Stil und Text

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2.5.3 Grundlegende Unterschiede zwischen pragmatischerPragmatik/pragmatisch und poetischerPoetizität/poetisch Textkommunikation

Bevor wir die Frage nach dem stilistischen Wozu in der poetischenPoetizität/poetisch Textkommunikation aufwerfen und exemplifizierend beantworten, wollen wir erklären, warum es notwendig ist, zwischen pragmatischerPragmatik/pragmatisch und poetischer Textkommunikation eine Trennlinie zu ziehen.

Kunstwerke, so auch poetischePoetizität/poetisch Texte, sind „Medien eines diskontinuierlichen Kommunikationsgeschehens“, lesen wir bei Reinold Schmücker (1998: 282). Während sich Rezipienten in kontinuierlichen, pragmatischPragmatik/pragmatisch ausgerichteten Kommunikationsprozessen auf den Informationswert von Äußerungen und die Intention eines Äußerungsproduzenten konzentrieren, sind Rezipienten im KommunikationsbereichKommunikationsbereich Kunst aufgefordert, sich auf die Geformtheit des jeweiligen Mediums zu konzentrieren (ebd.: 287f.). ‚Diskontinuität‘ meint also, dass Kunstwerke nicht primär auf eine Verständigung zwischen Kommunikationspartnern angelegt sind, dass das Kunstwerk die Kommunikationspartner voneinander trennt. An die Stelle von partnerorientierter KommunikationKommunikationpartnerorientierte tritt werkorientierte KommunikationKommunikationwerkorientierte (siehe Schaubild 1). Doch was berechtigt eigentlich dazu, bei fehlender Partnerorientierung von Kommunikation zu sprechen? Es handelt sich durchaus auch um Kommunikation, da Kunstwerke – wie Reinold Schmücker (1998: 282) weiter ausführt – Zeichencharakter besitzen, Resultat eines Zu-verstehen-Gebens und Gegenstand eines Zu-verstehen-Suchens sind.


Schaubild 1: Kontinuierlicher vs. diskontinuierlicher Kommunikationsprozess

Werkorientiertheit hat für die Rezeption erhebliche Konsequenzen. Die Textrezipienten sind aufgefordert, aus der stilistischen Gestalthaftigkeit eines poetischenPoetizität/poetisch Textes (als Sprachkunstwerk) Anhaltspunkte für ein VerstehenVerstehen seines Gehalts zu gewinnen. Wir brauchen uns nur des Gedichts „markierung einer wende“ von Ernst Jandl (Text 8) zu erinnern, um festzustellen, dass unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Form des Werks gelenkt wird. Es wäre abwegig, dem Gedicht Informationen über den Zweiten Weltkrieg entnehmen zu wollen.

Will man der Eigengesetzlichkeit von Sprachkunstwerken textproduktionsseitig Rechnung tragen, so kann man dies tun, indem man poetischePoetizität/poetisch Texte nicht als Produkte eines Texthandelns, sondern als Produkte eines Werkherstellens begreift. Welche TexthandlungTexthandlung sollte man im Jandl-Gedicht auch ausfindig machen können? Oder in einem Drama? Selbst ErzählenERZÄHLEN/Erzählen ist im Rahmen epischer TextsortenTextsorte (Genres) auf Grund der Diskontinuität zwischen Kunstproduktion und -rezeption keine Texthandlung im pragmatischenPragmatik/pragmatisch Verständnis. Erzählen ist vielmehr eine Darbietungsform, die im Prozess des Werkherstellens poetisch ausgestaltet wird. Der allgemeinste werkherstellende GestaltungsaktGestaltungsakt ist Poetisieren, oberstes GestaltungsprinzipGestaltungsprinzip ist Poetizität. Darauf gründet sich textproduktionsseitig die Differenz zwischen poetischen und pragmatischen Texten – eine Differenz, die im Interpretationsprozess beachtet sein will, wenn man nach GestaltungsmotivenGestaltungsmotiv fragt. Zu fragen ist in erster Linie nach werkorientierten, nicht nach partnerorientierten Gestaltungsmotiven. In der poetischen Textkommunikation erwachsen Gestaltungsmotive primär aus dem Erfordernis, eine Werkhaltung einzunehmen: eine Haltung des Künstlers gegenüber seinem Werk. Insofern sind poetische Gestaltungsmotive werkbezogene Schaffensmotive. Was das genau heißt, wollen wir in den nächsten Abschnitten darlegen.

2.5.4 GestaltungsmotiveGestaltungsmotiv in der poetischenPoetizität/poetisch Textkommunikation
2.5.4.1 SpiellustbekundungSpiellustbekundung: Poetische Experimente

Die berühmten „Stilübungen“ von Raymond Queneau, aber auch Lautgedichte (z.B. Hugo Balls „Karawane“) und Bildgedichte (z.B. Eugen Gomringers „Wind“), auf die hier nur verwiesen sein soll, zeigen uns, dass der Sinn poetischenPoetizität/poetisch Gestaltens im Bekunden von Spiellust bestehen kann. Verfahren spielerischen Gestaltens sind das Experimentieren mit der Sprache, mit Lauten, Buchstaben oder Silben, das Erfinden von Wörtern, deren Lautstruktur keine Bedeutungszuschreibung ermöglicht, das Überführen von Wortbedeutungen in eine bildförmige Gestalt u.a.m. (siehe auch 3.4.2). Ordnet man die Werke einer literarischen Richtung zu, Lautgedichte dem Dadaismus, Bildgedichte der Konkreten Poesie, kommen weiterreichende Schaffensmotive in den Blick, die zu einem Feld literaturwissenschaftlicher Forschung geworden sind. Spiellust können jedoch auch reine Nonsens-Texte zu erkennen geben. Als Beispiel Text 31.


Beispieltext 31 : Scherzrätsel

Eulenspiegel, Nr. 10/2015, 74 (Sonderseiten „Literatureule“).

Schauen wir uns zunächst die textarchitektonische Gestaltung an. Der Text gliedert sich in zwei hauptsächliche Bausteine: die Rätselaufgabe und die Rätselauflösung. Die Rätselaufgabe beansprucht fast die gesamte Textfläche. Sie ist als Frage formuliert (Kennst du ein Gedicht, in dem folgende Präpositionen vorkommen?) und mit einer Graphik illustriert, die die SemantikSemantik/semantisch der in Frage stehenden Präpositionen veranschaulicht. Die Rätselauflösung ist kleinflächig gestaltet, erscheint kleingedruckt und wird in Entsprechung zur Rätselaufgabe in Gedichtform präsentiert.

Schauen wir uns nun die Rätselauflösung genauer an. Das Gedicht ist Produkt eines Spielens mit Wörtern der Wortart Präposition, die als Konstituenten von Wortbildungskonstruktionen (Zusammenrückungen, Komposita) verwendet werden. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit somit nicht auf den ReimReim, sondern auf ein sprachspielerisches GestaltungsverfahrenGestaltungsverfahren: das AuseinanderrückenAuseinanderrücken zweier Präpositionen, die regulär zu einem Adverb vereinigt sind (vgl. in zwischen; neben an; mit unter; vor über). Das Verfahren bringt erhebliche Rezeptionserschwernisse mit sich, denn der Rezipient ist gefordert, die Auseinanderrückungen rückgängig zu machen, um den Verszeilen Grammatikalität zu verleihen (bzw. zurückzugeben). Verblüfft stellt er fest, dass vor und über eigentlich ein Temporaladverb bilden, das als Erstglied zum verbalen Determinativkompositum vorübergehen gehört, und dass hinter und Zimmer eigentlich Konstituenten eines substantivischen Determinativkompositums sind, mit der Präposition hinter als Erstglied.

Es gehört zum Wesen von Scherzrätseln, die Rätselaufgabe thematisch irreführend zu formulieren, sodass sich mit der Rätselauflösung ein Überraschungseffekt einstellt, den man mit der PointePointe von Witzen vergleichen kann – einer TextsorteTextsorte, die ebenfalls zum Bereich poetischerPoetizität/poetisch Scherzkommunikation gehört (siehe Text 7).

Die Illustration – Teil des Textbausteins Rätselaufgabe – mutet in ihrer graphischen Gestaltung wie eine erkenntniserleichternde Abbildung in einem Grammatiklehrbuch an. Wir haben eine „TextmustermontageTextmustermontage“ (Fix 1997) vor uns, d.h. eine Kopplung von Textbausteinen, die auf ein jeweils anderes TextmusterTextmuster bezogen sind, sich aber dennoch kommunikativ ergänzen und eine kommunikative Ganzheit bilden. Textmustermontagen unterscheiden sich von TextmustermischungTextmustermischungen. Erstere sind durch ein textarchitektonisches Neben- bzw. Nacheinander, Letztere durch ein Ineinander verschiedenartiger Textmusterrealisierungen gekennzeichnet.

2.5.4.2 FigurenporträtierungFigurenporträtierung: Sprach- und KommunikationsporträtsKommunikationsporträt

Ein GestaltungsmotivGestaltungsmotiv in der poetischenPoetizität/poetisch Textkommunikation ist in dem Bestreben zu sehen, Figuren ein soziales und/oder individuelles Profil zu verleihen. Zu diesem Zweck werden die Äußerungen von Figuren mit Merkmalen versehen, die Rückschlüsse auf entsprechende Persönlichkeitsmerkmale zulassen. Die betreffenden Äußerungsmerkmale können sprachlicher oder kommunikativ-pragmatischerPragmatik/pragmatisch Art sein und sich dementsprechend zu einem SprachporträtSprachporträt oder einem KommunikationsporträtKommunikationsporträt bündeln.

a) SprachporträtsSprachporträt

Unter einem SprachporträtSprachporträt versteht man die Typisierung einer literarischen Figur „durch ihre Art, sich sprachlich kundzutun“ (Krahl/Kurz 1984: 105). In Sprachporträts werden Äußerungsmerkmale einer Figur (ProsodieProsodie/prosodisch, Wortwahl, Satzbau u.a.) interpretierbar im Hinblick auf soziale Merkmale der Figur (Bildungsgrad, regionale Herkunft, sozialer Status usw.). Ein wichtiges Verfahren sprachporträtierender Gestaltung ist das Verwenden von Varietäten (siehe zum Begriff 2.5.2.5), insbesondere von Regional-, Fach- und Gruppensprachen. Als Beispiel ein Auszug aus dem Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann:

Auszug 1 (Kap. V)

„Verkaufen, was? Klemme, was?“

[…]

„Quatsch. Weiß Bescheid. Nur keine Fisimatenten! Höherer Befehl. Schnauze halten und verkaufen, sonst gnade Gott.“

 

[…]

„Momentane Verlegenheit“, schnarrte er. „Vermittle Kavalieren. Ehrensache.“

[…]

„Präsident von Wulckow eklig hinterher, daß Sie verkaufen, sonst kein Geschäft mit ihm zu machen. Vetter Quitzin arrondiert Besitz hierherum. Rechnet bestimmt auf Ihr Entgegenkommen. Hundertzwanzig die Kiste.“

Beispieltext 32a: Roman (Auszug 1)

Heinrich Mann: Der Untertan. 25. Aufl. Leipzig 1986: Philipp Reclam jun., 293f.

Die Äußerungen des Premierleutnants a.D. Karnauke, gerichtet an die Hauptfigur des Romans, Diederich Heßling, der zum Verkauf seines Hauses genötigt werden soll, weisen in prosodischerProsodie/prosodisch, lexikalischer und syntaktischer Hinsicht gruppensprachliche Merkmale auf. Sprachgeschichtlich gesehen, handelt es sich um den „preußischen Leutnantston“ des wilhelminischen Kaiserreichs, einen MilitärjargonMilitärjargon der Offiziere und Reserveoffiziere, der aber auch von Zivilpersonen in Regierungs- oder anderweitig einflussreichen Positionen gesprochen wurde (vgl. von Polenz 1999: 459f.). Sprachporträtierend eingesetzt, wird die Figur, indem sie so spricht, als Repräsentant der Regierung typisiert. Karnauke agiert – wie wir erfahren – im Auftrag des Regierungspräsidenten von Wulckow. Eigenheiten des preußischen Militärjargons zeigen sich vor allem an „syntaktischen Sparformen“ (ebd.: 460). Typische Kennzeichen der VarietätVarietät sind

 das elliptische AuslassenAuslassen von pronominalen Satzsubjekten wie ich oder er (Weiß Bescheid.; Vermittle Kavalieren.; Rechnet bestimmt auf Ihr Entgegenkommen.);

 das elliptische AuslassenAuslassen von finiten Verbformen wie ist (Präsident von Wulckow eklig hinterher, sonst kein Geschäft mit ihm zu machen.);

 das elliptische AuslassenAuslassen von pronominalen Satzsubjekten, finiten Verbformen sowie von Artikeln und Präpositionen (Verkaufen, was? statt Sie wollen verkaufen, nicht wahr?; Klemme, was? statt Sie sind in der Klemme, nicht wahr?; Nur keine Fisimatenten! statt Machen Sie nur keine Fisimatenten!; Hundertzwanzig die Kiste. statt Geboten werden hundertzwanzig für die Kiste.), wodurch auch ein- und zweigliedrige NennsätzeNennsatz entstehen, d.h. Sätze, die auf ein Substantiv oder eine Substantivgruppe im Nominativ reduziert sind (Quatsch.; Ehrensache.; Höherer Befehl.; Momentane Verlegenheit.);

 das ErsetzenSubstituieren imperativischer Verbformen durch infinitivische (Schnauze halten und verkaufen), was, auch bedingt durch die Wortwahl, einen befehlssprachlichen Ton erzeugt.

Zum Erscheinungsbild des preußischen MilitärjargonsMilitärjargon gehört darüber hinaus ein charakteristisches prosodischesProsodie/prosodisch Merkmal, das redekennzeichnend vermittelt wird. Im Text wird mehrfach vermerkt, dass Karnauke schnarrt bzw. etwas schnarrend sagt, also lautstark und hölzern spricht (Textbeleg: „Momentane Verlegenheit“, schnarrte er.).

In lexikalischer Hinsicht auffällig ist die Dichte an umgangs- und saloppsprachlichen Ausdrücken. Textbelege für Umgangssprachlichkeit sind Quatsch (statt Unsinn); Klemme (statt schwierige Lage); Fisimatenten (statt Ausflüchte); eklig (statt ganz gehörig). Umgangssprachlich sind auch die Gesprächspartikel was (statt nicht wahr) und ein pragmatischerPragmatik/pragmatisch PhraseologismusPhraseologismus: die DrohformelDrohformel sonst gnade Gott. Textbelege für Saloppsprachlichkeit sind Kiste (statt Haus) und Schnauze (statt Mund).

Man beachte, dass nicht ein einzelnes Äußerungselement typisch für den preußischen MilitärjargonMilitärjargon ist, sondern erst ihre Fülle und Kombination. Sprachporträtierendes Gestalten erweist sich im satirischen Roman „Der Untertan“ als Karikieren von Figuren. So wird auch Karnauke zu einer karikaturesken Figur. Seine Sprache wirkt in mehrfacher Hinsicht unangemessenUnangemessenheit. Der Militärjargon passt nicht zum SituationskontextSituationskontext (Karnauke erscheint am Tag der Hochzeit von Diederich Heßling), und die Wortwahl verträgt sich nicht mit seiner sozialen Position.

b) KommunikationsporträtsKommunikationsporträt

In KommunikationsporträtsKommunikationsporträt sind Äußerungsmerkmale des text- oder gesprächskommunikativen Handelns einer literarischen Figur (ProsodieProsodie/prosodisch, Wortwahl, Satzbau u.a.) mit GestaltungsmotivenGestaltungsmotiv pragmatischerPragmatik/pragmatisch Kommunikation (wie SelbstpräsentationSelbstpräsentation, BeziehungsgestaltungBeziehungsgestaltung oder RezipientenbeeinflussungRezipientenbeeinflussung) relationiert, was Rückschlüsse auf Charakterzüge der Figur zulässt. Von besonderer interpretativer Bedeutsamkeit ist der fiktionale SituationskontextSituationskontext, in dem sich kommunikatives Handeln vollzieht. Die Äußerungsmerkmale können – im Unterschied zum SprachporträtSprachporträt – je nach Situationskontext variieren, woraus sich die Möglichkeit ergibt, den Charakter einer Figur vielschichtig anzulegen und zu deuten. Als Beispiele drei weitere Auszüge aus dem Roman „Der Untertan“ (siehe Text 32b).

Auszug 2 (Kap. III )

„Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß hier künftig forsch gearbeitet wird. Ich bin gewillt, mal Zug in den Betrieb zu bringen. In der letzten Zeit, wo hier der Herr gefehlt hat, da hat mancher von euch sich vielleicht gedacht, er kann sich auf die Bärenhaut legen. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum, ich sage das besonders für die alten Leute, die noch von meinem seligen Vater her dabei sind.“

Auszug 3 (Kap. VI )

[…] seiner Gattin, die im Bett lag und ihn mit Vorwürfen empfing, erwiderte er blitzend: „Mein Kaiser hat ans Schwert geschlagen, und wenn mein Kaiser ans Schwert schlägt, dann gibt es keine ehelichen Pflichten mehr. Verstanden?“

Auszug 4 (Kap. VI )

„Aus dem Lande des Erbfeindes“, schrie Diederich, „wälzt sich immer wieder die Schlammflut der Demokratie her, und nur deutsche Mannhaftigkeit und deutscher Idealismus sind der Damm, der sich ihr entgegenstellt. Die vaterlandslosen Feinde der göttlichen Weltordnung aber, die unsere staatliche Ordnung untergraben wollen, die sind auszurotten bis auf den letzten Stumpf, damit, wenn wir dereinst zum himmlischen Appell berufen werden, daß dann ein jeder mit gutem Gewissen vor seinen Gott und seinen alten Kaiser treten kann, und wenn er gefragt wird, ob er aus ganzem Herzen für des Reiches Wohl mitgearbeitet habe, er an seine Brust schlagen und offen sagen darf: Ja!“

Beispieltext 32 b: Roman (Auszüge 2–4)

Heinrich Mann: Der Untertan, a.a.O., 86 (Auszug 2), 313 (Auszug 3), 388f. (Auszug 4).

Auszug 2: Diederich Heßling stellt sich als Besitzer der von seinem Vater geerbten Fabrik den Arbeitern vor.

Die Äußerungsmerkmale lassen erkennen, dass die Beziehung zwischen ihm und den Arbeitern einerseits lässig, andererseits streng und unpersönlich, insgesamt also widersprüchlich gestaltet wird. Von LässigkeitLässigkeit zeugen die umgangssprachliche Anrede Leute!, der umgangssprachlich-abwertende PhraseologismusPhraseologismus sich auf die Bärenhaut legen, der verwendet wird, um den Arbeitern Faulheit zu unterstellen, und der umgangssprachlich-aufwertende Phraseologismus Zug in etw. bringen, der dazu dient, den künftigen Führungsstil zu beschreiben. Strenge und UnpersönlichkeitUnpersönlichkeit werden artikuliert sowohl bei der Beschreibung von Konsequenzen des neuen Führungsstils (vgl. die auffordernde unpersönliche PassivkonstruktionPassivform/-konstruktion daß hier künftig forsch gearbeitet wird) als auch bei der Bewertung von unterstellter Faulheit (vgl. die VerstärkungIntensivieren mittels gewaltig in dem Satz Das ist aber ein gewaltiger Irrtum.). Insgesamt wird in sozialer Hinsicht ein autoritärer StilStilautoritärer hervorgebracht, wozu auch die Kategorisierung der Arbeiter als Untergebene ihren Beitrag leistet.

Auszug 3: Diederich Heßling kommt als Wahlkämpfer für die Partei des Kaisers erst morgens nach Hause und begibt sich in das eheliche Schlafzimmer.

Die Äußerungen, mit denen er seine nächtliche Abwesenheit rechtfertigt und seine Frau zurechtweist, sind in einem Stil gehalten, der in einer intimen Situation zwischen Eheleuten absolut unpassend ist. Der bildliche PhraseologismusPhraseologismus ans Schwert schlagen (‚zum Kampf aufrufen‘) bringt PathosPathos/Pathetisieren in die Rede. Der euphemistischeEuphemismus/euphemistisch Phraseologismus eheliche Pflichten (‚Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner‘) ist ein Ausdruck formelhafterFormelhaftigkeit/Formelhaft-Machen Behördensprache. Und die jeden Widerspruch unterbindende Anhängsel-FrageAnhängsel-Frage Verstanden? erinnert an den preußischen MilitärjargonMilitärjargon. Es lassen sich Charakterzüge wie Herrschsucht gegenüber der Ehefrau und UnterwürfigkeitDevotheit (DevotheitUnterwürfigkeitDevotheit) gegenüber dem Kaiser ableiten (vgl. auch die Substitution des bestimmten Artikels durch das Possessivum mein in mein Kaiser als Ausdruck besonderer Wertschätzung).

Auszug 4: Diederich Heßling hält zur Einweihung des Kaiserdenkmals eine Propagandarede.

Hervorstechend ist die Verunglimpfung und Bedrohung des politischen Gegners. Die Rede enthält militaristisches BrandmarkungsvokabularBrandmarkungsvokabular (Erbfeind; vaterlandslose Feinde), das mit nationalistischem WertschätzungsvokabularWertschätzungsvokabular (deutsche Mannhaftigkeit; deutscher Idealismus) kontrastiert. Im Kontext der Propagandasprache erhält auch das ideologiegebundene Wort Demokratie eine klare pejorative BedeutungSemantik/semantisch. Eingebunden in ein komplexes Sprachbild (eine AllegorieAllegorie), wird Demokratie mit einer Naturkatastrophe gleichgesetzt (vgl. Schlammflut der Demokratie). Die RadikalitätRadikalität der Sprache Heßlings, interpretierbar als Radikalität seines Wesens, kommt auch in dem politischen Appell zum Ausdruck, die Feinde auszurotten bis auf den letzten Stumpf (Beleg für die Modifikation des PhraseologismusPhraseologismus etw. mit Stumpf und Stiel ausrotten). Bemerkenswert ist außerdem das Mischen von politischer Sprache (vgl. staatliche Ordnung; für des Reiches Wohl mitarbeiten) und religiöser SpracheSprachereligiöse (vgl. göttliche Weltordnung; himmlischer Appell; vor seinen Gott treten) bei der Verkündung und Begründung des Appells. Die Rede bringt einerseits Radikalität (dem politischen Feind gegenüber), andererseits UnterwürfigkeitDevotheit (gegenüber Gott und Kaiser) zum Vorschein. Zur politischen Radikalität als Charakterzug passt ein prosodischesProsodie/prosodisch Äußerungsmerkmal: die Hysterie des Sprechens. Dass die Rede hysterisch gehalten wird, erfahren wir durch das Verb schreien, das redekennzeichnend eingesetzt worden ist (vgl. … schrie Diederich).

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