Kirchliches Begräbnis trotz Euthanasie?

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #113
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Diese Interpretation erhält durch die Ausführungen des Katechismus, der Enzyklika Evangelium vitae und der Charta aufgrund ihrer differenzierteren Verwendung des Euthanasiebegriffs weitere Argumente. Im Gegensatz zur Glaubenskongregation und zum Päpstlichen Rat Cor Unum, die nur euthanasia117 und l‘euthanasie118 als solche behandelten, sprach der Katechismus erstmals von l’euthanasie directe und sah diese – unbeschadet in der gewählten Form – in der Lebensbeendigung behinderter, kranker oder sterbender Menschen begründet.119 Die Beliebigkeit der existierenden Gründe und der verwendeten Mittel verschleiert dabei den Inhalt der näheren Qualifizierung der Euthanasie als direkt, zumal im Folgesatz die allgemein gehaltene Euthanasiebeschreibung der Glaubenskongregation von 1980 rezipiert wird,120 ohne einen Verweis auf die indirekte Euthanasie oder eine Beschreibung dessen, was darunter allenfalls zu verstehen sei, zu geben. Die die lehramtliche Terminologie wurde an dieser Stelle nicht nachhaltig geschärft.

Johannes Paul II. verwendet in seiner Enzyklika Evangelium vitae den Euthanasiebegriff zunächst in allgemeiner Form für die Versuchung und Entscheidung, den Tod vorzeitig und bewusst herbeizuführen.121 Die darauf folgende Beschreibung schlägt jedoch einen differenzierteren Ton an, da nunmehr von Euthanasie im eigentlichen Sinn die Rede ist:

„Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. ‚Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden‘.“122

Die Reduktion der definitionsähnlichen Beschreibung auf Euthanasie im eigentlichen Sinn hat zwangsläufig zur Folge gehabt, dass die näheren Attribute der Handlung oder Unterlassung, die die Glaubenskongregation noch in einem variablen Verhältnis sah, sodass von ihnen nur eines hinreichend vorhanden sein musste, damit es sich um Euthanasie handelte, nunmehr additiv miteinander verknüpft wurden. Euthanasie im eigentlichen Sinn ist demnach keine Handlung oder Unterlassung, die aus ihrer Natur heraus oder (vel) auf Basis der Intention den Tod herbeiführt, sondern stattdessen jene, die ihrer Natur nach und (et) aus bewusster Absicht zum Tode führt.123

Es stellt sich die Frage, ob aus dieser Differenzierung das Verständnis von Euthanasie im uneigentlichen Sinn als Handlung oder Unterlassung abzuleiten ist, die nur der Natur nach oder nur der Intention nach den Tod herbeiführt. Wenn der Papst aber bezüglich des Verzichts bzw. des Abbruchs von ethisch nicht verpflichtenden therapeutischen Maßnahmen deutlich hervorhebt, dass diese „nicht gleichzusetzen [sind] mit Selbstmord oder Euthanasie“, da sie „vielmehr Ausdruck dafür [sind], daß die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird“124, dann können unter Euthanasie im uneigentlichen Sinn nur noch der Abbruch oder Verzicht jener therapeutischen Mittel zu verstehen sein, die ethisch verpflichtend anzuwenden sind. Aufgrund der fehlenden Quellenlage ist diese These aber nicht verifiziert.

Neben die Konzepte der direkten Euthanasie (1992) und der Euthanasie im eigentlichen Sinn (1995) stellte der Päpstliche Rat für die Seelsorge im Krankendienst ein weiteres Verständnis von Euthanasie, indem die im Katechismus verwendete Terminologie aufgegriffen und durch die Attribute aktiv und passiv ergänzt wurde: eutanasia diretta, attiva o passiva.125 Die Einführung dieser gesellschaftlich gängigen, aber zuvor vom Lehramt nicht verwendete Spezifizierung verwundert, da sich die Verfasser der Charta eigentlich dafür entschieden hatten, zur Vermeidung widersprüchlicher Interpretationen vor allem „die Stellungnahmen der Päpste bzw. der von den Dikasterien der Römischen Kurie veröffentlichten maßgeblichen Texte fast immer direkt zu Wort kommen zu lassen“126. Nichtsdestotrotz wird nach Zitation der Beschreibung der Glaubenskongregation formuliert, dass Mitleid niemals eine direkte, aktive oder passive Euthanasie rechtfertige, sodass es sich dabei

„nicht um die Hilfeleistung an einen Kranken [handelt], sondern um die absichtliche Tötung eines Menschen.“127

Im Gegensatz zum Katechismus, der direkte Euthanasie undifferenziert als Lebensbeendigung bezeichnete, wird der Begriff direkt in der Charta mit der Intention verbunden, den Tod herbeizuführen. Das Begriffspaar aktiv oder passiv scheint jedoch nicht auf die Todesursache zu rekurrieren, sondern als Synonym für Handlung oder Unterlassung zu fungieren. Erneut fehlt eine Beschreibung dessen, was unter einer indirekten, aktiven oder passiven Euthanasie zu verstehen ist.

Die Verwendung des Euthanasiebegriffs durch das kirchliche Lehramt offenbart den Konsens, Euthanasie als Handlung oder Unterlassung zu verstehen, die der Natur nach oder intendiert den Tod herbeiführt. Die jüngeren Dokumente zeugen von weiteren Differenzierungen, die vor allem die intendierte Tötung näher spezifizieren und als Euthanasie im eigentlichen Sinn oder direkte Euthanasie bezeichnen. Um ferner zu bestimmen, welche Handlungen bzw. Unterlassungen, die den Tod zwar nicht intendieren, diesen aber ihrer Natur nach herbeiführen ebenso zur Kategorie der Euthanasie (im uneigentlichen Sinn) zu rechnen sind, enthalten alle benannten Dokumente separate Abhandlungen über die Anwendung therapeutischer Mittel sowie die Kriterien zur Unterscheidung ihres ethisch verpflichtenden Charakters.

Anwendung therapeutischer Mittel

Das kirchliche Lehramt nannte ihre Reflexion über Abbruch bzw. Verzicht medizinischer Therapien und Interventionen und deren ethische Zulässigkeit Anwendung therapeutischer Mittel. Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Verpflichtungsgrad, alle von der Medizin bereitgestellten Therapien und Interventionen anzuwenden, mit denen das Leben unheilbar kranker Menschen nicht nur erhalten, sondern auch entschieden verlängert werden kann.128 Nach Ansicht von Papst Pius XII., der bereits 1957 zu dieser Thematik um Stellungnahme gebeten wurde, können über den moralischen Verpflichtungsgrad einer medizinischen Therapie keine allgemeinen Aussagen getroffen werden, da sich dieser nur vor dem Hintergrund einer ganz konkreten und einzigartigen krankheitsbedingten Lebenssituation in Würdigung der situativen Umstände, des absehbaren Aufwands der medizinischen Intervention und deren zu erwartenden Erfolgs bestimmen lasse. Der Papst unterschied zwei Kategorien von therapeutischen Maßnahmen, die üblichen und die unüblichen, indem er auf das Verhältnis von Aufwand und Ertrag eines therapeutischen Mittels für den Patienten rekurrierte. Ohne einer utilitaristischen Argumentation zu unterliegen, verknüpfte er mit der Kategorie der üblichen therapeutischen Mittel im Sinn eines würdevollen und ethisch vertretbaren Umgangs mit dem Geschenk des menschlichen Lebens eine moralische Verpflichtungskraft zu deren Anwendung, da sie den schwerkranken Menschen in seiner Situation nichts Außergewöhnliches aufbürden und ihr Ertrag gegenüber dem Aufwand mit den einhergehenden Belastungen überwiegen würde.129 Zeichnete sich aber ein Überhang der negativen Konsequenzen durch subjektive Einschätzung des Patienten oder mittels objektiver Kriterien seitens der Ärzte ab, sei die medizinische Intervention als unübliches therapeutisches Mittel zu kategorisieren, für deren Anwendung der Papst keine ethische Verpflichtung gegeben sah. Eine solche unübliche, da außergewöhnlich belastende Therapie konnte ethisch zulässig abgebrochen oder von vornherein auf sie verzichtet werden konnte, um in der Unausweichlichkeit des Todes das Anrecht auf ein würdevolles Sterben zu wahren und therapeutischen Übereifer zu vermeiden. Abbruch bzw. Verzicht von üblichen therapeutischen Mitteln auch bei fehlender Intention zur Herbeiführung des Todes wurden indes als ethisch unzulässig gewertet und als schwer sündhaft verurteilt. Die Schlussfolgerung, diese Art Handlung oder Unterlassung als (indirekte bzw. uneigentliche) Euthanasie zu bezeichnen, ist gemäß der lehramtlichen Terminologie zulässig und konsistent.

Diese päpstliche Unterscheidung innerhalb der Anwendung therapeutischer Mittel greifen die nachfolgenden lehramtlichen Schreiben auf: Usus remediorum therapeuticorum130, Les moyens thérapeutiques131, procédures médicales132, medicos interventus133 und i mezzi usati134. Gegenüber der oberbegrifflichen Kontinuität in den Dokumenten zeigt sich eine Diversität hinsichtlich der gebrauchten Adjektive zur näheren Beschreibung der Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Ertrag. Anstatt die therapeutischen Mittel wie Pius XII. in übliche und unübliche zu teilen oder auf ähnliche, in der klassischen Moraltheologie gebräuchliche Begriffe wie gewöhnliche und außergewöhnliche oder ordentliche und außerordentlich zu rekurrieren,135 verwendete die Glaubenskongregation in ihrer Erklärung von 1980 die Begriffe verhältnismäßige und unverhältnismäßige Mittel. Darin komme das Kriterium, mit dem sich der Verpflichtungscharakter der therapeutischen Maßnahme bestimmen lasse, besser zum Ausdruck.136 Die Verfasser des Katechismus legten bezüglich der Anwendung therapeutischer Maßnahmen lediglich fest, dass außerordentliche, d. h. zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende aufwendige und gefährliche medizinische Verfahren nicht ethisch verpflichtend anzuwenden seien, deren Gegenteil aber benannten sie eigens nicht.137 Johannes Paul II. verzichtete dann auf eine direkte Bezeichnung der beiden Kategorien und verwies auf das in der Literatur gebräuchliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit als hermeneutischen Zugang zur Analyse der Lebenssituation des schwerkranken Menschen.

 

Hervorzuheben ist, dass gleichzeitig die Materie zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit unter Bezugnahme auf das Krankheitsbild und -stadium, die Belastbarkeit sowie die konkrete Lebenssituation des Kranken ebenso die individuelle Situation von dessen Familie und deren Strapazierfähigkeit erweitert wurde.138 Da das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der therapeutischen Mittel von der Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen rezipiert wurde,139 ist von einem neuen Sprachduktus zu sprechen.

Anwendung schmerzstillender Mittel

Neben der Euthanasie und der Anwendung therapeutischer Mittel behandeln die lehramtlichen Schreiben die Anwendung schmerzstillender Mittel besonders mit Blick auf die nicht intendierte, sondern als Begleiterscheinung der beabsichtigten Schmerzlinderung in Kauf genommene Lebensverkürzung. Schon 1980 hielt die Glaubenskongregation diesbezüglich fest, dass in diese Kategorie nur jene Handlungen fallen, bei denen

„der Tod keineswegs gewollt oder gesucht wird, auch wenn man aus einem vernünftigen Grund die Todesgefahr in Kauf nimmt; man beabsichtigt nur, die Schmerzen wirksam zu lindern, und verwendet dazu jene schmerzstillenden Mittel, die der ärztlichen Kunst zur Verfügung stehen.“140

Das kirchliche Lehramt gebraucht für solche schmerzlindernden Handlungen mit in Kauf genommener Beschleunigung des Todes oder des Todes selbst die Bezeichnung des Usus remediorum analgesicorum141, l’usage des analgésiques dans la phase terminale (Gebrauch von Schmerzmitteln in der Terminalphase)142, l’usage des analgésiques143, curae palliativae (palliative Behandlungsweisen)144 und l’uso degli analgesici nei malati terminali (Anwendung schmerzstillender Mittel)145. Es fällt auf, dass die Glaubenskongregation und der Katechismus allgemein auf die Anwendung schmerzstillender Mittel zu sprechen kommen, während sowohl der Päpstliche Rat Cor Unum und die Charta für die im Gesundheitsdienst Tätigen die Verwendung der Schmerzmittel speziell im Kontext der terminalen Phase ansetzen. Letzteres scheint auch auf die Ausführungen von Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Evangelium vitae zuzutreffen, da er die schmerzstillenden Maßnahmen unter dem Terminus Palliative Sorge zusammenfasst, die nachweislich die „umfassende Behandlung eines letztlich unheilbaren Zustandes“146 und die schmerzlindernde Versorgung unheilbar Schwerkranker und Sterbender bezeichnet. Im Kontext der Palliativmedizin, die „das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene menschliche Begleitung gewährleisten sollen“147, benennt und thematisiert der Papst dann die „Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs- und Beruhigungsmittel“148. Er hebt expressis verbis hervor, dass diese nicht unter den Euthanasiebegriff fallen.149

Zusammenfassung

Die Sichtung der lehramtlichen Dokumente, die seit 1980 der kirchlichen Lehre über Euthanasie und andere medizinische Handlungen am Lebensende gewidmet wurden, hat eine in sich nahezu konsistente Terminologie aufgezeigt. Eine inhaltliche und von der Grundbestimmung wenig abweichende Verwendung der Begriffe ist sowohl hinsichtlich der Anwendung schmerzstillender Mittel als auch der Anwendung therapeutischer Mittel mit dem hermeneutischen Kriterium des Prinzips der Verhältnismäßigkeit gegeben, sodass diese in der vorliegenden Studie verwendet wurden. Der Einfachheit und Eindeutigkeit halber wird aber nicht allgemein von Anwendung therapeutischer Mittel, sondern bezüglich der ethischen Zulässigkeit differenzierend von

- Abbruch bzw. Verzicht verhältnismäßiger therapeutischer Mittel (=AVvtM) sowie

- Abbruch bzw. Verzicht unverhältnismäßiger therapeutischer Mittel (=AVutM)

gesprochen. Für die Handlungen und Unterlassungen, die ihrer Natur oder der Intention nach den Tod herbeiführen, wird in Kohärenz mit der lehramtlichen Terminologie der Euthanasiebegriff ohne nähere Differenzierung in aktiv/passiv oder direkt/indirekt gebraucht. Folgende Argumente sprechen trotz der im deutschsprachigen Raum existierenden negativen Konnotation aufgrund der NS-Euthanasie für die Verwendung des Begriffs Euthanasie:

- Die katholische Kirche wird als global player nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern weltweit mit der Frage nach einem kirchlichen Begräbnis trotz Euthanasie konfrontiert. Demnach betreffen die Ergebnisse der vorliegenden Studie nicht nur die partikularkirchliche Ebene eines Sprachraums, sondern vor allem die Universalkirche. Sie bedürfen daher einer einheitlichen und konsentierten Terminologie.

- Der Euthanasiebegriff wird in den offiziellen deutschen Übersetzungen der lehramtlichen Dokumente verwendet wird.150

- Die deutschsprachigen Bischöfe verwenden den Terminus Euthanasie.151

Anhand der Analyse der lehramtlichen Terminologie konnte nicht vollends geklärt werden, ob der Abbruch bzw. Verzicht verhältnismäßiger und damit ethisch verpflichtend anzuwendender therapeutischer Mittel ohne intendierte Todesherbeiführung als Euthanasie im Sinn einer Handlung oder Unterlassung, die lediglich der Natur nach den Tod herbeiführt, gezählt wird. Dies wird im folgenden terminologischen Schema mit einem Fragezeichen ausgedrückt:


Die Unklarheit in der lehramtlichen Terminologie, die in der vorliegenden Studie übernommen wurde, fällt hinsichtlich der Frage nach einem kirchlichen Begräbnis für katholische Gläubige, die nach Vollzug von Euthanasie oder einer anderen medizinischen Intervention am Lebensende verstorben sind, nicht besonders ins Gewicht, da die Normen zur Begräbnisgewährung bzw. -verweigerung lediglich die Existenz einer offenkundigen Sünde fordern, diese aber nicht näher qualifizieren. Um die Unschärfe nicht kontinuierlich benennen zu müssen, werden beide Termini – Euthanasie und AVvtM – im Verlauf der Arbeit sowohl nebeneinander als auch eigenständig verwendet.

2.3. Konsequenzen für die kanonistische Betrachtung

Die terminologische Analyse hat aufgezeigt, dass sich die in der Gesellschaft und in den lehramtlichen Dokumenten verwendeten Begriffe inhaltlich und semantisch nicht decken. Damit sowohl der Patient und der Arzt einerseits als auch der schwerkranke Gläubige und dessen Seelsorger andererseits in einer konkreten lebensgeschichtlichen Situation von derselben medizinischen Handlung sprechen und sich verständigen können, bedarf es also einer Übersetzungsleistung, die die medizinischen Handlungen, die vorwiegend mit den gesellschaftlich akzeptierten Begriffen direkte aktive, indirekte aktive und passive Sterbehilfe kommuniziert werden, in das lehramtliche terminologische Cluster von Euthanasie, Anwendung therapeutischer Mittel und Anwendung schmerzstillender Mittel überführt. Durch diese Transferleistung wird Missverständnissen vorgebeugt und der kontextuelle wie semantische Rahmen geklärt.

Welche Komplikationen terminologische Divergenz und Ungenauigkeit hinsichtlich des vom Lehramt verwendeten Euthanasiebegriffs als intendierte oder naturimmanente Herbeiführung des Todes durch eine Handlung oder Unterlassung mit Blick auf den ethisch unzulässigen AVvtM mit sich bringen, zeigt sich deutlich am eingangs benannten Fall des ALS-Patienten Welby. Dessen Wunsch nach Abbruch künstlicher Beatmung sowie künstlicher Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr wurde weltweit als Form der passiven Sterbehilfe wahrgenommen. Dass auch die kirchliche Autorität nicht vor „Übersetzungsfehlern“ gefeit ist, zeigt der Umstand, dass die vollzogenen Handlungen zum einen in der gesellschaftlichen Terminologie fälschlicherweise als aktive Sterbehilfe bezeichnet und zum anderen im Sinn eines Abbruchs verhältnismäßiger therapeutischer Maßnahmen als Euthanasie im lehramtlichen Verständnis übersetzt wurden, obwohl der Patient nicht aufgrund der Handlung bzw. Unterlassung, sondern aufgrund der Krankheit verstarb.152

Der Seelsorger vor Ort bzw. derjenige, der über die Gewährung oder Verweigerung des kirchlichen Begräbnis entscheidet, steht also vor der Herausforderung, zunächst die einem konkreten Einzelfall zugrunde liegende Handlung sowie ihre rechtlichen und medizinischen Implikationen präzise zu erfassen. In einem zweiten Schritt muss der Frage nachgegangen werden, ob die Handlung die Zustimmung des schwerkranken und sterbenden Menschen gefunden hat. Nur vor diesem Hintergrund kann eine entsprechende medizinische Handlung oder Unterlassung, die den Tod intendiert oder das Sterben aus kirchlich ethischer Perspektive unzulässig herbeigeführt hat, als subjektiv schuldhaft verstanden werden und kirchenrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Aufgrund der vom staatlichen und kirchlichen Gesetzgeber geforderten freiverantworteten und freiwilligen Entscheidung können demnach als Objekt der vorliegenden Studie nur folgende im Schema hervorgehobenen Handlungen gelten:


Als drittes gilt es, die medizinische Intervention, die zumeist mit gesellschaftlich akzeptierten Begriffen bezeichnet werden, in das kirchliche Begriffskonzept zu transferieren. Erst auf dieser Basis kann die vollzogene Handlung aus ethischer Perspektive beurteilt werden. Wird der konkrete Einzelfall betrachtet, ergeben sich daraus für die Anwendung des kirchlichen Rechts unterschiedliche Voraussetzungen, die letztlich für die Gewährung oder Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses entscheidend sind. Folgendes Schaubild soll die Transferleistung verdeutlichen:


Schließlich, in einem vierten Schritt, kann und muss der Seelsorger anhand der gewonnenen Erkenntnisse über die Art der Handlung und deren ethischen Gehalt vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Rechtsinterpretation, der Analyse des konkreten Sachverhalts und der lebensgeschichtlichen Situation des Verstorbenen in den Entscheidungsprozess übergehen, in dessen Rahmen das Recht angewendet wird.

1 Die Notwendigkeit einer solchen terminologischen Klärung zeigt die oftmals undifferenzierte Verwendung der Begriffe Selbstmord, Freitod, Suizid und Selbsttötung. Beispielsweise wird in der dritten Auflage des LThK unter den Artikeln Selbstmord, Selbsttötung und Freitod lediglich auf den Artikel Suizid verwiesen und alle drei Begriffe als gleichwertig betrachtet. [Vgl. A. Eser, Art. Suizid. I. Anthropologisch. II. Rechtlich, in: LThK 9 (32000) 1105-1106; A. Holderegger, Art. Suizid. III. Theologischethisch, in: LThK 9 (320 00) 1106-1108.] Der Begriff Selbstmord brachte über viele Jahrhunderte das Verständnis zum Ausdruck, dass jemand an sich selbst einen Mord, d. h. eine aufgrund von niedereren Beweggründen, vorsätzlich gewalttätige und daher unrechtmäßige Tötung menschlichen Lebens beging. In gegenwärtiger Verwendung ist diese normative Konnotation jedoch in den Hintergrund getreten. [Vgl. Bauer/Fartacek u.a., Suizid, 17.] Der Terminus Freitod hingegen entstammt dem Gedankengut der Aufklärung und verkörpert die absolute, auch über das Ende des eigenen Lebens bestimmende Freiheit des Menschen. [D. v. Engelhardt, Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte, in: K. W. Schmidt/G. Wolfslast (Hg.), Suizid und Suizidversuch. Ethische und Rechtliche Herausforderung im klinischen Alltag, Stuttgart 2005, 11-26, 22.] Der neutral wirkende Terminus Suizid suggeriert aufgrund des lateinischen Bezugs eine gewisse Sachlichkeit und Wertfreiheit, obwohl er letztlich eine direkte Übersetzung des Begriffs Selbstmord ins Lateinische ist. [Vgl. K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können. Suizidgefährdung. Suche nach dem Leben, Göttingen 1979, 21.]. Der Begriff Selbsttötung verweist als „nicht durch moralisches Vorverständnis und normatives Urteil a priori“ [Lenzen, Selbsttötung, 15.] wertbesetzter Begriff auf den Handlungscharakter, die Prozesshaftigkeit und Zeitlichkeit des Geschehens hin und expliziert die Rückbezogenheit der Aktion und die Spaltung des Handelnden in Subjekt und Objekt. Aufgrund der disparaten ethischen Konnotation wird in der vorliegenden Studie, sofern notwendig, von Suizid oder Selbsttötung gesprochen. In direkten Zitaten werden die Begriffe allerdings unverändert wiedergegeben, um die Variation der verschiedenen Bedeutungen im zeitgeschichtlichen Kontext zum Ausdruck zu bringen und „die Begriffe dynamisch in ihrem jeweiligen Bedeutungskontext und Diskussionszusammenhang zu verstehen und zu benutzen.“ [Ebd., 16.]

 

2 Zur Begriffsentwicklung und -verwendung in der Antike siehe Benzenhöfer, Der gute Tod?, 11-36; V. Zimmermann, Die ‚Heiligkeit des Lebens’. Geschichte der Euthanasie in Grundzügen, in: A. Frewer/C. Eickhoff (Hg.), ‚Euthanasie’ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt/Main 2000, 27-45, 27-29; Zimmermann-Acklin, Euthanasie, 21-29; Frieß, Sterbehilfe, 17-18; Oduncu, In Würde sterben, 23-26; V. Eid, Geschichtliche Aspekte des Euthanasieproblems, in: V. Eid (Hg.), Euthanasie oder Soll man auf Verlangen töten? (Moraltheologie interdisziplinär), Mainz 21985, 12-24, 13-15; Schockenhoff, Sterbehilfe, 50.

3 Vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, 13; Oduncu, In Würde sterben, 23.

4 Vgl. Oduncu, In Würde sterben, 24.

5 Posidipps Verständnis ist kongruent mit dem von Kratinos und Menandros. [Vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, 13; Eid, Aspekte, 13.]

6 Vgl. T. Potthoff, Euthanasie in der Antike. Diss. med, Münster 1982, 15. Belege für die weitere Verwendung des Euthanasiebegriffs als Ausdruck eines würdigen und rechten Todes finden sich u.a. in den Werken des Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.). Vgl. M. T. Cicero, Atticus-Briefe: lateinischdeutsch. Hrsg. und über. von Helmut Kasten (Sammlung Tusculum), München 41990, 1068.

7 Vgl. F. Josephus, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer. Übers. und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz, Wiesbaden 111993, 557-558.

8 Vgl. C. Suetonius Tranquillus, De vita Caesarum/Die Kaiserviten. De viris illustribus/Berühmte Männer: lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Hans Martinet (Sammlung Tusculum), Düsseldorf 32006, 313.

9 J.-P. Wils, Ars moriendi. Über das Sterben, Frankfurt/Main 2007, 24.

10 Vgl. P. Ariès, Geschichte des Todes, München 122002, 136.

11 Wils, Ars moriendi, 24.

12 Zum Euthanasiebegriff in der Renaissance siehe Benzenhöfer, Der gute Tod?, 11-36; Zimmermann, ‚Heiligkeit des Lebens’, 27-29; Zimmermann-Acklin, Euthanasie, 21-29; Frieß, Sterbehilfe, 17-18; Oduncu, In Würde sterben, 23-26; Eid, Aspekte, 13-15; Schockenhoff, Sterbehilfe, 50.

13 Frieß, Sterbehilfe, 19. Weitere Literatur: Vgl. T. Morus, Utopia, Leuven 1516; Zimmermann-Acklin, Euthanasie, 35-38; Benzenhöfer, Der gute Tod?, 54-58.

14 „Ist aber die Krankheit nicht nur aussichtslos, sondern dazu noch dauernd schmerzhaft und qualvoll, dann geben die Priester und die Behörden dem Manne zu bedenken […]; da das Leben für ihn eine Qual sei, solle er nicht zögern zu sterben, sondern solle getrost und guter Hoffnung aus diesem unerfreulichen Dasein, diesem wahren Kerker und Foltergehäuse, sich entweder selber befreien oder andere ihn daraus entführen lassen“ [T. Morus, Utopia. Aus dem Lateinischen von Alfred Hartmann, Zürich 1981, 130-131.].

15 Vgl. J. Timmermann, Das Thema Sterbehilfe in Thomas Morus’ „Utopia“ (Medizinethische Materialien 85), Bochum 1993, 3.

16 Vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, 59.

17 Vgl. F. Bacon, Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften (London 1605/1623). Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Hrsg. von Hermann Klenner, Freiburg/Br. 2006, 236. (Kursivsetzung im Original nicht enthalten)]

18 Da diese medizinischen Entwicklungen begünstigt durch die Erfindung des Buchdrucks flächendeckend tradiert und rezipiert werden konnten, wurden sowohl das Entwicklungspotential, die Möglichkeiten und Grenzen der Medizin als auch die Aufgabe der Ärzteschaft mit zunehmendem medizinischen Fortschritt kritisch hinterfragt. [Vgl. W. U. Eckart, Geschichte der Medizin, Berlin 21994, 107-133.] Ein ähnliches Phänomen, dass Gedanken über Euthanasie oder Behandlungsabbruch bzw. -verzicht dann stark gemacht werden, wenn die Medizin einen Entwicklungssprung durchläuft, lässt sich auch für das 20. Jahrhundert mit seinem immensen medizinischen Fortschritt in den 1950/60er Jahren beobachten. Es scheint einen kausalen Zusammenhang zwischen dem medizinischen Fortschritt einerseits und dem Reflektieren über Anwendung und Abbruch entsprechender, neu entwickelter Methoden und Therapien andererseits zu geben.

19 Vgl. M. Alberti/Z. P. Schulz, Dissertatio inauguralis medica. De euthanasia medica. Vom leichten Todt, Halle/Madgeburg 1735, 11.

20 Vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, 63.

21 Vgl. N. Paradys, Rede […] über das, was die Arzneywissenschaft vermag, den Tod leicht und schmerzlos zu machen, bey Gelegenheit seines Abschieds von dem akademischen Prorectorat gehalten den 8. Februar 1794. Aus dem Lateinischen übers. von Johann Georg Klees, in: Neues Magazin für Aerzte 18 (1796) 560-572, 561; J. C. Reil, Entwurf einer allgemeinen Therapie, Halle 1816, 573. Zum Verständnis der Euthanasie als Ausdruck einer palliativmedizinischen ärztlichen Sterbebegleitung erschienen in den Folgejahren allein in Deutschland über 15 medizinische Dissertationen. Siehe dazu in Auswahl K. F. H. Marx, De euthanasia medica prolusio. Dissertatio inauguralis medica, Göttingen 1826; F. Kessler, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1828; L. Beschütz, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1832; C. C. Salzmann, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1835; J. Stubendorff, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Dorpat 1836; W. Schriever, De euthanasia. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1836; E. W. Schalle, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medico-Philosophica, Leipzig 1839; C. Pfeiffer, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1839; J. D. L. Jahn, De euthanasia. Dissertatio inauguralis medica, Kiel 1839; J. Goetz, De euthanasia, qualis medicorum est. Dissertatio inauguralis medica, Rostock 1841; W. Baltes, De euthanasia. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1842; F. T. Hauffe, De euthanasia. Dissertatio inauguralis medica, Würzburg 1843; H. Brockerhoff, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1843; W. L. Ziemssen, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Greifswald 1845; R. Heinzelmann, De euthanasia medica. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1845; O. Hellwag, De euthanasia. Dissertatio inauguralis medica, Berlin 1845.

22 Es gab allerdings auch vereinzelte Positionen, die unter Euthanasie eine aktive Tötung auf Verlangen verstanden. Vgl. S. D. Williams, Euthanasia, in: Popular Science Monthly 3 (1873) 91-96, 91 zitiert nach E. J. Emanuel, The History of Euthanasia Debates in the United States and Britain, in: Ann Int Med 121 (1994) 793-802, 794.

23 C. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection: or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859; C. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. In two volumes, London 1871. Dt. Übersetzung: C. Darwin, Die Abstammung des Menschen. Übers. von Heinrich Schmidt. Mit einer Einführung von Christian Vogel, Stuttgart 1982.

24 N. Wolf, Entscheidungen über Leben und Tod. Vergleich der Entscheidungsfaktoren für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure zu den Themen Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung, Hamburg 2014, 77.

25 Vgl. Benzenhöfer, Der gute Tod?, 69. Darwin selbst stand einer solchen Übertragung auf die Gattung Mensch eher skeptisch und weniger radikal gegenüber.

26 Die führenden Verfechter des Sozialdarwinismus waren Ernst Haeckel (1834-1919) und Alexander Tille (1866-1912), die grundlegende Konzepte zur Vermeidung der Vererbung von minderwertigem Genmaterial erarbeiteten. [Vgl. E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungstheorie im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundlagen der Naturwissenschaft, Berlin 21870, 133-156; A. Tille, Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik, Leipzig 1895.]