Atomfieber

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Der unfreiwillige Verzicht auf Atomwaffen

Der amerikanische UNO-Delegierte Bernard Baruch legte bereits im Juni 1946 einen Plan vor, um die Verbreitung von Atomwaffen weltweit zu verhindern. Der nach ihm benannte Baruch-Plan («The Baruch Plan») sah eine Unterstellung der Atomwaffen unter eine internationale Kontrolle vor. Obwohl der Baruch-Plan damals scheiterte, war er der erste Schritt auf dem Weg zum Atomwaffensperrvertrag, der ein Verbot der Verbreitung von Atomwaffen beinhaltete und am 1. Juli 1968 von den USA, Grossbritannien und der Sowjetunion unterzeichnet wurde. Durch den zunehmenden Druck der Atommächte zur Unterzeichnung des Vertrags wurde von 1967 bis 1969 auch in der Schweiz nochmals eine intensive politische Debatte über die Möglichkeit einer Aufrüstung der Schweizer Armee mit Atomwaffen geführt. Die Kritiker des Atomwaffensperrvertrags betonten, dass dieser die Vormachtstellung der Supermächte noch weiter verstärke. Der Vertrag wurde von all jenen Staaten akzeptiert, die über Atomwaffen verfügten, und von jenen, die nicht erwarteten, jemals solche zu besitzen. China, Frankreich und Israel hingegen, die gerade dabei waren, eigene Atombomben zu entwickeln, boykottierten ihn.206

Die ungleiche Behandlung der beiden Staatengruppen schuf ein Zweiklassensystem: auf der einen Seite die Atommächte, eine kleine Gruppe übermächtiger Giganten, die ihre Vormachtstellung weiter ausbauten, und auf der anderen Seite die atomaren Habenichtse, die grosse Schar der hilflosen Kleinstaaten, die von den Atommächten erpresst und zum Verzicht gezwungen wurden. Die Kritiker des Vertrags bezeichneten diesen als eine «Enteignung der Habenichtse» oder gar als eine «Kastration der Impotenten».207 Der Vertrag wurde auch in der Schweiz als ein Diktat der Supermächte empfunden und löste ein Gefühl der Machtlosigkeit aus. Die Unterzeichnung war nicht Folge eines freiwilligen Verzichts, sondern einer Erpressung. Die Sicherung des weltweiten Friedens wurde mittels einer völkerrechtlichen Diskriminierung erreicht.208

Die offiziellen Stellen der Schweiz verhielten sich lange Zeit abwartend und zögerlich. Erst als der Druck der beiden Supermächte gegen Ende der 1960er-Jahre stark zunahm, unterzeichnete die Schweiz den Atomwaffensperrvertrag schliesslich am 27. November 1969. Die Ratifikation erfolgte erst 1977, und zwar nach heftigem Widerstand im Ständerat. Die Supermächte liessen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre immer wieder durchblicken, dass sie diejenigen Staaten, die ihre Unterschrift verweigerten, nicht mehr mit Uran beliefern und ihnen keine AKWs mehr verkaufen würden. Bereits 1964 hatten sich in der Schweiz jedoch die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) sowie die Bernischen Kraftwerke AG (BKW) für den Bau von AKWs mit amerikanischen Reaktoren entschieden. Die NOK baute in Beznau ab 1965 einen Druckwasserreaktor der Firma Westinghouse, der dort am 1. September 1969 in Betrieb genommen wurde, und die BKW baute ab 1966 in Mühleberg einen Siedewasserreaktor der Firma General Electric, der schliesslich am 6. November 1972 in Betrieb ging. Die Atomindustrie in der Schweiz war damit ab Mitte der 1960er-Jahre von den USA abhängig. So gab es für die Schweiz zwei Möglichkeiten: Unterzeichnete sie den Atomsperrvertrag, verzichtete sie damit auf ihre nuklearen Ambitionen. Verweigerte sie ihre Unterschrift, und verfolgte sie den Bau einer Schweizer Atombombe weiter, gefährdete sie damit ihre sich im Aufbau befindende zivile Atomindustrie, die auf die Lieferung von Uran und den Import der amerikanischen Atomtechnologie angewiesen war.209

Die Verhandlungen über den Vertrag machten den Konflikt zwischen dem EMD und dem EPD sichtbar. Während das EMD unter der Leitung von FDP-Bundesrat Nello Celio weiterhin an der Option einer atomaren Aufrüstung festhielt, preschte das EPD unter der Leitung von SP-Bundesrat Willy Spühler vor und forderte schon früh eine Unterzeichnung des Vertrags als einzig gangbaren Weg. Nach der Mirage-Affäre 1964 war bereits absehbar, dass der Bau einer Schweizer Atombombe de facto gescheitert war, trotzdem führte die politische Debatte über den Vertrag nochmals zu einem «letzten Aufbäumen» der Befürworter von Schweizer Atomwaffen.210 Einer ihrer vehementesten Vertreter war der Zürcher Militärstratege Gustav Däniker jun., der als «das inoffizielle Gehirn der Armee» galt.211 1966 mischte er sich mit seinem Buch Strategie des Kleinstaats in die politische Debatte ein. Nach dem lateinischen Sprichwort «Si vis pacem para bellum» («Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor») plädierte er für eine Strategie der massiven Abschreckung. Nebst der Einführung taktischer Atomwaffen forderte Gustav Däniker jun. strategische Atombomben, die mit Flugzeugen und Mittelstreckenraketen gegen die Sowjetunion eingesetzt werden könnten. Als Chefstratege des Kalten Kriegs beim Pressebüro Dr. Rudolf Farner und beim Verein zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaften wollte er die Unabhängigkeit der Schweiz durch die Drohung mit taktischen und strategischen Atomwaffen garantieren. Für den Zeitraum der nächsten 20 Jahre rechnete Gustav Däniker jun. mit einigen Hundert Millionen Franken pro Jahr für die Herstellung von 300 bis 400 Atomsprengköpfen kleineren und mittleren Kalibers.212

Im September 1969 gründeten die Befürworter von Atomwaffen ein Aktionskomitee, welches das Ziel verfolgte, eine Unterschrift des Atomsperrvertrags der Schweiz zu verhindern. Die Mitglieder des «Zürcher Anti-Klubs» waren Sympathisanten der politischen Rechten sowie Angehörige der Zürcher Offiziersgesellschaft. Das Aktionskomitee konnte die Unterschrift der Schweiz allerdings nicht mehr verhindern und hatte keinen nennenswerten Einfluss auf die Verhandlungen zur Unterzeichnung des Vertrags. Für einiges Aufsehen sorgte die Mitgliedschaft von Generalstabschef Paul Gygli, der sich öffentlich gegen die Politik des Bundesrates stellte.213 Die Befürworter der Atomwaffen beriefen sich in ihrer Argumentation immer wieder auf die beiden gewonnenen Abstimmungen zu den Atominitiativen von 1962 und 1963, die ihren Rückhalt in der Schweizer Bevölkerung klar aufgezeigt hätten.

1967 hatte Generalstabschef Paul Gygli die Studienkommission für strategische Fragen (SSF) eingesetzt, die vom Oberst im Generalstab und ETH-Germanistikprofessor Karl Schmid geleitet wurde. Die SSF erhielt vom Generalstabschef den Auftrag, die Frage einer Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atomwaffen aus einer militärischen Perspektive zu beurteilen und eine Stellungnahme des Vertrags vorzubereiten. Karl Schmid hatte im Tages-Anzeiger vom 29. Oktober 1966 bereits eine Besprechung des Buchs Strategie des Kleinstaats von Gustav Däniker jun. veröffentlicht. Er hielt dessen «Versuchsanordnung» einer isolierten Schweiz, die von einer atomaren Grossmacht wie der Sowjetunion nuklear erpresst werde, für unwahrscheinlich und die atomare Drohung der Schweiz als Kleinstaat für unglaubwürdig. Aus finanziellen Gründen gehe eine Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atomwaffen auf Kosten der konventionellen Verteidigung und beschädige das Bild der friedliebenden Schweiz. Der Einsatz von Atomwaffen auf dem eigenen Territorium kam in seinen Augen einem irrationalen, kollektiven Suizid gleich. Ausserdem berge auch ein angeblich begrenzter Atomkrieg mit taktischen Atomwaffen jederzeit die Gefahr einer Eskalation. Aus diesen Gründen lehnte Karl Schmid die Forderung einer Bewaffnung der Schweizer Armee mit taktischen und strategischen Atomwaffen ab. Innerhalb der SSF wurde dennoch ein Arbeitsausschuss (AA) I Nuklearpolitik gebildet, der unter der Leitung von Professor Urs Schwarz und unter Beteiligung des Strategieexperten Gustav Däniker jun. und des Oberst im Generalstab Hans Senn den Nutzen eigener Atomwaffen beurteilen sollte. Die Beurteilung fiel zwiespältig aus: Während strategische Atombomben abgelehnt wurden, befürwortete man taktische Atomwaffen. Schliesslich konnte sich der Arbeitsausschuss zu einer zustimmenden Empfehlung für die Unterzeichnung des Vertrags durchringen.

Das EPD unter der Leitung von SP-Bundesrat Willy Spühler vertrat bereits früh die Auffassung, dass eine Unterzeichnung des Vertrags der einzig gangbare Weg sei, auch wenn damit eine völkerrechtliche Diskriminierung verbunden war. Vor 1967 herrschte die Meinung, dass die Atomindustrie durch die Unterzeichnung des Vertrags Nachteile erfahren würde, da die zivile Nutzung der Atomenergie von Anfang an sehr eng mit der militärischen Forschung für eine eigene Atomwaffenproduktion verbunden war. Ab Frühjahr 1967 wurde unter der Leitung von ETH-Professor Urs Hochstrasser, Delegierter des Bundesrates für Fragen der Atomenergie, eine Arbeitsgruppe von schweizerischen Fachleuten der Atomtechnik gebildet, die aus der Perspektive der Schweizer Atomindustrie eine Stellungnahme zum Vertrag vorbereitete. In ihrem Bericht kam die «Gruppe Hochstrasser» zum Schluss, dass bei einer Nichtunterzeichnung des Vertrags für die Schweizer Atomindustrie mit Nachteilen zu rechnen sei und dass ein Abseitsstehen dem Forschungs- und Wirtschaftsstandort Schweiz schaden würde. Die «Gruppe Hochstrasser» befürwortete eine Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags und stützte damit gegenüber dem EMD die Position des EPD unter der Leitung von Willy Spühler.214

Auch das EMD empfahl schliesslich eine Unterzeichnung des Vertrags, sprach sich gleichzeitig aber dafür aus, die Option von eigenen Atomwaffen offenzuhalten. Der Handlungsspielraum sollte beibehalten werden, indem die Schweiz den Status einer atomaren Schwellenmacht anstrebte. Zumindest die theoretische Möglichkeit einer Produktion eigener Atomwaffen sollte damit erhalten werden, insbesondere für den Fall eines Scheiterns des Vertrags. Es bestand die Furcht, dass die Bundesrepublik Deutschland die Entwicklung eigener Atomwaffen anstreben könnte. Die Schweiz machte ihre Unterschrift von der Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland abhängig. Schliesslich unterzeichnete die Schweiz den Vertrag als 92. Staat, genau einen Tag vor der Bundesrepublik Deutschland.

 

Damit die Schweiz den Status einer atomaren Schwellenmacht behalten konnte, hatte das EMD 1969 einen Arbeitsausschuss für Atomfragen (AAA) gebildet, der bis zu seiner Auflösung 1988 den Auftrag hatte, sich auf kleinster Sparflamme mit der defensiven Verwendung der Atomenergie für militärische Zwecke zu beschäftigen. Im Dezember 1987 wollte SP-Nationalrat Paul Rechsteiner vom CVP-Bundesrat und damaligen EMD-Vorsteher Arnold Koller wissen, «ob es die vom EMD geleitete verwaltungsinterne Arbeitsgruppe für Atomfragen heute noch gibt».215 Bundesrat Arnold Koller verschwieg damals in seiner Antwort, dass der AAA immer noch existierte und er behauptete, das Atomwaffenprogramm der Schweiz gehöre längst der Vergangenheit an. Doch auch im Jahr 1987 beschäftigte sich der AAA noch mit der Beschaffung von Atomwaffen. In einem Sitzungsprotokoll des AAA von 1987 stand: «Einmal mehr wurde vorgeschlagen, diesmal von der GRD [Gruppe für Rüstungsdienste] Nuklearwaffen ‹schlüsselfertig› im Ausland zu kaufen, weil so der lange und grosse Entwicklungsaufwand vermieden werden könnte.»216 Am 1. November 1988 zog Bundesrat Arnold Koller einen endgültigen Schlussstrich unter das Thema und löste den AAA auf; damit verabschiedete sich die Schweiz kurz vor dem Ende des Kalten Kriegs offiziell vom Status als atomare Schwellenmacht.

Die Schweizer Atombombe war bis zum Ende des Kalten Kriegs nichts anderes als ein Papiertiger, der nur in den Köpfen einiger weniger Militärs existierte. Die zahlreichen Studien und Vorarbeiten, die über all die Jahre und Jahrzehnte des Kalten Kriegs betrieben wurden, waren nie über das Stadium der «theoretischen Möglichkeit» hinausgekommen. Das fehlende Uran, die technologische Rückständigkeit, der Mangel an geeigneten Wissenschaftlern und die begrenzten finanziellen Ressourcen verunmöglichten den Traum einer eigenen Atombombe. Die USA hatten das Schweizer Atombombenprogramm früh unterlaufen, indem sie die Lieferung von Uran auf die zivile Nutzung beschränkten und die Entwicklung eines eigenen Schweizer Natururanreaktors, der für die Produktion von Plutonium hätte genutzt werden können, erfolgreich verhinderten. Dies gelang ihnen durch den Verkauf eigener Leichtwasserreaktoren zu Dumpingpreisen, die für die Schweizer Elektrizitätswirtschaft lukrativ waren, weshalb die Schweiz früh auf die teure, unrentable und risikobehaftete Eigenentwicklung eines Schwerwasserreaktors verzichtete.

Apokalyptische Visionen in Literatur und Kunst

Die Angst vor der Atombombe brachte während des Kalten Kriegs in der Literatur und Kunst, aber auch in Comics und Filmen weltweit zahlreiche apokalyptische Visionen hervor. Der Horror des nuklearen Infernos inspirierte insbesondere die Science-Fiction-Literatur und den Horrorfilm, in denen jeweils durch radioaktive Strahlen veränderte Menschen mit gigantischen Mutationen oder monströse Tiere die Hauptrolle spielten.217 Der Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki war ein enormer Schock, der nach 1945 eine ganze Epoche prägte. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den kollektiven Ängsten vor einem Atomkrieg führte während des Kalten Kriegs auch in der Schweizer Literatur und Kunst zu einer ganzen Reihe visionärer Kunstwerke und aussergewöhnlicher literarischer Fantasien.

Der Schriftsteller Franz Fassbind schrieb unmittelbar nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki unter dem Titel Atom Bombe ein «gesprochenes Oratorium», das am 27. Oktober 1945 in der Tonhalle Zürich uraufgeführt wurde. Die Atombombe tritt darin als entfesselte Materie auf. Sie erscheint als ein schwarz gekleideter, eleganter Mann, während der Geist «schwach, schmal, hager, kränklich, arm und zerlaust» ist. In einem Fussballspiel ohne Schiedsrichter soll die Auseinandersetzung zwischen der Materie und dem Geist entschieden werden. Dazu kommt es allerdings nicht, stattdessen beschwört eine Stimme aus dem Hintergrund der Bühne die Materie, sich im Namen Jesus Christus in den Dienst der Menschheit zu stellen. Beim Lobpreis Gottes, mit dem das Oratorium schliesst, werden die Atome, die Atomkerne und die Kettenreaktionen dazu aufgerufen, Gott den Herrn zu loben und zu preisen.

Denis de Rougemont, der Neuenburger Philosoph und Vorkämpfer der europäischen Integration, schrieb unmittelbar nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Herbst 1945 während eines Aufenthalts in der US-amerikanischen Universitätsstadt Princeton seine Lettres sur la bombe atomique. In seinen Briefen beschrieb er die Erschütterungen in der US-amerikanischen Gesellschaft als Folge der beiden Atombombenexplosionen unmittelbar nach dem Ende des Kriegs. Mit der Atombombe sei ein neues Zeitalter angebrochen, das die herkömmliche Kriegsführung obsolet gemacht habe. Ein Schlag genüge, um den Gegner vollständig zu zerstören. Eine Verteidigung gegen die Atombombe sei unmöglich. Die Verbreitung der Atomwaffen könne nicht verhindert werden, in wenigen Monaten würden auch die Russen, die Engländer und womöglich auch andere Länder über das Geheimnis der Atombombe verfügen. Ein weltweiter Atomkrieg würde jedoch das Ende der Menschheit bedeuten. Am 16. Oktober 1945 schrieb er: «Nehmen wir an, ein kleines Land – sagen wir die Schweiz – stelle ein Dutzend Atombomben her. Das ist nicht etwa eine Geldfrage, wie man allgemein annimmt – die grossen Ausgaben hat Amerika in der Forschungsperiode getragen –, sondern lediglich eine Frage der technischen Ausrüstung und der Findigkeit, und Sie wissen, dass die Schweiz beides besitzt. Tatsächlich sind ja auch die Arbeiten von Einstein an dem Polytechnikum von Zürich entstanden. Nehmen wir nun an, dieses kleine Land schickt, um sich aus irgendeiner Klemme zu ziehen, zwei oder drei Atombomben nach New York. (Ich nehme absichtlich den unwahrscheinlichsten Fall als Beispiel, damit man darin nicht ich weiss nicht was für eine Anspielung auf allzu wirkliche Verhältnisse erblicke.) Amerika zweifelt nicht einen Augenblick daran, dass die Geschosse aus Russland kommen. Es ist zu spät, diplomatische Noten auszutauschen und voreinander die Zylinderhüte zu ziehen. Und Moskau und Kiew liegen innerhalb drei Stunden in Trümmern. Die Russen antworten mit einem Angriff auf Detroit und Saint Louis und zerstören London als reine Vorsichtsmassregel. Und so weiter! Der wissenschaftliche Ausdruck hiefür ist: Kettenreaktion. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden ist das Abendland gewesen.»218 Ein apokalyptischer Atomkrieg könne letztlich nur verhindert werden, indem eine Weltregierung gebildet werde. «Ich behaupte, dass uns die Atombombe auf zweierlei Art und Weise von ihr erlösen kann: entweder, indem sie alles in die Luft sprengt, oder indem sie die Menschen binnen kurzem zwingt, sich über die Grenzen der Nationen hinaus zusammenzuschliessen.»219

Unter dem Eindruck der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki schrieb Max Frisch das Theaterstück Die Chinesische Mauer, das am 10. Oktober 1946 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Das Stück spielt zur Zeit des Baus der Chinesischen Mauer. Im Zentrum steht jedoch der «Heutige», ein Intellektueller des 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit historischen und literarischen Figuren aus verschiedenen Epochen. Der Mensch aus der Gegenwart lehnt die damalige Art, Geschichte durch Kriege zu machen, ab. Die Epoche der Feldherren sei vorbei, wenn die Menschheit überleben wolle. «Die Sintflut ist herstellbar. Sie brauchen nur noch den Befehl zu geben, Exzellenz. Das heisst: Wir stehen vor der Wahl, ob es eine Menschheit geben soll oder nicht. Wer aber, Exzellenz, hat diese Wahl zu treffen? die Menschheit selbst oder – Sie? […] Wir können uns das Abenteuer der Alleinherrschaft nicht mehr leisten, Exzellenz, und zwar nirgends auf dieser Erde; das Risiko ist zu gross. Wer heutzutag auf einem Thron sitzt, hat die Menschheit in der Hand, ihre ganze Geschichte, angefangen bei Moses oder Buddha, inbegriffen die Akropolis, die Tempel der Maya, die Dome der Gotik, inbegriffen die ganze abendländische Philosophie, die Malerei der Spanier und Franzosen, die Musik der Deutschen, Shakespeare, inbegriffen dieses jugendliche Paar: Romeo und Julia. Und inbegriffen uns alle, unsere Kinder, unsere Kindeskinder. Eine einzige Laune von Ihm, der heutzutag auf einem Thron sitzt, ein Nervenzusammenbruch, eine Neurose, eine Stichflamme seines Grössenwahns, eine Ungeduld wegen schlechter Verdauung: Und alles ist hin.»220 Max Frisch war davon überzeugt, dass die nächste Katastrophe aufgrund der Bedrohung durch die Atombombe für die Menschheit nicht mehr zu überleben sei. 1951 schrieb er in sein Notizheft: «Der menschheitliche Selbstmord ist in Fabrikation gegeben; die lange bekannte Fratze des Fortschrittes […]. Staatsmänner preisen es als furchtbares Mittel, um den Weltfrieden zu erhalten. Man meint, kaum haben wir das Grauen des Kriegs erkannt, eine Satire zu lesen –.»221

In seiner Dankesrede Wir hoffen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels kam Max Frisch 1976 nochmals auf die Bedrohung der Menschheit durch die Atombombe zu sprechen und legte dabei dar, dass es vor allem die ideologischen Feindbilder des Kalten Kriegs seien, die den Weltfrieden bedrohen würden: «Unser Wunschdenken nach Hiroshima, die Meinung nämlich, dass die Atombombe nur noch die Wahl lasse zwischen Frieden oder Selbstmord der Menschheit und infolgedessen den Ewigen Frieden herbeigeführt habe, hat nicht lang gehalten: Krieg in Korea, Krieg im Nahen Osten. Begnügen wir uns mit der Hoffnung, dass es ohne Atombombe geht? Der Krieg in Vietnam, geführt und verloren von unsrer Schutzmacht, hat im Einsatz von Vernichtungswaffen den letzten Weltkrieg übertroffen – ohne Atombombe – und zudem wiederholt, was seit Nürnberg als Kriegsverbrechen definiert ist. Die neueste Hoffnung, man weiss, geht dahin, dass ein nuklearer Schlagabtausch (Krieg wird da ein romantisches Wort) zwar keineswegs auszuschliessen ist, dass er aber nicht das ganze Menschengeschlecht vernichte, sondern nur die Hälfte etwa, vielleicht sogar nur ein Drittel. Wer heute von Frieden redet und unter Frieden etwas anderes versteht als eine temporäre Waffenruhe bei unentwegter Pflege der Feindbilder wechselseitig, sodass die Abschreckungs-Strategie die einzig denkbare bleibt, spricht von einer Utopie, und dasselbe gilt für die Freiheit, ohne die (wie es an dieser Stelle schon dargelegt worden ist) kein Friede ist.»222

Die apokalyptische Angst vor einer alles zerstörenden Katastrophe durch die Atombombe regte auch Friedrich Dürrenmatt zu einer Vielzahl literarischer Texte und Bilder an. In seinem ersten, unveröffentlichten Theaterstück, Der Knopf, an dem er von 1941 bis 1943 schrieb, erfindet ein General eine Höllenmaschine, mit der sich per Knopfdruck die ganze Welt in die Luft sprengen lässt. Es ist eine furchterregende Teufelsmaschine von unermesslicher Zerstörungskraft, eine Vision der Atombombe, die zwei Jahre später, im August 1945, über Hiroshima und Nagasaki explodieren sollte. Der Erfinder der Maschine ist ein wirr gewordener General, der bereits alle seine Soldaten in den Tod geschickt hat und nun mit seiner Maschine selbst in die Hölle fahren will. Das Drama dreht sich um den Knopf, der die Bombe zur Explosion bringen wird. Die Auseinandersetzung darum nimmt gespenstische Formen an. Am Schluss setzt sich jemand aus Versehen auf den Knopf, die Maschine beginnt zu heulen, und alles fliegt in die Luft.

Als Reaktion auf den Koreakrieg, bei dem es Anfang der 1950er-Jahre beinahe zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion gekommen wäre, schrieb Dürrenmatt 1954 das Hörspiel Das Unternehmen der Wega. Das Science-Fiction-Hörspiel spielt im Jahr 2255 unmittelbar vor dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Eine Delegation der «freien verbündeten Staaten Europas und Amerikas» fliegt im Raumschiff Wega zum Planeten Venus. Hierher hat der Westen, aber auch Russland mit den Verbündeten Asien, Afrika und Australien, Dissidenten entsorgt. Die Delegation der Vereinigten Staaten will nun in der Strafkolonie die Armee für einen Wasserstoff- und Kobaltbombenangriff auf Asien und Russland rekrutieren. Als Aussenminister Wood verhandeln will, findet er jedoch keine Regierung vor, sondern nur in den Überlebenskampf verstrickte Einzelne, welche sich beharrlich weigern, wieder auf die Erde zurückzukehren. Am Ende lässt Wood die Bomben auf den Planeten Venus fallen, aus der Befürchtung heraus, die von der Erde verbannten Venus-Bewohner könnten sich mit den Russen verbünden.

 

Am 21. Februar 1962, wenige Wochen vor der Abstimmung am 1. April 1962 über die «Atominitiative 1» zum Verbot von Atomwaffen, wurde im Schauspielhaus Zürich Dürrenmatts Theaterstück Die Physiker uraufgeführt, in dem er die Frage nach der Verantwortung der Physiker bei der Erfindung der Atombombe thematisiert. Im Stück ist der geniale Physiker Johann Wilhelm Möbius, der als erster Mensch die einheitliche Feldtheorie entdeckt und damit die Weltformel gefunden hat, freiwillig ins Irrenhaus geflüchtet, da er sich vor den Folgen seiner Entdeckung fürchtet. «Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet, falls meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele.»223 Im Verwirrspiel um drei Physiker in einem Irrenhaus stellt sich am Ende heraus, dass die Irrenärztin tatsächlich verrückt geworden ist, da sie mit dem Wissen der Physiker die Weltherrschaft an sich reissen und so die Welt endgültig in ein Irrenhaus verwandeln will. In einer Anmerkung zum Stück schrieb der Autor: «Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen. Was alle angeht, können nur alle lösen.»224 1962, als der Kalte Krieg mit der Kubakrise seinen Höhepunkt erreichte, traf Dürrenmatt mit Die Physiker den Nerv der Zeit, und das Werk wurde zu einem der meistgespielten Theaterstücke weltweit.

Anfang der 1960er-Jahre drückte Dürrenmatt seine Skepsis gegenüber einer Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atombomben in einer Reihe sarkastischer Karikaturen aus. In der Karikatur Zorniger Schweizer Atombombe werfend (siehe Seite 343) droht ein grimmiger Schweizer, dessen Kopf sich in der Strichzeichnung zu spitzigen Bergen formt, wutschnaubend mit einer Bombe. In einer Collage zur Mirage-Affäre zeichnete er 1973 einen Wilhelm Tell auf eine Schweizer Landkarte, der eine Armbrust und eine Atombombe unter dem Arm hält und von einem Mirage-Flugzeug begleitet wird; sein Kopf ist mit einer Banknote collagiert, und in seinem Rucksack führt er das Konterfei des Nationaldichters Gottfried Keller mit (siehe Seite 346). In einem Gespräch mit dem Journalisten Alfred A. Häsler verglich Friedrich Dürrenmatt 1966 die Haltung der Armeeführung mit einem Wolf im Schafspelz und fügte hinzu: «Eine Abschreckungsstrategie, die, wenn es misslingt, den physischen Untergang des Schweizervolkes nach sich ziehen kann, halte ich für ein Verbrechen.»225 Im Essay Zur Dramaturgie der Schweiz, entstanden 1968 bis 1970, schrieb er: «In einem Atomkrieg liefe die Schweiz als Atommacht Gefahr, als potentieller Gegner en passant vernichtet zu werden, trotz ihrer Neutralitätserklärung, sicher ist sicher, ein Zwerg in der Rüstung eines Riesen wird als Riese behandelt, auch wenn er hundertmal beteuert, er sei ein friedlicher Zwerg geblieben; und in einem konventionellen Kriege könnte sie ihre Atomwaffen nicht anwenden, um nicht eine atomare Antwort zu provozieren.»226

«Eine Abschreckungsstrategie, die, wenn es misslingt, den physischen Untergang des Schweizervolkes nach sich ziehen kann, halte ich für ein Verbrechen.» Friedrich Dürrenmatt, 1966

In der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet (1978/79) beschrieb Dürrenmatt einen absurden apokalyptischen Kampf aller gegen alle in einem unterirdischen Labyrinth im Himalajagebirge. Ein verkrüppelter Schweizer Offizier berichtet von seinem Irrweg durch sein im Dritten Weltkrieg zerstörtes und atomar verseuchtes Land. Vom Unterengadin aus wandert er quer durch die Schweiz nach Bern, wo er, nach verschiedenen Gängen durch die Ruinen seiner Heimatstadt, seinen Geheimauftrag ausführt und den Anführer der pazifistischen Verwaltung erschiesst. Der Bundesrat hält sich in grotesker Übersteigerung der Réduit-Strategie des Zweiten Weltkriegs in einem geheimen Bunker unter dem Bergmassiv der Blümlisalp verschanzt und gibt – von der Aussenwelt durch eine Atomexplosion abgeschnitten und offensichtlich nicht informiert über die Situation in der Aussenwelt – über den Rundfunk absurde Durchhalteparolen von sich. Die Kontrolle über seine Armee hat er längst verloren, seine Soldaten kämpfen selbstständig in wirr wechselnden Bündnissen auf der ganzen Welt, sogar in den Bergen Tibets. Nach dem Auftragsmord begibt sich der Schweizer Offizier freiwillig als Söldner in den Himalaja, wo er am Ende des apokalyptischen Endzeitkampfes, bei dem Freund und Feind nicht mehr unterschieden werden können, in einem selbstzerstörerischen Amoklauf nur noch sich selbst als sein eigener Feind bekämpft. Dürrenmatts alptraumhafte Erzählung ist eine bitterböse Satire auf die «Atombomben-Träume» der Schweizer Armee und auf die Bunkermentalität des Kalten Kriegs, sie ist aber auch eine groteske Parabel über die Absurdität, die Aussichtlosigkeit und die Unkontrollierbarkeit eines weltweiten Atomkriegs.

Inspiriert von der neuen Friedensbewegung Anfang der 1980er-Jahre zeichnete Dürrenmatt die Karikatur Neue Denkweise gegen Atombombe, auf der es auf dem Planeten Erde von kleinen Menschen wimmelt, die mit den Transparenten «Neue Denkweise» und «Gegen Atombombe» protestieren, während eine riesige, grinsende Atombombe wie ein Damoklesschwert von oben auf sie herunterschaut. In einer zweiten Karikatur von 1985 steht eine überdimensional grosse, kugelförmige Atombombe auf einer Bergspitze über einer Stadt und droht auf die winzigen Menschen herunterzufallen, während ein Demonstrationszug die Bombe mühsam nach oben stemmt. Am 27. August 1985 nahm Dürrenmatt im Österreichischen Fernsehen an einer Diskussion über das «Star-Wars-Programm» teil, der Strategic Defense Initiative (SDI) des US-Präsidenten Ronald Reagan, mit der die Amerikaner der Bedrohung durch die Interkontinentalraketen der Sowjetunion entgegenwirken wollten. An der Diskussion beteiligte sich auch Edward Teller, der «Vater der amerikanischen Wasserstoffbombe», der als Berater von US-Präsident Ronald Reagan das amerikanische Raketenabwehrsystem verteidigte. Dürrenmatt erklärte in der Diskussion, seiner Meinung nach sei die Wasserstoffbombe aus einem Wahnsinn heraus entstanden, und er bezweifle – im Widerspruch zu Edward Teller – die rationale Beherrschbarkeit der Technik. In seinem Theaterstück Die Physiker seien die drei Physiker in ein Irrenhaus geflüchtet, heute käme ihm die Welt selbst wie ein Irrenhaus vor, da der atomare Wahnsinn mittlerweile zur Normalität geworden sei. Die Welt sei wie eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten sei. Ein kleiner Funke genüge, und alles fliege in die Luft. Zusammen mit Max Frisch nahm Dürrenmatt vom 14. bis 16. Februar 1987 am Moskauer Friedensforum «für eine atomfreie Welt, für ein Überleben der Menschheit» teil. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz sagte er am 26. Februar 1987 in einem Interview in der Weltwoche: «Der Atomkrieg ist ein Menschheits-Auschwitz, das ist nicht mehr Krieg.»227 Kurz vor seinem Tod, am 25. November 1990, hielt er noch eine Laudatio anlässlich der Verleihung der Otto-Hahn-Friedensmedaille der Deutschen Gesellschaft der Vereinten Nationen an Michail Gorbatschow. In seiner Rede würdigte er dessen historisches Verdienst, das atomare Wettrüsten des Kalten Kriegs beendet und damit den Westen von der Angst vor einer atomaren Katastrophe befreit zu haben.228

Der Zürcher Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann veröffentlichte 1962 den Roman Das Verhör des Harry Wind, in dem er seine Erfahrungen als Werbetexter beim Pressebüro Dr. Rudolf Farner verarbeitete. Mit der Hauptfigur Harry Wind, einem gerissenen PR-Unternehmer, Major in der Armee und Generalsekretär der Schweizer Wehrgesellschaft, setzte er dem mächtigen Werbekönig Rudolf Farner ein literarisches Denkmal. Nachdem Wind dem US-amerikanischen Rüstungskonzern Freedom eine Denkschrift über die Schweizer Armee mit Hinweisen auf die streng geheimen Pläne für den Bau einer Schweizer Atombombe zugespielt hat, erscheinen die Hinweise in der Prawda, dem zentralen Propagandaorgan der Sowjetunion. Harry Wind wird daraufhin von der Bundespolizei aufgrund des Verdachts auf Landesverrat verhaftet. In der Gefängniszelle wird er aufgefordert, seinen Lebenslauf aufzuschreiben. In den Geschichten des Harry Wind beschreibt Walter Matthias Diggelmann dabei auch, wie die öffentliche Meinung durch manipulierte Fakten und erfundene Feindbilder beeinflusst werden kann. Die Manipulation der Öffentlichkeit durch den geschickten Einsatz von Werbemitteln verbindet er mit den geheimen Plänen der Schweizer Armee zum Bau einer Atombombe. So sagt Harry Wind: «Wenn Oberstkorpskommandant Sturzenegger zum Beispiel sagt: ‹Die Atomwaffen bringen wir beim Volk nie durch. Denken Sie an die radioaktive Verseuchung, denken Sie an die kirchlichen und an die pazifistischen Kreise …› Wenn Sturzenegger so etwas zu mir sagt, dann antworte ich: ‹Geben Sie mir Zeit, ich will es versuchen.› Ich könnte aber auch sagen: ‹Die Atomwaffen, die bringen wir genauso gut herein wie Bananen.›»229 Harry Wind ist davon überzeugt, dass sich mit genug Geld auch die gewünschten politischen Meinungen fabrizieren lassen. Diggelmann nahm damit die berüchtigten Werbepraktiken von Rudolf Farner, der mit seinem Verein zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaft, von der Rüstungsindustrie finanziert, ab Ende 1956 die Propagandakampagne gegen die Atominitiativen dirigierte, kritisch unter die Lupe.

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