Die Seele im Unterzucker

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Nächte der Angst

Onkel Beck war schon lange nicht mehr nur der lockere, unkomplizierte Zeitgenosse, als welchen ich ihn anfangs kennengelernt hatte. Die erste große nächtliche Aktion in meinem Beisein fand in jener Nacht vor meinem 7. Geburtstag statt.

Meine Mutter hatte mir am Vorabend liebevoll einen Geburtstagstisch hergerichtet. Onkel Beck begann in der Nacht lautstark mit meiner Mutter zu schimpfen, mein anstehender Geburtstag war der Anlass. Er ärgerte sich im Alkoholrausch darüber, wie man einem „so bösen Kind“ doch einen solch schönen Geburtstagstisch bereiten könne. Als es lauter wurde, schlich ich zur Tür heraus und sah die beiden energisch miteinander streiten. Meine Mutter bat ihn leiser zu sein und vermerkte, dass ich doch Angst hätte. „Soll er ruhig Angst haben!“, nuschelte Onkel Beck unbeeindruckt vor sich hin.

Ich verzog mich wieder in mein Zimmer, in der Hoffnung nun endlich Ruhe und Schlaf zu finden. Trotz allem freute ich mich auf meinen Geburtstag und dieses Gefühl wollte ich mir nicht nehmen lassen. Die Erwachsenen würden sich schon wieder einkriegen, so schlimm konnte es doch bestimmt nicht sein.

Wenige Minuten später hörte ich einen lauten Knall und meine Mutter entsetzt aufschreien. Dies veranlasste mich dazu, noch einmal mein „sicheres“ Bett zu verlassen und nachzusehen. Onkel Beck hatte in Rage meine Geburtstagsgeschenke auf den Boden geworfen. Das brach mir das Herz. Wie konnte mich ein Mensch nur so sehr hassen?

Insgesamt waren es bestimmt zehn derartige Nächte der Angst, welche in meiner Gegenwart zwischen meiner Mutter und Onkel Beck stattfanden. Dass Onkel Beck zum damaligen Zeitpunkt psychisch sehr krank war und nur aus diesem Grunde meine Mutter das alles mit sich machen ließ, verstand ich als Kind natürlich nicht. Der Alkohol verstärkte seinen Gemütszustand nur noch mehr.

In einer weiteren Nacht bestand er darauf, meinen Bruder Finn mit zu sich ins Bett zu nehmen, da er morgens beim Aufwachen gerne mit ihm kuschelte. Meine Mutter wehrte sich dagegen, da sie wusste, dass er spätestens nach 10 Minuten ungemütlich im Eck des Bettes liegen würde. Er sollte lieber in seinem eigenen Bettchen bleiben und ungestört weiterschlafen. Kein Verständnis von Onkel Beck. Durch lautes Geschrei wach geworden, sah ich durch den Türspalt wie Onkel Beck auf meine Mutter einschlug und sie ins Bett meines Bruders schubste. Was diesen natürlich aufweckte und er zu schreien begann. „Nein, nein, NEIN!“ „DOCH, DOCH, DOCH!!!“

Was sollte ich nur tun? Ich war wie gelähmt vor Angst und traute mich nicht zu helfen. Sollte ich meinen Vater anrufen? Selbst das traute ich mich nicht, da ich schnell wieder in mein Zimmer verschwunden war und sich das Telefon irgendwo im Wohnzimmer befand. Ich betete insgeheim, dass die Nacht schnell vorbeigehen würde, ohne dass meiner Mutter etwas Schlimmes passieren würde. Was hätte ich als 7-jähriger Pupser schon tun können? Später hörte ich ein lautes Klirren. Onkel Beck hatte die Schlafzimmertüre mit voller Wucht gegen den Wandspiegel gedonnert, woraufhin dieser zersprang.

In der Schule lief es dagegen sehr gut, allerdings hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Form des Mobbings zu kämpfen. Obwohl ich schon 7 Jahre alt war, mochte ich noch immer die Teletubbies, von welchen ich einige Kuscheltiere, Spielfiguren, VHS-Kassetten und Hörspiele besaß. An der Bushaltestelle erzählte ich einem anderen Kind, wie toll ich die Serie doch fand und dass es sogar zurzeit im V-Markt „Tubbie-Pudding“ zu kaufen gab. Einige der anderen Kinder fanden es jedoch alles andere als cool, dass ich auf eine derartige Babysendung stehen würde und begannen damit, mich systematisch zu hänseln. Sie lachten mich aus und stahlen mir die Mütze. Als jene im Bus herumflog, machte mich zudem noch eine alte, verbitterte Frau dumm an, dass ich meinen Mist gefälligst bei mir behalten solle und bezeichnete mich als Arschloch. Seit diesen Geschehnissen hatte ich schwere Probleme damit, meinen Mitmenschen zu sagen, was mir gefällt. Ganz egal, ob es sich hierbei um einen Lieblingsschauspieler, eine Lieblingsband oder um einen Lieblingsfilm handelte, jene Vorlieben behielt ich fortan für mich. Nie wieder wollte ich zu einer erneuten Zielscheibe dieser Art werden. Diese Hemmung, anderen Menschen offen zu sagen, was mir gefällt, hält bis heute teilweise an.

Einmal verlief ich mich in der neuen Stadt. Ich war mit einer Klassenkameradin nach der Schule zum Kiosk gelaufen, um mir für ein paar Pfennig am Kiosk Süßigkeiten zu kaufen. Daher verpasste ich meinen täglichen Bus, welcher direkt neben meiner Schule Halt machte, und wusste nicht mehr, wie ich nach Hause kommen sollte. Panisch ging ich mit meiner Klassenkameradin nach Hause, welche jedoch auch nicht weiterwusste. Ich wusste zwar meine Anschrift, allerdings wussten die Eltern von Yasmine auch nicht, wie man denn dorthin kommen könnte. Außerdem sprachen jene kaum ein Wort Deutsch, Yasmine musste übersetzen. Am Ende wurde die Polizei gerufen, welche mich nach Hause fuhr. Dort hagelte es eine gehörige Standpauke von meiner Mutter, welche ganz krank vor Sorge war. Zudem noch die Tatsache, dass ich mit der Polizei nach Hause gekommen war. Auch Onkel Beck schnauzte mich gehörig an. Die Nacht darauf war erneut gefolgt von einem nächtlichen Desaster zwischen den beiden, an welchem meine Mutter mir die Schuld zuwies. Ich fragte mich nur, was das denn sollte. Dass mich meine Mutter schimpfte, war die eine Sache. Aber jetzt auch noch Onkel Beck, welcher in meinen Augen alles andere als ein Recht dazu hatte. Schließlich war er nicht mein Vater und hatte sich persönlich auch niemals in jener Rolle gesehen, geschweige denn versucht.

Zu diesen Zeiten war es auch, dass es meinem Vater körperlich und psychisch immer schlechter ging. Er trank nun regelmäßig Alkohol und war auch am Wochenende, wenn ich ihn besuchen durfte, zuweilen recht komisch. Er war mir gegenüber niemals aggressiv oder gewalttätig, so wie dies bei anderen Menschen mit Alkoholproblemen der Fall ist. Aber ich merkte oft, dass er ganz anders war als früher. Geistig etwas abwesend und übertrieben albern. Er vergaß Dinge schneller und redete gelegentlich etwas langsamer und durcheinander.

Das hatte bestimmt auch mit seiner schweren Depression zu tun, welche nach der Trennung vermehrt auftrat. Wie viel und wann er tatsächlich trank, kann ich nicht sagen. Und die abendlichen ein, zwei Bierchen hatte ich niemals als Bedrohung betrachtet, das hatte er schließlich schon immer gemacht. Gelegentlich durfte auch ich einmal nippen. Auch wenn es mir als Kind nicht wirklich schmeckte. Viel zu bitter. Ich war schon immer ein Fan von eher süßlichen Dingen. Wen wundert das schon bei Zucker? Hihi.

Als ich meinem Vater erstmals von den nächtlichen Szenarien zwischen meiner Mutter und Onkel Beck erzählte, nahm er es entweder gar nicht wirklich zur Kenntnis oder mich nicht ernst genug. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich ihn bat, Mami, mich und meinen kleinen Bruder Finn zurück zu sich nach Hause zu holen. Er entgegnete nur unbeeindruckt, dass er meiner Mutter wohl eindeutig zu langweilig war und „die Weiber eben einen Mann bräuchten, welcher sie anbrüllt und ihnen auch gelegentlich eine verpasst“. Nur das ziehe sie wohl an und hält sie gefügig. Naja, wenn er meinte …

Im Gegensatz zu meiner Mutter begann er nun vermehrt sie in meiner Gegenwart schlecht zu machen. Nicht mit bösartigen Aussagen, viel eher auf eine ironische Art und Weise. Wie eben jenes Beispiel vom tiefsitzenden Bedürfnis der Frauen nach einem gewalttätigen Mann, welcher sie erniedrigt. Außerdem lästerte er kontinuierlich über seinen Gegenspieler Onkel Beck. Was dieser andersherum jedoch genauso tat. Wiederholt rühmte sich Onkel Beck in der Rolle des unwiderstehlichen Mannes, welchem es gelungen war, meinem Vater die Frau auszuspannen.

Einen Teil meines Vaters Theorie kann ich in gewisser Weise sogar nachvollziehen. Meine Mutter war von Natur aus schon immer eine Geber-Seele, die es gerne jedem recht machte. Auch wenn sie dafür auf der Strecke blieb. Gerade in jener Zeit, als wir bei Onkel Beck lebten, fiel mir verstärkt auf, dass sie alles dafür gab, es ihm und auch uns Kindern so angenehm und komfortabel wie möglich zu gestalten.

Vom Wesen her war sie allerdings gelegentlich auch sehr schnell reizbar, wenn etwas nicht nach Plan verlief. Selbst wenn es sich um Lappalien handelte. Diesen Wesenszug habe ich teilweise von ihr übernommen.

Allerdings war auch mein Vater diesbezüglich nicht immer die Ruhe selbst. Ganz besonders dann, wenn er seinem Beruf nachging und das Innenleben von Fernsehern und Receivern reparierte, kam es regelmäßig zu Wutausbrüchen und Flüchen. Was ich sehr gut nachvollziehen kann, für ein Gefummel dieser Art würde mir persönlich auch die Geduld fehlen. Wurde Dreck im Haushalt gemacht, so folgte Kritik und Meckerei. Auch bestand er darauf, sich täglich zu duschen. Häufiges Händewaschen war seinerseits ebenfalls erwünscht. Was mich als Kind gelegentlich ziemlich nervte. Seine Wohnung war stets wie geleckt, Ordnung und Sauberkeit das höchste Gebot. Meine Mutter war diesbezüglich deutlich lockerer. Bei uns zuhause war es auch recht ordentlich, jedoch niemals so klinisch rein wie bei meinem Vater.

Mein Vater hatte in dieser Zeit noch einmal eine kurz andauernde Beziehung zu einer Frau namens Gitti. Auch ich lernte sie kennen und durfte mit dabei sein, als er ihr beim Umzug mit unserem Geschäftskombi half. Er fragte mich des Öfteren im Spaße, ob ich mir denn vorstellen könnte, dass diese Gitti meine „zweite Mami“ werden würde. Ich mochte sie zwar soweit ganz gerne, hätte sie aber niemals als zweite Mutter betrachtet. So wie ich auch Onkel Beck niemals als zweiten Vater gesehen habe. Ich hatte zwei Eltern, warum bräuchte ich noch welche auf Reserve? Falls mal ein Reifen platzt, oder was?

 

Die Beziehung hielt nicht sehr lange, irgendwann machte Gitti mit meinem Vater Schluss. Die Begründung lautete unter anderem, dass er seine Freizeit viel lieber mit mir, seinem Kind verbrachte, anstatt mit ihr. Das erzählte mir mein Vater später einmal und sorgte somit für ein schlechtes Gewissen bei mir. Es ist schon wahr, dass mich mein Vater vergötterte und die meiste Zeit am liebsten mit mir als Kind verbrachte. Aber ist ihm dies zu verdenken? Ganz besonders nach der Scheidung, wo er mich doch ohnehin nicht mehr täglich sah? Inwieweit sie damit übertrieb oder ob es tatsächlich begründet war, kann ich nicht beurteilen.

Anfang 2000 war das Zusammenleben mit Onkel Beck endgültig Geschichte. Nachdem er in einem weiteren nächtlichen Wutanfall gedroht hatte, meinen Bruder Finn aus dem Fenster zu werfen (bei diesem Vorfall war ich gerade bei meinem Vater auf Besuch), zog meine Mutter ein für alle Mal einen Schlussstrich. Sie schnappte sich meinen Bruder und fuhr weg. Unterkunft fanden sie bei einer guten Freundin, während ich solange bei meinem Vater blieb. Meine Mutter befand sich sehr schnell auf der Suche nach einer neuen Wohnung in meiner alten Heimatstadt und wurde auch schon bald fündig. Der Einzug erfolgte einige Tage später. Die Wohnung lag nur fünf Häuser weit weg von der meines Vaters, gegenüber auf der anderen Straßenseite. Für mich war das mehr als perfekt, so konnte ich ihn jederzeit besuchen und mich auch wieder regelmäßig im Geschäft aufhalten und auf der Konsole spielen. Sogar unter der Woche. Ich hatte allerdings nie Gelegenheit gehabt, mich von meiner alten Klasse und meinem Lehrer zu verabschieden. Von heute auf morgen hieß es, dass wir wieder zurückziehen werden. Ein komisches Gefühl, schließlich hatte ich doch bereits einige Freundschaften geschlossen. Aber die Tatsache, dass ich einige alte, bekannte Gesichter in der neuen Schule wiedertreffen würde, welche ich bereits aus Kindergartentagen kannte, machte es mir deutlich leichter.

Rückkehr nach Hause

Onkel Beck hatte eindeutig übertrieben. Auch wenn er im Grunde für seinen Gemütszustand nichts konnte, war es verantwortungslos von ihm, meine Mutter und uns Kinder in eine derartige Situation der Angst zu versetzen. Nachdem meine Mutter den Mut hatte, die Sache trotz Liebe und allem Verständnis zu beenden, machte er sich wohl doch Gedanken. Er reduzierte seinen Alkoholkonsum und begann eine Psychotherapie. Nach einer Weile Funkstille führten die beiden auch über die nächsten Jahre ihre On-Off-Beziehung weiter. Nur eben in getrennten Wohnungen. Ein Zusammenleben war definitiv nicht mehr möglich. Und meine Mutter hatte auch gar nicht mehr den Wunsch danach. Nachdem sie mit mir und Finn die neue Wohnung bezogen hatte, wurde ihr klar, dass sie allein viel besser klarkam. Nach eigenen Angaben wollte sie keinen Mann mehr im Hause haben. Weder Onkel Beck noch meinen Vater. Was mich anfänglich etwas bedrückte, hoffte ich doch noch immer heimlich, dass sich meine Mutter und mein Vater wieder zusammenraufen würden.

Heute habe ich Onkel Beck schon seit langer Zeit vergeben, auch wenn mir jene Bilder von damals für immer im Gedächtnis bleiben werden. Laut Erzählungen meiner Mutter hatte er in frühester Jugend ebenfalls eine Art Trauma erlebt, nachdem ihn seine Mutter Ulla (welche ebenfalls ein eindeutiges, psychisches Problem hatte) im Alter von 16 Jahren allein zurückließ und mit einem Liebhaber durchbrannte. Also nur verständlich, dass Onkel Beck aufgrund dessen und womöglich noch vielerlei anderer Faktoren, von denen ich nichts weiß, von massiven Verlustängsten geplagt war. Er wollte meine Mutter ganz für sich allein. Und sie natürlich auch in seinem männlichen Stolze dominieren.

Ich lebte mich sehr schnell in meiner neuen Klasse ein. Ich hatte eine sehr nette Klassenlehrerin und auch mit den anderen Kindern, welche ich zum Großteil schon aus Kindergartentagen kannte, verstand ich mich gut. Niemals war ich ein sonderlicher Gruppenmensch, schon immer etwas eigen und anders als die anderen. Ich hatte immer zwei, drei enge Freunde, mit welchen ich am meisten machte, in der Pause spielte, nach Hause lief und ähnliches. Treffen am Nachmittag gab es gelegentlich, allerdings im Vergleich zu anderen Kindern recht spärlich. Ich spielte viel lieber allein, zeichnete und fing schon bald damit an, mir im Hinterhof aus altem Bauschutt ein Baumhaus zu bauen. Es war nichts Besonderes, einfach nur ein paar simple Bretter dran genagelt, so dass man drauf sitzen konnte. Ich träumte davon, jenes eines Tages zu einem richtig großartigen Baumhaus auszubauen, mit kleinen Zimmern, möglicherweise sogar mit einem Fernseher drin. Dieser Wunsch war natürlich nichts weiter als eine kindlich naive Träumerei. Handwerklich hätte ich dies aus eigenen Stücken niemals geschafft. Und die technische Umsetzung wäre auch niemals möglich gewesen. Aber es war trotz allem ein schöner Kindertraum. Viele Nachmittage verbrachte ich in meinem Baum.

Bald darauf bekam ich auch meinen ersten eigenen Computer. Ein alter Windows 96, ohne Internet, kaum Speicherplatz und ziemlich langsam. Kein Vergleich zu den heutigen Geräten. Aber für mich war er fortan mein ganzer Stolz. Ich arbeitete viel mit dem Zeichenprogramm Paint, spielte stundenlang Moorhuhn 2, Mah-Jongg und Melker und schrieb gelegentlich Kurzgeschichten mit einem Schreibprogramm.

Als Kind und Jugendlicher war ich sehr gerne und regelmäßig bei meinen Großeltern, den Eltern meines Vaters, welche nur eine Ortschaft weiter wohnten. Uns verband stets ein sehr inniges Verhältnis, allerdings hatten wir auch eindeutige Differenzen. Sehr vieles, was ich tat, passte ihnen gar nicht. Zu allem wurde ihr persönlicher Senf abgegeben, ganz besonders meine Oma stichelte und kritisierte regelmäßig. Alles, was meine Eltern in ihren Augen „verbockt“ hatten, warfen sie MIR vor. So wurde unter anderem regelmäßig bedauert, dass ich in keinem Sport- oder Musikverein Mitglied war, so wie viele andere Kinder auch. Ebenfalls durfte ich mir regelmäßig anhören, dass sie sonntags in der Kirche sämtliche andere Kinder beim Gottesdienst gesehen haben, nur MICH mal wieder nicht. Warum warfen sie das ausgerechnet MIR vor? Wäre dies ein traditionelles Ritual gewesen, so wäre ich doch bestimmt der Letzte, der sich geweigert hätte. Aber weder mein Vater noch meine Mutter erwarteten jemals von mir, sonntags in die Kirche zu gehen. Warum sollte ich diese Initiative von mir selbst aus ergreifen? Ganz besonders in verspielten Kindertagen? Nur weil es die anderen machten, hieß das noch lange nicht, dass ich das auch machen musste. Schon erst recht nicht, weil es in meinem Leben niemals eine Rolle gespielt hatte.

Meine Großeltern gingen meiner Ansicht nach ohnehin auch nur regelmäßig sonntags zur Kirche, weil man es in der gutbürgerlichen, konservativen Gesellschaft eben macht. Was könnten denn sonst um Himmels willen die Nachbarn denken? Dass sie selbst tatsächlich gläubig waren, bezweifle ich stark. Einst sagte mein Opa einmal im Vertrauen zu mir, dass diese ganzen Bibelgeschichten früher von der gebildeten Oberschicht im Mittelalter erfunden wurden, um ihre spärlich gebildeten Knechte damit zu beeindrucken. Sprich, arbeitet man nicht fleißig, ehrt nicht seine Familie, lügt, stiehlt oder tötet, so kommt man in die Hölle. So konnte man das „niedrige Volk“ ganz prima kontrollieren und zum persönlichen Belieben erziehen. Diese Theorie kam mir nicht mal so abwegig vor. Irgendwie würde es sogar Sinn ergeben.

Meine Großeltern wuchsen beide im 2. Weltkrieg und in der späteren Nachkriegszeit auf. Sie erlebten alles hautnah mit, auch wenn sie noch sehr jung waren. Mein Opa betonte immer wieder, wie sehr es der heutigen, verwöhnten Gesellschaft doch mal guttun würde, wenn nur mal ein halbes Jahr lang Krieg und Entbehrung herrschen würde, ohne dies wirklich böse zu meinen. Was die beiden schon immer ärgerte waren Verschwendung und Selbstverständlichkeit, da sie es durchaus anders kannten. Beide erzählten Geschichten vom wenigen Essen in der Kriegszeit und wie sehr man sich über jede Kleinigkeit gefreut hatte. Mein Opa berichtete, wie sie als Buben durch den Wald gingen und als sie voller Stolz nach Hause kamen, hatten sie ein paar Beeren, Pilze oder Tannenzapfen zum Heizen gefunden. Als der Krieg zu Ende war, fand mein Opa als Junge im Wald gelegentlich halbleere Dosen mit Erdnussbutter, welche die Amerikaner, die im damaligen Nachkriegsdeutschland stationiert waren, liegen gelassen hatten. Ein unglaublich wertvoller Fund.

Ich habe sehr großen Respekt vor meinen Großeltern, was sie sich über all die Jahre hart erarbeitet und erspart haben. Sie übernahmen nach ihrer Hochzeit das Geschäft meines Urgroßvaters, welches dieser einst gegründet hatte. Jenes beschränkte sich in den Fünfzigerjahren noch hauptsächlich auf Schallplatten und Radios. Fernseher und sonstige Unterhaltungselektronik kam erst etwas später dazu. Meine Großeltern haben beide erfolgreich eine kaufmännische Ausbildung absolviert, mein Opa war außerdem noch in jungen Jahren im Servicebereich tätig. In jener Zeit lernte er sogar prominente Persönlichkeiten aus Film und Fernsehen kennen, welche er damals bedienen durfte.

Obwohl meine Großeltern keine Nazis waren, sagten sie häufig, dass vieles in ihrer Jugend noch deutlich besser war. Ganz besonders in der Gesellschaft. Die Menschen waren noch anständig, bescheiden und man wusste einfach, was sich gehörte. Nicht so wie heute, wo man kaum noch das Fernsehprogramm wechseln könne, um auf jedem dritten Kanal eine Sexszene zu sehen zu kriegen. So etwas „Primitives“ gab es damals nicht. Wurde ein Mädchen unter der Volljährigkeit und ohne verheiratet zu sein schwanger, so war sie das Gespött der Gesellschaft. Und das war ihrer Meinung nach auch gut so.

Ich glaube, dass sie diese Meinung einfach unbewusst in ihrer Kindheit verinnerlicht haben. Ein Kind übernimmt meist das, was ihm die Eltern vorleben und gutreden. Und so bildet sich nach und nach die eigene Meinung daraus. Wie sehr sich diese im Laufe der Zeit noch individuell ändert, geschweige denn verbessert, ist eine Frage des Charakters.

Dass diese Generation von der Strenge und der Disziplin her noch einen Deut härter war, ist wohl bei den meisten Familien so. Andere Zeiten, andere Sitten, keine Frage. Allerdings hätte ich mir gelegentlich ein bisschen mehr Unterstützung und Toleranz erwartet als ich es doch tatsächlich erhielt. Statt Lob hagelte es eher Kritik. Auch über meine Mutter wurde nach der Scheidung regelmäßig hergezogen. Immerhin hatte SIE ja meinen Vater, ihren über alles geliebten „Vorzeigesohn“, verlassen, dadurch war sie für meine Großeltern durch die Blume gesagt, gestorben Meine Großeltern verhielten sich meiner Mutter gegenüber zwar nach wie vor korrekt und höflich, aber eine direkte Bindung gab es seit der Trennung nicht mehr. Sogar sarkastische Wetten wurden darauf abgeschlossen, wie lange sie denn dieses Mal wieder mit Onkel Beck zusammen wäre. 3 Wochen? 4 Wochen? 2 Monate?

Zu Weihnachten und Geburtstagen erhielt ich von meinen Großeltern immer großzügige Geschenke. Auf meine Frage hin, warum sie denn meinem Bruder Finn nichts schenken würden, hieß es immer nur: „Der ist ja nicht UNSER Enkel, der geht uns nichts an!“

Das fand ich ziemlich gehässig. Natürlich war er nicht IHR leiblicher Enkel, aber trotz allem MEIN Bruder. Er wurde nie abwertend behandelt oder ähnliches. Aber eine Einladung im Garten zum Schwimmen wäre schon gelegentlich angebracht gewesen.

Ebenso erhielten meine Mutter und ich regelmäßig einen Vortrag darüber, warum sich mein Bruder in späteren Jahren stets telefonisch mit unserem Nachnamen meldete, obwohl er denselben Nachnamen wie Onkel Beck trug. Das ging den beiden gehörig gegen ihren familiären Stolz. Meine Mutter und ich überhörten die Meckerei irgendwann gezielt. Mein Bruder tat dies ganz bewusst, um fremde Leute, welche telefonisch mit meiner Mutter sprechen wollten, nicht unnötig zu verunsichern. Aber das wollten meine Großeltern nicht so recht einsehen. Immerhin handelte es sich um IHREN guten Namen.

Mit etwa 8 Jahren, ich müsste lügen, wenn ich sage, ich weiß es noch hundertprozentig genau, vermutete meine Mutter, dass ich möglicherweise unter ADHS leiden könnte und vereinbarte regelmäßige Gesprächstherapien bei einem Kinderpsychologen. Ich wusste damals nicht, was jene Gesprächsstunden bei dem netten älteren Herrn denn sollten. Worüber sollte ich mit ihm sprechen? Was wollte er wissen?

Ich erinnere mich, dass wir viele Stunden über zusammen mit Handpuppen und sonstigem Spielzeug spielten und uns dabei gemeinsam die lustigsten Geschichten ausdachten. Wie viel Spaß machte das doch zur Abwechslung, nicht immer nur allein damit zu spielen, sondern regelmäßig in Gesellschaft.

 

Meine Mutter wollte Klarheit darüber, warum ich oftmals so unkonzentriert, geistig abwesend und sozial anders eingestellt war als andere Kinder. Und wie weit das außerdem etwas mit meinem Diabetes zu tun hatte. Was ich vor einigen Monaten auch zum ersten Male bewusst wahrnahm, weil ich mich zuvor nie ernsthaft mit Begleiterscheinungen und sonstigem beschäftigt hatte, weil es mich schlichtweg nie interessierte: Diabetes und psychische Erkrankungen hängen oft sehr dicht zusammen!

Als Kind zeigte sich dieses Verhalten hauptsächlich in übermäßiger Hyperaktivität und Egozentrik. Nicht zuletzt darin, stets immer alles besser zu wissen.

Jedenfalls sah jener Psychologe nach einiger Zeit keinen Anlass mehr, die Therapie fortzuführen. Die paar kleinen Kinderprobleme, die ich hätte, würden schon von selbst vergehen. Meine Mutter warf mir vor, dass ich ihn bewusst getäuscht hätte, um mich vor einer erfolgversprechenden Therapie zu drücken. Es mag schon sein, dass ich das eine oder andere Problem nicht offen ansprach und lieber den unbeschwerten, fantasievollen kleinen Unschuldsengel gab. Allerdings wusste ich zum damaligen Zeitpunkt auch nicht wirklich, was diesbezüglich von mir erwartet wurde. Bis auf meinen blöden Zucker war doch eigentlich nicht viel anders als bei „normalen“ Kindern. Oder …?

In diesem Zeitraum hatte ich außerdem meine erste stationäre Schulung. Eine Woche allein im Krankenhaus auf der Kinderstation, um selbstständig zu erlernen, wie ich denn mit meinem Diabetes am besten umzugehen habe. Bisher hatten dies stets meine Eltern für mich übernommen.

Auf der Station lernte ich mehr über die BE-Anzahlen und wie man jene errechnet. Außerdem erhielt ich eine komplett neue Mess-Spritz-Ausrüstung, inzwischen war diese schon wieder auf einem etwas neueren Stand. Die Nadeln der Spritzen waren inzwischen deutlich kürzer und ich erhielt ein neues Basalinsulin. Weiterhin ein neues Messgerät, welches mit einer kleinen Streifentrommel à 50 Stück versehen wurde. So musste nur noch vor jeder Messung ein kleiner Buttom nach oben geschoben werden, woraufhin ein winzig kleiner Teststreifen direkt aus dem Messgerät ausgefahren wurde. Das fand ich sehr viel praktischer als jedes Mal einen neuen Streifen einzuführen und fast 30 Sekunden auf das Testergebnis zu warten. Der Countdown vom neuen Gerät fiel deutlich kürzer aus.

Außerdem war es nun langsam an der Zeit, selbst die Nadel in die Hand zu nehmen. Schließlich musste ich früher oder später selbst erlernen, wie ich mich (auf Lebenszeit?) mit Insulin zu versorgen hatte. Ich fürchtete mich anfangs davor und weigerte mich zunächst, es selbst zu versuchen. Die Macht der Gewohnheit eben. Meine Mutter bot sich während der Schulung tapfer an, dass ich es zuerst einmal an ihrer Bauchfalte probieren sollte, bevor ich mich selbst spritzte. Natürlich handelte es sich bei jenem „Probelauf“ nicht um echtes Insulin, sondern um eine harmlose Substanz, welche keinen Einfluss auf ihren Körper hatte. Ich glaube, es war Wasser. Jedenfalls klappte es recht gut und ich war motiviert, es nun auch an mir selbst zu versuchen. Schon bald hatte ich es gut raus und es wurde zur Gewohnheit, es nun täglich selbst zu tun. Allerdings achtete ich niemals vorbildlich auf das Abwechseln der Einstichstellen und verwendete auch mehrmals die gleiche Spritze. Das Resultat: Meine rechte Bauchfalte neben dem Nabel verhärtete und es bildete sich ein dicker Knubbel. Lieblingsdoktor Hofer zeichnete mit dem Kugelschreiber einen Kreis darum, welcher mich daran erinnern sollte, an anderen Stellen zu spritzen.

Ferner erklärte er mir in einer weiteren Schulung einige Jahre später, dass BEs nicht nur in Form von Zucker allein, sondern durch Kohlenhydrate errechnet werden.

So glaubte ich zuvor doch ernsthaft, dass die Knabberbox aus Chips und Salzbrezeln, welche ich mir am Krankenhauskiosk gekauft hatte, keine Broteinheiten zum Herunterspritzen enthielt. Tja, Pustekuchen aber auch …

Doktor Hofer erschrak regelrecht, als er mich beim abendlichen Kontrollrundgang mit der Box auf meinem Bett erwischte und fragte entsetzt, ob mir denn bewusst wäre, wie viele BEs in solch einer „Sünde“ stecken würden. Ich verneinte.

Tja, wieder was dazugelernt, auch ein Diabetiker lernt eben niemals vollständig aus. Ehrlich gesagt: Mit dem Auswendiglernen sämtlicher Inhaltsstoffe, geschweige denn BEs, war ich früher noch nie wirklich up to date. Da es bis dato auch immer meine Eltern für mich berechnet hatten. Natürlich trotzdem keine Entschuldigung dafür, dass ich mich selbst niemals intensiv damit beschäftigt hatte. Alles, was ich wollte, war normal zu sein, ohne ständiges Kopfzerbrechen und Berechnen. Dank meinen Eltern blieb mir dies auch recht lange erspart.