Atomfieber

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Die geheimen Pläne der Militärführung

1954 gaben die USA erstmals ihre Strategie der «massiven Vergeltung» bekannt. Jeder sowjetische Angriff auf Nato-Staaten in Europa, ob mit Atomwaffen oder ohne, sollte mit einem vernichtenden atomaren Gegenschlag beantwortet werden. Durch die Androhung massiver Vergeltung versuchten die USA eine weitere Expansion der Sowjetunion zu verhindern. Diese nukleare Strategie der Nato nahm enorm hohe Verluste der Zivilbevölkerung in Kauf. Europa hätte sich in einem Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in ein atomares Schlachtfeld verwandelt und wäre infolge der radioaktiven Verstrahlung zu einer nuklearen Wüste geworden.

Nebst den Atom- und Wasserstoffbomben, mit denen im Kriegsfall die amerikanischen und sowjetischen Städte bombardiert worden wären, wurden in den frühen 1950er-Jahren auch kleinere Atomwaffen (sogenannte baby bombs) für Artilleriegeschosse, Raketen und Lenkwaffen entwickelt. Der Einbezug dieser taktischen Atomwaffen in die Verteidigungspläne der Nato liess Mitte der 1950er-Jahre auch bei den Schweizer Offizieren den Ruf nach eigenen Atomwaffen lauter werden.90 Man ging davon aus, dass taktische Atomwaffen bald weltweit zum Standardrepertoire der Armeen gehören würden und die Verbreitung der Atombombe unaufhaltsam geworden war. Oberstdivisionär Ernst Uhlmann beispielsweise vertrat die Ansicht, dass sich «das Atomgeschoss […] zu einer normalen Waffe auf dem künftigen Schlachtfeld» entwickle.91 Ausserdem hatte man damals die illusionäre Vorstellung, dass ein begrenzter Atomkrieg mit taktischen Atomwaffen möglich sei. Durch diesen Glauben an die Kontrollierbarkeit verlor die Atombombe ihren schlechten Ruf als schreckliche Waffe von unfassbarer Zerstörungskraft.92

In den USA setzte ab 1946 eine Verherrlichung und Trivialisierung der Atombombe ein, in einer Mischung aus Banalität und Glorifizierung, wie sie dem American Way of Life inhärent zu sein scheint.93 Die Atombombe wurde zu einer Ikone der Popkultur und zu einem Symbol für die Grenzenlosigkeit der eigenen Macht. Friseure boten «Atom-Haarschnitte» an, Fast-Food-Ketten den «Uran-Burger», es fanden «Miss Atomic Bomb»-Wettbewerbe statt, und es entstand eine ganze Reihe bizarrer Atombombensongs.94 Ob in Werbesongs, Comics oder auf Kaugummipackungen, der Atompilz wurde zum Synonym für eine explosive Erotik und symbolisierte die eigene Potenz. Der Atombombentest des amerikanischen Militärs im Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean wurde als exotisches Medienspektakel inszeniert. Der französische Modeschöpfer Louis Réard wurde von den atomaren Explosionen derart angeregt, dass er seinen Entwurf für einen neuartigen Badeanzug «Bikini» nannte. Die Bombe, die kurz zuvor in Hiroshima und Nagasaki Hunderttausende Menschen getötet hatte, wurde nun zum Inbegriff des Sex-Appeal und damit zum neuesten Schrei am Badestrand.95 Die Schweiz stand nach dem Ende des Kriegs ebenfalls im Bann des American Way of Life, und die US-Propaganda begünstigte damals auch hier die Verharmlosung der Atombombe.

Die neue bipolare Weltordnung des Kalten Kriegs mit den beiden sich feindlich gegenüberstehenden Militärbündnissen erforderte von der Schweizer Armee eine neue Verteidigungsstrategie. Innerhalb des Schweizer Offizierskorps gab es damals zwei rivalisierende Gruppierungen. Auf der einen Seite standen die Anhänger der US-Doktrin der «Mobile Defence», die eine bewegliche, offensive und technologisch hochgerüstete Armee mit möglichst vielen Panzern, Flugzeugen und Atomwaffen wollten, und auf der anderen Seite die Anhänger einer defensiven, statischen Verteidigungsstrategie, der Doktrin der «Area Defence», die sich aufgrund der beschränkten militärischen und finanziellen Möglichkeiten der Schweiz als Kleinstaat für einen defensiven Abwehrkampf und für die statische Verteidigung von strategischen Stützpunkten und Stellungen aussprachen.

Die Anhänger der «Mobile Defence» standen in der Tradition von General Ulrich Wille, der im Ersten Weltkrieg den Feind nach preussischem Vorbild in einigen grossen Entscheidungsschlachten vernichtend schlagen wollte.96 Seine Schüler der zweiten und dritten Generation orientierten sich nun nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am Vorbild der USA. Ihre Militärstrategie zielte ebenfalls auf eine möglichst vollständige Vernichtung des Gegners. Die Unabhängigkeit der Schweiz konnte ihrer Ansicht nach nur durch eine technisch hochgerüstete, bewegliche Armee garantiert werden. Die Verwendung von Atomwaffen betrachteten sie dabei als eine notwendige Voraussetzung für die Verteidigung der Schweizer Neutralität. Die bewaffnete Neutralität wurde zum nationalen Mythos erklärt. Im Bericht des Eidgenössischen Militärdepartementes an den Bundesrat betreffend die Beschaffung von Atomwaffen für unsere Armee vom 31. Mai 1958 steht: «Die Neutralität kann sogar verlangen, dass unser Land sich Nuklearwaffen zulegt, wenn dies die einzige Möglichkeit darstellt, die Unversehrtheit unseres Gebietes wirkungsvoll zu verteidigen.»97

Zu den Verfechtern dieser Militärstrategie gehörten unter anderen Oberstkorpskommandant Hans Frick, der Chef der Ausbildung, Oberstdivisionär Ernst Uhlmann, der Chefredaktor der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift, Oberstdivisionär Georg Züblin, der Kommandant der 9. Gebirgsdivision, und Oberstdivisionär Etienne Primault, der Kommandant der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen. Die Anhänger der «Mobile Defence» träumten von einer «Grossmachtsarmee im Taschenformat», um sich im Kriegsfall auf Augenhöhe mit der Sowjetunion duellieren zu können. Bei einem Angriff der Sowjetunion wollte man es dem ideologischen Erzfeind «mit gleicher Münze» heimzahlen. Der Eintrittspreis sollte für die Sowjets so hoch sein, dass sie es gar nicht erst versuchten.98 In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre gehörte dieses kleine, aber einflussreiche Grüppchen zu den Hardlinern innerhalb des Generalstabs der Schweizer Armee.

Mit der Gründung des Vereins zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaften Ende Februar 1956 wurde die Propagierung dieser Ideen dem Zürcher Pressebüro Dr. Rudolf Farner, das einen eigenen Mitarbeiter, Gustav Däniker jun., dafür engagierte, übertragen.99 Rudolf Farner führte ab 1950 eine eigene Werbe- und Public-Relations-Agentur in Zürich. In der Schweiz popularisierte er in den 1950er-Jahren mit neuen Marketing- und Werbemethoden den American Way of Life. Er machte Werbung für Coca-Cola, Philipp Morris, Nestlé, Maggi, Marlboro oder die Barbie-Puppen. Er war aber nicht nur ein gradliniger Verfechter der freien Marktwirtschaft, sondern auch ein senkrechter Schweizer Patriot und Antikommunist. Der Journalist und Historiker Marc Tribelhorn schrieb über ihn: «Rudolf Farners Weltbild ist wie das seiner Gegner: schwarz-weiss. Grautöne mag er nicht, schliesslich droht der Kalte Krieg beständig zu einem heissen zu werden. Die Angst, von der Freiheit in die Knechtschaft zu geraten, treibt ihn an.»100 Und weiter: «Dennoch gleicht der mächtige Meinungsmacher einem Chamäleon: Er ist zugleich Pionier und Konservativer, Betonkopf und Visionär, weltgewandter Turbokapitalist und Heimatschützer, Feingeist und Haudrauf.»101 Ab Mitte der 1950er-Jahre stellte Farner sein innovatives Propagandainstrumentarium in den Dienst der Rüstungsindustrie und betrieb politische Lobbyarbeit für die Anhänger der «Mobile Defence» in der Schweizer Armee.

Der prominenteste Wortführer der defensiven Verteidigungsstrategie war Oberstkorpskommandant Alfred Ernst. Nachdem sein publizistisches Sprachrohr, die Monatszeitung Volk und Armee, Anfang der 1950er-Jahre eingegangen war, stand ihm und seinen Anhängern für die Propagierung ihrer Ideen nur noch die politische Tagespresse zur Verfügung.102 Die Verfechter einer defensiven Verteidigungsstrategie gingen von der technologischen und zahlenmässigen Überlegenheit eines potenziellen Gegners aus und beschränkten sich in ihrem defensiven Abwehrkampf auf einen lang andauernden, hartnäckigen und zähen Widerstand. Im Rüstungswettlauf mit den Grossmächten mitzuhalten, erwies sich für die Schweiz als Kleinstaat aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Ressourcen schon früh als ein realitätsferner Wunsch.

Mitte der 1950er-Jahre setzten sich die Anhänger der «Mobile Defence» in diesem militärstrategischen Richtungsstreit vorerst durch. Unterstützung bekamen sie vom Waadtländer FDP-Bundesrat Paul Chaudet, der seit 1955 Chef des EMD war. Nach der Suezkrise und dem Ungarn-Aufstand 1956 wurde Bundesrat Paul Chaudet zum energischen Fürsprecher der atomaren Bewaffnung. Bereits 1956 machte das EMD eine erste Schätzung, was Atombomben kosten würden. Für zwölf Bomben des Typs «Hiroshima», die innerhalb von sechs Jahren erhältlich wären, wurde mit 600 Millionen Franken gerechnet.

1956 fand in der Schweiz eine Übung zur Landesverteidigung statt, an der neben Armeeangehörigen erstmals auch Zivilisten, Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler teilnahmen. Sie war ein taktisches «Kriegsspiel», das von einem «realen» Bedrohungsszenario ausging. 1956 wurde ein globaler Atomkrieg zwischen Ost und West als hauptsächliche Bedrohung wahrgenommen, wobei die kriegerische Aggression gegenüber der Schweiz selbstverständlich vom Ostblock ausging. In der Übung wurde der ideologische Kampf zwischen den Anhängern der «Area Defence» und der «Mobile Defence» ausgetragen, indem das Bedrohungsszenario darauf abzielte, die Anhänger der Doktrin der «Mobile Defence» zu stärken. In einem Szenario verfolgte die Armee eine defensive Strategie der statischen Verteidigung mit Panzern und Flugzeugen, im anderen konnte sie auf eine voll motorisierte Feldarmee, eine beweglichere, stärkere Panzerabwehr und eine grössere Anzahl von Flugzeugen zurückgreifen und war damit insgesamt viel schlagkräftiger. Die Übung diente offiziell der Landesverteidigung, war aber auch politische Propaganda, um die Kosten der militärischen Aufrüstung mit Panzern, Flugzeugen und Atomwaffen zu legitimieren.103

 

Generalstabschef Louis de Montmollin schuf im März 1957 eine Studienkommission für die allfällige Beschaffung eigener Atomwaffen, die bis im Spätsommer 1957 die geheime Studie Möglichkeiten der Fabrikation von Atomwaffen in der Schweiz erarbeitete. In der Sitzung der LVK vom 29. November 1957 kamen die geheimen Pläne des Militärs über den Einsatz von Atomwaffen dann offen zur Sprache. Oberstdivisionär Etienne Primault, der Kommandant der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen, sagte an der Sitzung: «Wenn man ein Flz. [Flugzeug] hätte wie beispielsweise den Mirage, der fähig sei, mit Atombomben bis nach Moskau zu fliegen, so könnte man sich einen Einsatz auch im Feindesland vorstellen. Der Gegner würde dann genau wissen, dass er nicht erst bombardiert werde, wenn er den Rhein überschreite, sondern dass auch Bomben in seinem eigenen Land abgeworfen würden.»104 Diese hochfliegenden «Atombombenträume» einiger führender Köpfe im Generalstab der Schweizer Armee waren ein Ausdruck der antikommunistischen Hysterie, die in der Schweiz nach der Suezkrise und dem Ungarn-Aufstand 1956 ihren Höhepunkt erreichte.

«Es gebe aber Fälle, in denen wir unbedingt Atomwaffen einsetzen müssten, selbst auf die Gefahr hin, dass die Zivilbevölkerung einen grossen Schaden erleiden würde. […] Man könnte unmöglich darauf verzichten, nur aus Rücksichtnahme auf die Bevölkerung.» Generalstabschef Louis de Montmollin, 1957

Einer der heikelsten Punkte in diesen militärstrategischen Planspielen war das Problem eines Einsatzes von Atomwaffen auf dem eigenen Territorium. In der Diskussion vom 29. November 1957 sagte Generalstabschef Louis de Montmollin dazu: «Es gebe aber Fälle, in denen wir unbedingt Atomwaffen einsetzen müssten, selbst auf die Gefahr hin, dass die Zivilbevölkerung einen grossen Schaden erleiden würde. […] Man könnte unmöglich darauf verzichten, nur aus Rücksichtnahme auf die Bevölkerung.»105 Sein Nachfolger, Oberstdivisionär Jakob Annasohn, der 1958 Generalstabschef wurde, pflichtete den haarsträubenden Ansichten seines damaligen Vorgesetzten bei. Er meinte sogar, es werde «Sache des Führers sein zu entscheiden, ob er in eigene bewohnte Gebiete schiessen lassen wolle oder nicht».106 In diesen militärischen Allmachtsfantasien der Schweizer Offiziere paarten sich Zynismus und Wahnsinn.107

Die Atombombe wurde damals zum Nonplusultra der modernen Landesverteidigung emporstilisiert.108 Ein Militärpublizist namens P. Brunner forderte daher am 5. März 1958 in der Gazette de Lausanne auch Bergsilos für Interkontinentalraketen: «Das einzige Mittel, um unserem Land einen Krieg zu ersparen, besteht darin, selbst Atombomben, ja sogar Interkontinentalraketen zu besitzen. […] Ziehen wir also Vorteile aus unserer geographischen Lage: bewaffnen wir unsere Berge mit den modernsten und mörderischsten Kriegsgeräten, um unsere Gegner zu entmutigen; das ist im übrigen nichts anderes als die modernisierte Formel von Morgarten.»109 In diesem völlig anachronistischen Vergleich, mit dem auf den Heldenmythos der nationalen Befreiungstradition zurückgegriffen wurde, war die Atombombe quasi die Steigerung der Hellebarde.110

Der rabiate Antikommunismus, der die Schweiz nach dem Ungarn-Aufstand 1956 ergriffen hatte, löste bei einigen Mitgliedern der Schweizer Armeeführung einen gefährlichen Grössenwahn aus. Nach dem antikommunistischen Schlagwort «Lieber tot als rot» hätten sie einen irrationalen, kollektiven Suizid in Kauf genommen, um im Kriegsfall einen atomaren Gegenschlag gegen die Sowjetunion führen zu können. Der Einsatz von Atomwaffen auf eigenem Territorium hätte in der kleinräumigen und dicht besiedelten Schweiz für die eigene Bevölkerung verheerende Folgen gehabt. Einige ranghohe Angehörige der Schweizer Armee waren bereit, im Kriegsfall die eigene Bevölkerung zu opfern, um die Sowjetunion mit Atomwaffen zu vernichten. Sie hatten ihre atomaren Hirngespinste aber nicht alleine im stillen Kämmerlein in einem fieberhaften, dunklen Wahn zusammenfantasiert, sondern vertraten ihre abstrusen, grössenwahnsinnigen Pläne ganz unverblümt in der Öffentlichkeit und bekamen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre dafür auch noch Rückendeckung vom Bundesrat.

Am 11. Juli 1958 veröffentlichte der Bundesrat eine Erklärung, in der er erstmals eine eigene Bewaffnung mit Atombomben in aller Deutlichkeit befürwortete. Die Erklärung war eine Reaktion auf die Anti-Atom-Bewegung, die sich im Frühjahr 1958 in der Schweiz in Opposition zu den immer lauter werdenden Forderungen der Offiziere nach eigenen Atomwaffen zu formieren begann. Bundesrat Philipp Etter, Chef des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), wollte dieser «defätistischen Propaganda» nicht mehr länger tatenlos zusehen. Daraufhin verfasste Bundesrat Paul Chaudet die besagte Pressemitteilung, die am 11. Juli 1958 in allen Schweizer Zeitungen veröffentlicht wurde. Darin heisst es: «In Übereinstimmung mit unserer jahrhundertealten Tradition der Wehrhaftigkeit ist der Bundesrat deshalb der Ansicht, dass der Armee zur Bewahrung unserer Unabhängigkeit und zum Schutze unserer Neutralität die wirksamsten Waffen gegeben werden müssen. Dazu gehören die Atomwaffen.»111

Die Erklärung löste heftige internationale Reaktionen aus. Die USA machten darauf aufmerksam, dass es der Schweiz kaum gelingen werde, Atomwaffen im Ausland zu kaufen. Der britische Botschafter William H. Montagu-Pollock hingegen wertete die Erklärung als ein offenes Bekenntnis zum Westen.112 Der Schweizer Botschafter in Moskau, Alfred Zehnder, berichtete von einem Zusammentreffen mit dem stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Anastas Mikojan, der zornig die Ansicht vertreten habe, die vom Bundesrat beschlossene Ausrüstung der Schweizer Armee mit Atomwaffen richte sich allein gegen die Sowjetunion.113 Ungefähr zwei Wochen später verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS über Radio Moskau einen Kommentar, der die Schweizer Neutralitätspolitik infrage stellte und die nukleare Aufrüstung als eine Gefahr für das friedliebende Schweizer Volk wertete. Am 24. September kam es in New York zu einem Treffen des Schweizer Diplomaten Felix Schnyder mit dem sowjetischen Aussenminister Andrej Gromyko, der dabei die Auffassung vertrat, die Schweiz verdanke die Anerkennung ihrer Sicherheit und Neutralität nur ihrer Politik und nicht ihrer schwachen Armee. Mit einer atomaren Aufrüstung würde sie sich hingegen selbst in Gefahr bringen.114 Die Sowjetunion betrachtete die Neutralität seither als ein Deckmantel für die geheime militärische Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato. Dass die Schweiz nach dem diplomatischen Eklat stärker in den Fokus sowjetischer Angriffspläne geriet, ist durch keine historischen Quellen belegt, scheint aber durchaus plausibel zu sein. Ab 1963 rechnete die Sowjetunion die Schweiz jedenfalls zum Kampfgebiet der Nato. Der grassierende Antikommunismus in der Schweiz in den 1950er-Jahren machte deutlich, dass die Neutralität nur eine politische Taktik war. In sämtlichen militärischen Plänen, Übungen und Manövern der Schweizer Armee wurde der Feind während des Kalten Kriegs stets mit der Sowjetunion identifiziert.115

Die Erklärung vom 11. Juli 1958 war durchaus ernst gemeint. Ohne jegliche Diskussion erteilte der Bundesrat am 23. Dezember 1958 in einem geheimen Beschluss dem EMD den Auftrag, die Abklärungen zur Beschaffung von Atomwaffen einzuleiten. Obwohl die Armeeführung nun freie Hand hatte, ihre Atombombenpläne weiterzuverfolgen, kam die konkrete Umsetzung in den folgenden Jahren nur sehr schleppend voran. Nachdem Frankreich am 13. Februar 1960 seine erste Atombombe erfolgreich getestet hatte, wandte sich Generalstabschef Jakob Annasohn an Bundesrat Paul Chaudet, um die Beschaffung von Atomwaffen im Ausland abzuklären. Am 14. März 1960 schlug er vor, den Kauf von Atomwaffen aus den USA, der Sowjetunion, Grossbritannien und Frankreich zu prüfen und eine mögliche Teilnahme am schwedischen Atomwaffenprogramm abzuklären.116 Bundesrat Paul Chaudet wandte sich in einem geheimen Schreiben am 21. März 1960 an Bundesrat Max Petitpierre, den Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD). In seinem Schreiben meinte er, nachdem nun auch Frankreich zur Atommacht geworden sei und das kommunistische China voraussichtlich in zwei bis drei Jahren ebenfalls eigene Atombomben besitzen würde, sei es an der Zeit, nun endlich mit den Abklärungen im Ausland zu beginnen. Bundesrat Petitpierre hielt den Zeitpunkt allerdings für denkbar ungeeignet, da die Schweiz damit die geplanten Abrüstungskonferenzen in Genf sabotieren würde.

Der Gesamtbundesrat beschloss am 5. April 1960, dass die vorgesehenen Abklärungen im Ausland auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden sollten. Die «zur Beschaffung von Atomwaffen vorgesehenen Abklärungen bei ausländischen Stellen dürfen erst auf Grund eines späteren Bundesbeschlusses vorgenommen werden».117 Mit diesem Verbot von Auslandskontakten zur Beschaffung von Atomwaffen hatte der Bundesrat die atomaren Ambitionen gewisser Offiziere des Generalstabs erstmals gebremst.118 Nachdem die Absichtserklärung vom 11. Juli 1958 vonseiten der Sowjetunion dermassen heftige Reaktionen ausgelöst hatte, nahm der Bundesrat im Verlauf der 1960er-Jahre immer mehr eine zögerliche Haltung ein. Die Armeeführung führte derweil ihre Studien weiter und hielt unbeirrt an ihren Atombombenplänen fest.

Im April 1963 wurde eine Studiengruppe damit beauftragt, die Möglichkeit einer eigenen Atomwaffenproduktion zu untersuchen. Die Physiker Paul Schmid, Walter Winkler und Urs Hochstrasser, der Delegierte des Bundesrates für Atomenergie, legten der LVK am 15. November 1963 den Bericht Möglichkeiten einer eigenen Atomwaffen-Produktion vor. Sie hielten eine Produktion von Atomwaffen durch hoch angereichertes Uran oder Plutonium für möglich, wobei die Herstellung auf der Basis von hoch angereichertem Uran als günstiger angesehen wurde. Dafür rechneten sie mit 750 Millionen Franken für 50 Fliegerbomben zu 60 bis 100 Kilotonnen und 50 Artilleriegeschosse zu 5 Kilotonnen innerhalb von 13 Jahren. Der Bericht schlug eine intensivere Suche nach Uran, die Entwicklung von Uranzentrifugen, Extraktionsverfahren für Plutonium, eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Ausland und weitere waffentechnische Grundlagenforschungen vor. Am 26. Februar 1964 forderte der Bundesrat vom EMD eine Studie an, die klären sollte, ob in der Schweiz Atombombentests ohne «eine Gefährdung des menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Lebens» möglich wären. Unterirdische Atombombentests, die unbemerkt vom Ausland im Innern der Schweizer Alpen durchgeführt werden sollten, hielt die Armeeführung damals für möglich.

Seit Mitte der 1950er-Jahre bemühte sich die Schweizer Armee zudem um eine Zusammenarbeit mit Schweden bei der Produktion von Atombomben. Gegenüber der Schweiz hatte Schweden jedoch den Vorteil, dass es eigenes Uranerz besass. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre verliefen die Bemühungen für eine Zusammenarbeit deshalb im Sand. Schweden verlor an einer Zusammenarbeit mit der Schweiz schnell das Interesse, da die Schweiz sowohl in der Reaktortechnologie als auch bei der Entwicklung von Atomwaffen hinterherhinkte. Die Kooperation fiel endgültig dahin, als Schweden 1966 sein eigenes Atombombenprogramm aufgab und 1968 den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete.119