß

Doch nichts zu gleichen Teilen

Doch nichts in Harmonie

Doch nichts das kam zur Deckung

So war eine GROßE BEDRÄNGNIS

Und so eine große Bedrängnis war

Und so da ein Drängen war

des EINEN entgegen dem ANDEREN

Da war EINS NICHT MEHR

Da war WIDERSPRUCH

DA WAR EIN SCHEIDEN

Da war SCHÖPFUNG

Da war wiedergeboren die

Die als Mujie Saii erkannt werden wollte

Doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern ...

Erinnerung

Reflexartig ließ sie sich hinter der Mauer des Brunnens fallen. Der schwere Wassereimer, den sie gerade heraufgezogen hatte, plumpste neben ihr auf den Boden und ergoss seinen Inhalt über den Saum ihres Kleides. Ihr Herz raste, und etwas schien ihr die Luft nehmen zu wollen. Ihre Finger kratzten unkontrolliert an ihrem Bäuchlein herum, und es dauerte diesmal sehr viel länger als sonst, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Es gelang ihr durchzuatmen.

Vorsichtig schob sie ihren jungen Körper an den groben Steinen des Brunnens entlang, bis ihre Augen das Ziel fanden. Unweit vor ihr, im hohen Schilf des kleinen Teiches war etwas – nicht ,etwas’ – ,Jemand’ … Sie hatte es erst bemerkt, als es sich bewegte – und war sofort abgetaucht. Jetzt war es nicht mehr da – wie immer, wenn sie danach suchte.

Sie versuchte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter zu würgen. Ihre Augen sprangen von Halm zu Halm, während sie wieder einmal angestrengt versuchte, sich an die Erscheinung zu erinnern. Doch auch dieses Mal gelang es ihr nicht. Zu schnell reagierte sie immer mit ihrer Flucht. Genauer: Irgend etwas in ihr reagierte zu schnell. Sie hatte keine Gewalt darüber.

Langsam begann sie sich zu beruhigen. Sie richtete sich vorsichtig auf und ließ den Blick durch den großen Garten kreisen. Alles schien, wie sie es gewohnt war. Irgendwelche Bewegungen und Geräusche waren immer da. Es war ein sehr großer Garten, dessen weite Begrenzung, die aus einer hohen und undurchdringlichen Hecke bestand, von hier aus nicht zu sehen war. Viele Bäume, Strauchwerk und hohes, wildes Gras ließen die Augen von diesem Platz aus nicht bis zu dessen Grenze vordringen.

Unzählige kleine Tiere teilten sich dieses Anwesen mit ihr. Einige von den Größeren kannte sie bereits sehr gut und spielte mit ihnen ... Es war immer etwas zu sehen oder zu hören an diesem Ort. Doch jenes Wesen gehörte nicht hierher – was immer es sein mochte.

Sie hob den leeren Eimer vom Boden auf, und hängte ihn erneut an den Haken des Taues, der ihn in der Tiefe des Brunnens sichernd begleitete. Ihre Hände bearbeiteten die quietschende und immer wieder hakende Kurbel der Winde, aber ihre Aufmerksamkeit galt ungebrochen ihrer Umgebung. Wieder versuchte sie sich zu erinnern …

Es ist schon eine gute Zeit her, als es das erste Mal geschah. Etwas verschwand um die Ecke ihres kleinen Heims, als sie gerade aus der Tür trat. Es war sehr groß … aber das war auch alles, was sie erinnern konnte. Es hatte keine Farbe und keine Gestalt – zumindest wusste sie keine zu benennen. Sie sprang sofort wieder zurück ins Haus, während ihr irgendetwas die Luft zu nehmen schien – dann war es vorbei. In dieser Art war es immer, doch die zeitlichen Abstände zwischen diesen Vorfällen wurden offenbar von Mal zu Mal kürzer.

Sie vernahm das leichte Aufsetzen des Eimers auf das tiefe Wasser, und das Seil erschlaffte. Sie wartete die Zeit, die der Eimer brauchte, um endgültig abzutauchen, und begann ihn wieder hinauf zu kurbeln.

Das geschah, wie immer, nicht ohne Mühe. Sie war noch sehr jung. Ihr noch schmaler, doch durchaus kräftiger Körper, der in einer leichten Wölbung ein kleines Bäuchlein verriet, beugte sich über den Brunnenrand, um den Bügel des Eimers zu fassen. Einen Augenblick lang schaute sie nach unten und vermochte in der Tiefe sich selbst zu erblicken. An frohen Tagen konnte sie viel Zeit damit verbringen, ihr Spiegelbild dort unten zu betrachten. Es war nicht Eitelkeit, es war vielmehr ein Staunen über das, was sie dort sah – und eigentlich nicht recht verstand. Zuweilen gab es kleine Wellen in der Tiefe des Brunnens, dann bewegte sich ihr Abbild und es schien ihr, als wäre die dort unten jemand Anderes – aber das konnte natürlich nicht sein.

Das Antlitz der Kleinen war in der Art, dass die sie umgebende Natur wohl ihre eigene Unvollkommenheit darin entdecken musste. In ihren großen, dunklen Augen, so schien es, konnte man all ihre durchwanderten Universen entdecken. … Doch es war keinerlei Erinnerung in ihr – sie wusste ja nicht einmal, dass es überhaupt etwas zu erinnern gab. Alles was ihr Nachsinnen füllte, stammte von diesem kleinen und vertrauten Ort.

Doch in diesem Moment hatte sie keinen Sinn für die Verwunderlichkeiten einer Spiegelung in der Tiefe. Sie zog fast hastig den überschwappenden Eimer auf die Brüstung, während ihre Augen einmal mehr versuchten, die hohe Hecke des Gartens durch all die Bäume und dem Gestrüpp zu erkennen. Doch es gelang ihr nicht.

Vielleicht kam dieses Wesen von dort draußen?

Sie hatte noch niemals auch nur einen Blick hinter diese Hecke getan. Ihr Bäuchlein signalisierte ihr unmissverständlich, dass es sich davor zu bewahren galt. Es gab wohl immer wieder Momente, in denen sie sich fragte, was hinter dieser undurchdringlichen grünen Wand lag, aber es blieben immer nur Momente. Eine unerklärliche tiefe Angst, die sie von Anfang ihrer Erinnerung an in sich trug, stillte immer sehr schnell die aufkeimende Neugier in ihr. Niemals hatte sie sich gefragt, warum sie allein war in diesem Garten – umgeben von einer unüberwindlich anmutenden Hecke – die seltsamerweise immer so aussah, als wäre sie gerade frisch beschnitten worden …

So saß sie zumeist in der heimeligen Küche des kleinen, alten Hauses, und dachte an tausenderlei Dinge, die sich jedoch niemals über die Grenzen ihrer kleinen Welt hinausbewegten. Und wenn ihre Gedanken hin und wieder anfingen, sie zu beunruhigen, dann streichelte sie ihr kleines Bäuchlein. Das war ein sehr angenehmes und beruhigendes Gefühl – wenn sie auch nicht sagen konnte, warum.

Mit beiden Händen wuchtete sie den schweren Eimer von der Mauer des Brunnens herunter und wandte sich endlich der nahen Eingangstür des Hauses zu. Fast lief sie schon rückwärts, so häufig wendete sie sich nach dem nahen Teich um – immer darauf gefasst, dass es wiederkehren würde.

Die Kleine lebte natürlich nicht gänzlich allein in dieser überschaubaren Welt.

Trautel Melanchful war eine alte Dame – eine sehr alte Dame, deren Alter nicht zu schätzen war. Sie war aber mindestens so alt, dass sie das gebrechliche Haus noch in seinen frischen und festen Tagen erlebt haben musste. Ihre weiß-lederne Haut war durchzogen von unzähligen tiefen Furchen, aber dennoch erschien sie auf eine seltsame Weise stark und fast unbezwingbar. Ihre Augen leuchteten wie zwei funkelnde Sterne, denen nichts zu entgehen schien.

Das heißt, diese Beschreibung war wohl bis vor einiger Zeit noch gültig, neuerdings wirkte sie nämlich ziemlich matt. Erschien sie bislang sehr mobil und sogar regelrecht flink, so bewegte sie sich nun schon seit einiger Zeit etwas gebückt, mit schleppendem Gang, und machte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment zerbrechen. Ihre sonst silbrig glänzenden, schulterlangen Haare hingen nun dünn und farblos von Ihrem Kopf herab.

Der Kleinen war diese seltsame Veränderung nicht entgangen. Sie liebte die Alte sehr. Soweit sie zurückdenken konnte, war da immer wieder diese unerklärliche Angst in ihr. Doch Trautel Melanchful bemerkte es sofort, und konnte sie auf geheimnisvolle Weise wieder beruhigen. Die spannenden Geschichten, die ihr Trautel Melanchful des Abends vor dem Einschlafen erschuf – Geschichten und Abenteuer aus fernen und fremden Welten – waren nicht mehr zu zählen. ... und sie hatten immer ein gutes Ende!

Doch mit der zunehmenden Schwäche der Alten verebbten auch diese Geschichten. Immer häufiger musste sie ihr Bäuchlein streicheln, weil sie eine große Unruhe in sich spürte. Es war inzwischen sogar soweit, dass Trautel Melanchful ihre Unruhen nicht mehr zu bemerken schien. Es war eine Zeit, da sie das erste Mal meinte, ein Gefühl der Verlassenheit in sich zu spüren.

Vielleicht war dies der Grund, warum sie ihr noch nichts von den beängstigenden Erscheinungen erzählt hatte. Wahrscheinlicher war es aber wohl, dass sie fürchtete, etwas zu erfahren, das sie auf gar keinen Fall wissen wollte. Etwas in ihr fürchtete eine nahe Zeit.

So versuchte sie sich immer wieder einzureden, dass sie diese seltsamen Erscheinungen nur Tagträumen würde – eine Geschichte die sie selbst erschuf, solange es Trautel Melanchful an den ihren missen ließ – und dass bald wieder alles in Ordnung wäre. Es war ja auch nichts Wirkliches, was sie hätte benennen können.

 

Den schweren, hölzernen Wassereimer mit beiden Händen haltend, stieß sie die nur angelehnte verblichene Tür mit der Schulter auf. Knarrend schwang das Holz zurück, und machte den Weg in die Küche frei, durch die man das Haus betrat. Sie wuchtete die Last noch ein paar Schritte weit bis zu der kleinen Anrichte zu ihrer Linken, und ließ endlich von ihr ab.

Trautel Melanchful stand mit dem Rücken zu ihr auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes und schaute wortlos durch eines der Fenster in den Garten hinaus. Obgleich dieser Anblick für Kishou nichts wirklich Ungewöhnliches an sich hatte, war sie doch etwas erschrocken. Von diesem Fenster aus schaute man direkt in die Richtung des kleinen Teiches …

So stand sie wie angewurzelt vor der Anrichte und starrte zu Trautel Melanchful hinüber. Die rührte sich nicht. Ihre spindeligen Finger waren auf den Fenstersims gestützt, während sie in gebeugter Haltung in den Garten hinaus schaute – hinüber zum Teich.

Stand sie schon lange da? – Hatte sie es auch gesehen? – Warum sagt sie nichts? Tausend Gedanken liefen gleichzeitig durch ihren Kopf. Sie redete immer gern – und viel. Unter normalen Umständen hätte sie sofort gefragt … Aber die Umstände waren schon seit Längerem nicht mehr normal. Etwas in ihr fürchtete die Antwort, die der Frage folgen könnte … So stand sie einfach nur da, und schaute in den gekrümmten Rücken der Alten, die ihrer Anwesenheit scheinbar keinerlei Beachtung schenkte.

Die Augen des Mädchens begannen unstet in dem Inneren des kleinen Raumes umher zu flattern – unsicher, wie sie der bedrückenden Situation begegnen sollte – als Trautel Melanchfuls Hände sich plötzlich vom Sims des Fensters lösten, und sich ihr schwacher Körper schleppend in das Kücheninnere eindrehte.

Die Kleine vergaß fast das Atmen, als sich ihre Augen trafen. Es schienen ihr fremde Augen, die sie meinte noch nie zuvor gesehen zu haben. Etwas Seltsames, fast beängstigendes lag in diesem Blick … Doch es war nur einen Moment lang – dann verlor sich der Eindruck doch schnell wieder, und sie strahlten wieder jene Wärme aus, die sie immer so nötig hatte.

Die Alte schlurfte langsam zu ihr hinüber und nahm sie wortlos in die Arme. Diese seltsame Ruhe lief sogleich wieder durch ihren Körper, wie sie es schon tausendmal erlebt hatte, wenn Trautel Melanchful ihre Arme um sie schloss. Doch diesmal schien es etwas Besonderes – vielleicht ja nur, weil es seit Langem wieder das erste Mal war. Es war wieder diese wunderliche Übereinkunft, die keinerlei Fragen und keiner Antwort mehr bedurfte. Vielleicht hatte Trautel Melanchful etwas gesehen – oder auch nicht. Es war nicht mehr wichtig.

„Ich hab‘ Angst.“, sagte sie leise.

„Ja.“, antwortete Trautel Melanchful.