Grado abseits der Pfade

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Und gehen

Gehen immerzu

Wohin? Keine Ahnung.

Das Leben

ist eine Brandung

sie rollt heftiger

oder schlicht.

Gehen immer …

Das Morgen

erwarte nicht.

Giovanni Marchesan „Stiata“



Via Gradenigo 1912

Ich weiß nicht, ob die alten

Erinnerungen

nur mit den Freuden

der Jugendzeit verbunden sind

oder ob es auch eine andere Lebensart gab, die zählte.*

Rino ist der sympathische Besitzer einer der fünf Gradeser Buchhandlungen, von denen nur zwei diese Bezeichnung verdienen, weil sie nicht außer Büchern auch Tabakwaren und Taucherbrillen anbieten. Rino verkauft Zeitungen, Postkarten (jeden Morgen rollt er die Ständer nach draußen auf die Viale Europa Unita**, jeden Abend holt er sie wieder herein) und Bücher. Italienische Bücher, ausschließlich, und damit hält er wirklich die Stellung als traditionellste italienische Buchhandlung des Orts, die bis vor Kurzem ausgerechnet den Namen „Cartolibreria moderna“ trug, der in altmodischen Lettern, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger lesbar, über der Auslage mit den interessantesten Neuerscheinungen der letzten drei bis dreihundert Jahre prangte. Wie die Schrift über seinem Geschäft verwitterte auch Rino von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr, seine hagere Gestalt zog sich in sich zusammen, eine Gestalt, die mich in ihrem Ernst, ihrer Nervosität, ihrer Selbstversunkenheit und einer gewissen Komik, die all diesen Elementen entspringt, immer an Italo Svevo und besonders an seinen Zeno Cosini hat denken lassen.


Eine Fremdsprache spricht man nicht immer gleich gut oder schlecht. Es hängt auch vom Gegenüber ab: wie viel Vertrauen er deinem Können gibt oder wie wenig. Rino gehört von allen Italienern, mit denen ich gesprochen habe, zu denen, unter deren strengem Blick meine Italienischpotenz zusammenschrumpft wie ein Schwellkörper bei Minusgraden. So enthusiastisch und strahlend er mich begrüßt, öffne ich den Mund, senkt er den Kopf, macht die Lippen schmal, legt die Stirn in Falten und blickt mich aus seinen dunklen, belesenen Augen so forschend, so durchdringend an, dass mir der Schweiß aufsteigt und mir Wörter nicht einfallen, die ich in der zweiten Lektion gelernt habe – bis sein asketisches Gesicht einen schon fast traurigen Ausdruck angenommen hat. Jahrelang habe ich deshalb einen Bogen um seine Buchhandlung gemacht! Severo heißt „streng“, und Severino (dieser Name steht hinter der verharmlosenden Abkürzung Rino) würde „der ein wenig Strenge“ bedeuten – „Strengchen“ vielleicht, österreichisch „Strengerl“.

Rino ist, obwohl er keine deutschen Bücher verkauft, mit einer Deutschen verheiratet, einer Schwäbin (mit entsprechend markantem Akzent), aus einem Dorf nahe Stuttgart, dem einst, höre, einer der Patriarchen von Aquileia entstammte. Ob dieser Umstand, dass Rino also damit in eine wenn auch sehr entfernte Verwandtschaft zur großen Geschichte Grados und der noch größeren Aquileias getreten ist, zu seinem Verlangen, die Schwäbin zu heiraten, beigetragen hat, wird sein Geheimnis bleiben.

Nun hat Rino heute einen Freund, Giovanni, eingeladen, um mit mir ein Gespräch über Grado, dessen Geschichte(n) und Traditionen zu führen. Eigentlich hatte ich ihn nur gebeten, mir ein wenig über seine Stadt zu erzählen, aber Rino, das hätte ich wissen müssen, nimmt Dinge, um die man ihn bittet, ernst. Der Vagheit seiner Zeitangabe und meiner profunden Kenntnis des italienischen Umgangs mit dem Begriff „Pünktlichkeit“ folgend, erscheine ich statt um „halb fünf, fünf“ um zehn vor halb sechs, was Rino veranlasst, zu einem auf der anderen Seite des Zeitungstresens stehenden Kunden „Eccolo qua!“ zu rufen. Aber es ist kein Kunde, sondern Giovanni, kleiner als Rino, gedrungen, kahlhäuptig, der seit 50 Minuten auf mich gewartet hat, im Mantel, und mir scheu, freundlich, stolz auch, die Hand gibt. Er ist als Experte geladen, als Grado-Experte, erregt in dieser Rolle und geschmeichelt, und nun stehen wir da, Rino hinter seinen Zeitungen mit leicht fieberndem Blick, Giovanni, mich erwartungsvoll anstrahlend, und ich, der ich vorschlagen will, ins nächste Café zu gehen, den Satz aber mit einem russischen Wort beginne und verstumme. Welche Fragen ich hätte, fragt Rino sachlich, wie in einem Auskunftsbüro, und da verstehe ich: Wir bleiben hier stehen. Italiener brauchen zur Kommunikation nicht notwendigerweise ein äußeres Gerüst, an dem man sich festhalten kann – ein Kaffeehaus, ein Weinglas, eine Teetasse –, das Gespräch ist das Entscheidende, und es ist hier vorgesehen, im Stehen, im Wintermantel. Den ich gleich, bevor ich zu schwitzen anfange (im Geschäft ist es warm), ausziehe, den Schal, die Mütze, die Tasche, alles lege ich ab, eine zutiefst mitteleuropäische Handlungsweise, der Skandinavier, auch der Russe wäre zuerst ins Gespräch gegangen und hätte dann erst, später vielleicht, äußeren Bedürfnissen nachgegeben, nur ich antizipiere, rational, dass sich das Geschehen auf eine halbe Stunde mindestens ausdehnen wird, und bedaure, nach der Siesta in meiner gegenwärtigen Bleibe in der Riva Dandolo zu wenig Wasser getrunken zu haben, mich auf dem Weg in eine Gastwirtschaft wähnend. Nun, stammle ich, es sei schwer, konkrete Fragen zu stellen, da nimmt mir Giovanni in voller Zustimmung das Wort aus dem Mund und beginnt einen kleinen Vortrag, den er sichtlich vorbereitet, möglicherweise gar zu Hause geübt hat, der trockene Mund verrät ihn.

Leider – und da fällt er, nicht ohne sich der dramatischen Wirkung bewusst zu sein, mit der Tür ins Haus –, leider müsse man sagen, dass alles zugrunde gegangen sei. Alles verloren, nichts mehr da. – „Warum?“ – „Aah …“ (große Geste). Den Anfang genommen habe es mit dem Bau der großen Autobrücke 1936 („millenovecentotrentasei“, Rino sekundiert mit der Jahreszahl, feierlich wie er auch das Datum zelebrieren würde, als Aquileia von den Hunnen zerstört wurde). Die Faschisten hätten sie gebaut, fährt Giovanni fort. Vollendet sei es mit der Brücke auf der Landstraße nach Monfalcone geworden („millenovecentosessantasei“, fällt Rino verlässlich ein, 1966), nun war Grado endgültig keine Insel mehr. Auf diese Meldung der einschneidenden Katastrophe vor 80 bzw. 50 Jahren folgt eine Schweigepause, in der ich ratlos vom einen zum andern schaue. Ich merke: Ich bin an zwei Ultratraditionalisten geraten. Was genau verloren sei, wage ich mich vor. – Die Fischerei, zum Beispiel. – Die ganze?! – Die ganze. – Nun, nicht die ganze, widerspricht Rino, nein, gesteht Giovanni, die Fischerei, wie er sie gekannt hat. Sein Großvater sei Fischer gewesen, er selbst in seiner Jugend auch. Es folgt eine lange, akribische Erklärung der verschiedenen Fangmethoden, der modernen vor allem, und ihrer schädlichen Auswirkung auf Meeresgrund und Fischpopulation. Da wird von beiden stark gestisch gearbeitet, mit vier Armen die ganze Buchhandlung durchgepflügt, um die Verderblichkeit der Schleppnetze und die Staubsaugerwirkung der turbosoffianti zu demonstrieren. Dazwischen kommen Leute und kaufen ihre Zeitung, sie werden schnell abgefertigt, sie stören heute. Verstehe ich ein Wort nicht, ein besonders wichtiges, ohne das die Geschichte nicht weiterkommt, stiva etwa, holt Rino mit einer Leiter die große Enzyklopädie herunter, sie ist noch originalverpackt, er müht sich mit der Schachtel, Giovanni tritt unruhig von einem Bein aufs andere, die Erzählung ist ins Stocken geraten, immer wiederholt er das eine Wort, das entscheidende, stiva, stiva!, als könnte ich es durch oftmaliges Hören endlich verstehen; als Rino das Buch öffnet, habe ich es in meinem Handylexikon gefunden, „Laderaum“, sage ich, doch Giovanni ist skeptisch, auch Rino geht nicht darauf ein und sucht weiter, da, er hat es und hält es mit dem Finger fest: „La - de - ra - ùm!“ – Ja, Laderaum. Manche Wörter finde ich nicht selbst, wir sind ja in einem Fachgespräch, Rino assistiert mit dem Lexikon.


Irgendwie kommen wir dann von der Fischerei auf die allgemeine Moral. Verfall auf Verfall. Der Zusammenhalt der Familien, alles komplett weg. Die Tür öffnet sich und der Pfarrer tritt ein, wie auf Stichwort, gibt mir freundlich die Hand. Haben sie ihn dazubestellt? Den Experten in Moralfragen? Aber er sucht etwas, während Giovanni gedämpft, auf einmal wie in einer Kirche, weiterspricht, fingert das Oberhaupt der Basilica Sant’Eufemia di Grado, als der er mir vorgestellt wurde (ich kenne ihn bereits aus seinen Messen), nervös an den bunten Magazinen an der Wand herum, er fühlt sich unwohl, alle beobachten ihn respektvoll, nach Kurzem gibt er mir wieder freundlich lächelnd die Hand, verabschiedet sich und geht, ohne etwas gekauft zu haben.

Natürlich, und nun kommt man auf einen dunklen Aspekt der Vergangenheit Grados zu sprechen, habe das enge Zusammenleben der Familien – Giovanni zeigt mir Photos von vor nicht einmal hundert Jahren, auf denen teils barfüßige Menschen zu zehnt in eine Stube gepfercht sind – auch solch unangenehme Dinge wie Inzest bewirkt. Das sei ein offenes Geheimnis. „Der Vater mit der Tochter“, sagt Rino ernst und bekreuzigt sich innerlich. Aber das sei überall so, wo Menschen in Isolation leben, auch in den Bergen – und dabei sieht er mich vorwurfsvoll an.

 

Karten werden ausgebreitet, auf Plätze der Altstadt verwiesen, wo früher Häuser standen, wodurch die Bezeichnung calle, „Gasse“, nicht mehr stimme, „Platz“ müsse es jetzt heißen. Ich nicke bestürzt. Giovanni zeigt mir sein Geburtshaus, da, wo auch der junge Biagio Marin ein- und ausgegangen sei, weil dort die Osteria seiner Eltern war, „Le tre corone“. Da sich an diesem Ort oft Betrunkene herumtrieben, habe der kleine Biagio die Anweisung gehabt, durch die Seitentür zu gehen. Betrunkene – wieder ein Schandfleck.

Ob der Tourismus nicht geholfen habe, die bittere Armut zu bekämpfen, frage ich. Ja, das habe er. Aber die Netze seien heute aus Plastik. – Wie? – Früher habe man überall Fischer gesehen, die ihre Netze reparierten, heute keinen einzigen mehr. Doch, sage ich, ich wohne Riva Dandolo, da sehe ich sie an ihren Netzen flicken, ja, antwortet Giovanni, aber früher saßen sie überall. Und gesungen wurde überall. Wo immer man ging, wurde gesungen. Ich stelle mir das schön, aber auch ein bisschen schrecklich vor. Da hebt Rino ansatzlos zu singen an, ein Lied im Gradeser Dialekt, ein Lied von einer mamola („jungen Dame“), der er alles im Leben verdankt und widmet, mein alter Buchhändler singt von seiner mamola, zweifellos, ein emotionaler Höhepunkt ist erreicht. Giovanni, noch immer im zugeknöpften Mantel, wiegt sich, tänzelt und summt leise mit. Ich applaudiere, und alle lachen gelöst. Die Bäume, surft Giovanni auf der sentimentalen Welle weiter, an denen er als kleiner Junge gespielt, kleine Kügelchen durch ihre gewaltigen Wurzeln gerollt habe (jetzt hat er Tränen in der Stimme), sind einbetoniert und werden vernichtet! Und die lavandini!, kontert Rino, die großen Waschbecken am Ufer, wo die Frauen früher – erst meine ich: sich selbst, dann verstehe ich: ihre Wäsche – gewaschen haben, das ganze Ufer entlang habe man die Laken zum Trocknen aufgespannt, von Steinen beschwert, damit sie nicht davonflögen (hier wird wirklich kein Detail ausgelassen), auch diese lavandini habe man einfach verschwinden lassen. Heute, schimpft Giovanni, haben sie Waschmaschinen!, Wäschetrockner!, und voll Verachtung äfft er die Geste des Wäsche-in-die-Maschine-Stopfens nach.

Und der Dialekt! – Schon längst haben die beiden Freunde ihren Rhythmus gefunden, lückenlos läuft der Dialog wie in einer oftmals geübten Doppelconference, der Gradeser Dialekt ist verschwunden, ist schon so gut wie weg. Verfälscht, verwässert, verwelkt. Selbst Biagio Marin habe am Ende seines Lebens Wörter nicht mehr gebraucht, die er in früherer Lyrik verwendet hatte! – Ich stehe verdutzt. Dem großen Dichter des Orts, der sich Zeit seines Lebens geweigert hat, auch nur einen Vers anders als in einem Dialekt zu schreiben, den außer einer Handvoll Fischer kein Mensch auf der Welt versteht, und der sich dadurch vielleicht um seinen Literaturnobelpreis gebracht hat (für den er 1981 nominiert war), diesem Mann sind doch wirklich keine umstürzlerischen Tendenzen vorzuwerfen. Aber Giovanni ist unerbittlich. Und Rino nicht minder: Marin wäre ein Tyrann gewesen, ein Patriarch. Er wäre, sagt er, während er das Lexikon in die Schachtel packt, durch den Ort gegangen und hätte erwartet, dass alle ihn hofierten, ihm applaudierten. Wenn das nicht geschah, wurde er wütend.


Mädchen, ich bin aus Gravo, / ein alter Fischersmann; / sie sagen zu mirBravo, / dass ich arbeiten kann! / und unter diesem Himmel, / mitten in diesem Meer, / wenn ich nur dir nah’ bin, / gefällt die Arbeit mir mehr! // Mädchen mein, Mädchen mein, nur für dich sing’ ich dieses Lied/ Mädchen mein, Mädchen mein, / weil meine Liebe zu dir blüht! / Unser Leben wird einfach vorübergehen; / nicht vergeht, mein Mädchen, die Liebe, / zwischen Himmel und Meer! … Musik: A. Gordini / Text: G. Zuberti


Minutenlang versucht mir nun Giovanni ein Wort aus seinem Dialekt zu erklären, das unübersetzbar, eigentlich unerklärbar sei. Ich bin inzwischen etwas verzweifelt und schaue auf die Uhr. Sieben. Eine Stunde vierzig Minuten dauert die Stehparty schon. Giovannis Bemühen versandet irgendwo im Versuch, das italienische di ins Deutsche zu übersetzen. „Des“ sei es doch wohl. „Cosa ‚des‘?“, fragt ihn Rino, schüttelt den Kopf, steigt auf die Leiter und stellt das Lexikon zurück. – Überhaupt bin ich in einer Hinsicht getröstet. In den letzten 100 Minuten, die Rino doch größtenteils stand und zugehört hat (wenn er nicht gerade im Laden unterwegs war, zum Thema passende Materialien – Bücher, Pläne, Postkarten – heranzuschaffen), konnte ich sehen, dass die Art seines Zuhörens, die mich jahrelang, jahrzehntelang so aus der Fassung gebracht hat, nun einfach seine Art des Zuhörens ist: Den Freund mustert er genauso streng und prüfend, als wolle er ihm im nächsten Moment sagen, was für ein Vollidiot er sei, wie mich, wenn ich mit ihm Italienisch spreche.

Ich fange an, mich zu bedanken, wissend, dass ich damit erst eine große Abschiedsrunde eingeläutet habe, aber irgendwie muss ich meiner Vision entgegenwirken, die mich vor einer halben Stunde befallen hat, dass es nämlich die Nacht durch so weitergehen würde, Thema um Thema, Verfall auf Verfall, immer freundlich, doch gnadenlos, das Geschäft wäre längst geschlossen, die Läden zu, keiner würde mich finden!

Nun, sagt Rino, von der Leiter und vielleicht auch von seinem etwas hohen Ross von vorhin heruntersteigend, natürlich sei, was Biagio Marin für Grado getan habe, unermesslich, in der Poesie sei er ein uomo enorme gewesen, ein gigante. Er habe erreicht, was Millionen Touristen nicht, was kein Internet und kein sonstiges Medium je bewirken könnten: Grado ins Universum zu heben, „a levare Grado all’universo“. – Ein schönes Schlusswort, finde ich. „Große Männer haben große Schwächen“, damit gibt mir Giovanni kumpelhaft die Hand. Zum Abschied erhalte ich noch einen Blumenstrauß an nützlichen Informationen, in die übrig gebliebene Restklagen fließen (die Kommunikation im Allgemeinen und das alte Ritual des Kennenlernens von Mann und Frau im Besonderen seien perdu – vom ersten Gespräch und der ersten Einladung auf ein Getränk über den ersten gemeinsamen Tanzabend und den ersten Spaziergang bis zum ersten Kuss –, „heute spielen sie auf ihren Telephonen herum, dann springen sie direkt ins Bett“), im Wesentlichen sind aber auch die beiden Herren erschöpft, bedanken sich fast noch herzlicher als ich und entlassen mich, nicht ohne Rinos besorgte Bemerkung, ich hätte mir Notizen machen sollen. Habe ich, sage ich, und zeige auf meinen Kopf. Mit einem Lachen lassen wir einander frei.

Ich taumle in die schwarze Nacht, in die sich der Tag, den ich vor über zwei Stunden verlassen habe, verwandelt hat, leicht schwindlig, mit trockener Kehle, und sinke in die erste Bar, die sich mir traulich und liebevoll darbietet.

Nachspiel:

Zehn Minuten nach Niederschrift dieser Erinnerungen, am nächsten Mittag, treffe ich Giovanni mit zugeknöpftem Mantel auf der Piazza. Er komme gerade von Rino, sagt er. Ich bedanke mich, noch im Nachhall des Schreibens, überschwänglich für das Gespräch. Es gäbe sicher noch viele Stunden zu erzählen, bedaure ich und komme mir etwas verlogen vor. Ich hätte alles aufgeschrieben, sage ich wahrheitsgemäß. Er wird es nie lesen, er würde es nicht verstehen. Auch Rino nicht. Seine Frau könnte es ihm vorlesen. Mit ihrem schwäbischen Akzent. Und übersetzen. Wenn sie Italienisch kann. Aber wenn sie nicht Italienisch kann, kann sie mit ihrem Mann nicht reden. Denn er kann nicht Deutsch. Vielleicht hat sie angefangen, Italienisch zu lernen, es aber dann aufgegeben, weil er sie immer so streng angeschaut hat. Aber ich bin sicher, er schaut sie nicht streng an. Und nicht nur, weil sie aus demselben Dorf wie ein aquileischer Patriarch kommt.


* „Me no se se i veci / ricordi / i xe ligaìsolo a le zogie / del tenpo zòvene, / o se gera anche un oltro / modo de vîve / quel che ’l conteva.“ (Aus: „El saloto“ von Lucio Degrassi „Bronza“, Grado, 1919–2001)

** Hauptgeschäfts- und Flanierstraße, die vom Alten Hafen bis zur Meerespromenade führt.




1Bar „Al Porto“

2„Max’in“ (Botega De Mar)

3De Toni

4Agli Artisti

5La Perla

6Osteria del Mar

Ein Wolkenbruch, sich zu waschen

und sich zu trocknen, die Sonne

Leben

Was willst du!*

Wann auch immer der Reisende nach Grado kommt, es möge ein Samstag dabei sein. Natürlich auch ein Sonntag, das folgt ja fast zwangsläufig. Zur Glorie des Wochenendes gehört aber unbedingt der Freitag, wenn alles sich aufs Wochenende vorbereitet, eigentlich ja schon ab Donnerstag, weshalb ich diesen Tag dazunehmen würde.

Das „Leben“ (wenn man den Ausbruch gesellschaftlichen Treibens so nennen will) beginnt in Grado am Samstag (noch) später als wochentags. Erst um 11 kommt es langsam in Gang. Die Plätze vor den Cafés (Sie „Terrassen“ zu nennen, träfe ihr Wesen überhaupt nicht, es sind in das Café hineinverlängerte Gehsteige, kein Wort gibt es dafür, Cafésteige könnte man sagen.) füllen sich mit noch entspannterem, noch ausgelassenerem, noch kommunikationsfreudigerem Publikum, Hunde werden heute gern auf dem Arm getragen, Kinder ausnahmsweise von ihren Vätern im Wagen gerollt. Ein ganzes Völkchen blinzelt schläfrig in die Sonne und weiß, dass der leichte Irrtum (viel mehr ist der Winter in Italien nicht) beseitigt und die Ordnung, das heißt die Wärme und das Draußensein, wiederhergestellt ist. Die Bar „Al Porto“ ist ein wunderbarer Platz dafür.

An den mittleren Märzsamstagen machen Geschäfte auf, die seit Oktober zu waren, und nie leuchten die Gewächse der Herbsternten farbiger in den Gläsern als in den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings. Zum Beispiel bei „Max’in“ am westlichen Anfang der Duca d’Aosta, einer Enoteca mit Küche – eine Art „Buffet“ Triestiner Vorbilds, aber auf Fischbasis. Das Fenster zur autofreien Straße ist immer offen, und da werden lauter kleine kulinarische Glücksgrüße nach draußen gestellt, die der Gast in der Sonne stehend – im März scheint sie dort bis nach Mittag, Tische werden erst im April aufgestellt – genießt. Knusprige Weißbrotscheiben mit großzügig daraufgehäuftem, köstlichem baccalà-Aufstrich, frittierte seppie, Holzspießchen mit polpetti di pesce (Fischlaibchen), dazu ein spritziger Ribolla gialla spumante. Zutiefst italienisch ist auch das Kommunikationsfördernde dieser Einrichtung, da man zwangsläufig hier zum falschen Weinglas, da in den gegnerischen Brotkorb greift. Im Nu sieht man sich von Fremden eingeladen, mit Fischern im Gespräch. Mit Adriano etwa, einem Stammgast. Auf den kleinen Quecksilberskandal angesprochen, der Grado vor einigen Jahren in die Schlagzeilen gebracht hat*, schüttelt er lächelnd den Kopf und setzt zu einer geradezu wissenschaftlichen Erklärung an. In jedem Fisch sei Quecksilber. Aber nicht das schädliche, das wir aus dem Thermometer kennen. Wenn nun ein Fisch stirbt, bleibt sein Quecksilber im Wasser und sinkt auf den Grund. Im Lauf der Jahrtausende sammelt sich da einiges an. „Wenn du mir meine Mütze abnimmst“, sagt Adriano, „wirst du Quecksilber finden. Aber eben nicht das schädliche.“ Dann befestigen wir zum Spaß eine Serviette auf einem Spießchen der zuvor verzehrten polpette und stecken es ins Holz des zum Tresen mutierten Fensterbretts. Erst als Adriano schon am Weg nach Hause ist, zu seiner Ehefrau (die ihn, so deuteten es seine Gesten an, schlüge, käme er nicht zum Essen heim), und die Serviette im Wind weht, merke ich, dass sie blau ist und dass wir also sozusagen zur Unterstützung, zur Beflaggung seiner Geschichte, dem Strand von Gravo eine weitere bandiera azzurra errichtet haben.

 

Adriano, Fischer von Grado

Wer nach so viel Genuss – der Samstag und die Sonne sind ein Stück weitergewandert – nicht stehen bleibt und noch ein Glas bestellt, hat vom Leben, auf jeden Fall von Grado, nichts begriffen. Die „Piccola Libreria Toman“ gegenüber, Tabakwaren-, Buch- und Zeitschriftenladen, bietet genügend Lesestoff, das Wissen über und die Liebe zur „Goldinsel“ zu erweitern.

Am Abend sollte man „Max’in“s Inneres betreten. Daniele, den man schon vom Fenster kennt, kümmert sich um die Weine (unter anderem schenkt er großartigen Prosecco Superiore von Foss Marai / Valdobbiadene aus), Max selbst nimmt die Essenswünsche entgegen, kocht vor deinen Augen – seine scogliera etwa, Spaghetti mit vielerlei Muscheln –und kredenzt dir insalata di mare sowie seine canapés mit frisch aufgeschnittenem, phantastisch zartem Lachs. Danach einen hausgemachten Santonego (siehe Ende des Kapitels). „Max’in“ ist ein kleiner Tempel des Genusses, und wer einmal da war, geht schwer vorbei.

Obwohl auch das lohnen kann. Wenige Schritte weiter nämlich warten gleich zwei Restaurants, die seit Jahrzehnten mit konstanter Qualität aus den vielen Angeboten dieser Straße, die man vor lauter Lokalen nicht sieht, herausragen: das „De Toni“ und „Agli Artisti“. Das „Zu den Künstlern“ hat zudem eine Dependance an der kleinen Piazza XXVI Maggio am Alten Hafen, die einladende Osteria del Mar mit ähnlichem Angebot wie das Max’in. Die paar Euro mehr, die man dort zahlt, lohnen in jedem Fall. Es sind zwei kostbare Felsen in der Brandung der launischen, wechselhaften Gradeser Lokalflut. Daneben ein relativer Neuling: „La Perla“. Hier arbeitet sommers gerne der Drago von Grado (siehe sein eigenes Kapitel). Ein interessantes Experiment ist es auch, zwischen den Lokalen hin und her zu wandern, ein Glas da, einen Bissen dort, man bleibt in Bewegung und der Abend ein Abenteuer.



Vor demMax’in

PS: Auch am Montag – denn diesen Tag sollte der Reisende unbedingt noch dazunehmen. Es ist schön, dem Städtchen flanierend beim Wochenbeginn zuzusehen. Und wer dem Dienstag und Mittwoch ein Schnippchen schlägt, darf sich schon bald auf das nächste Wochenende freuen!

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