Die Seele im Unterzucker

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nach der Blutabnahme freute ich mich immer darauf, mir ein buntes Kinderpflaster auszusuchen. Jedes Mal war ich gespannt, welche lustigen Motive mich denn dieses Mal erwarteten. Die Pflaster klebte ich nach dem Abriss an meine Kinderzimmertüre. Eine Art Trophäensammlung für meine Tapferkeit.

Als Kind verstand ich noch nicht allzu viel vom Hba1C-Wert. Ich wusste nur so viel, wenn er gut war, hatte ich beim Messen und Spritzen alles richtig gemacht und war ein bisschen stolz auf mich. Natürlich nur so weit, die nervige Piekserei immer tapfer erduldet zu haben. Die Kunst der Berechnung unterlag allein der Fürsorge meiner Eltern.

Nachdem stationär alles nach Plan verlief, sich mein körperlicher Zustand stabilisiert hatte und auch sonst alle nötigen Vorkehrungen für zuhause getroffen waren, durfte ich die Kinderstation nach 2 Wochen wieder verlassen. Meine Eltern waren dank der großartigen Ärzte und des kompetenten Personals auf der Station bestens auf unser zukünftiges Leben mit meinem „kleinen Handicap“ vorbereitet. Jenes bestand von nun an aus Nadeln, Spritzen, Messstreifen, Tupfern, Pflastern und natürlich dem überlebenswichtigen Insulin, welches mir fortan tagtäglich 4-mal verabreicht wurde. Vor jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen.

Auch ich selbst gewöhnte mich von Tag zu Tag mehr an die neuen Lebensumstände. Irgendwann wurde die tägliche Piekserei Routine und sehr bald kannte ich es nicht mehr anders. Ich lernte mich an zuckerfreie Getränke und Kaugummis zu gewöhnen, Naschereien hielten sich von nun an stärker in Grenzen.

Meine Eltern gaben sich beide sehr große Mühe bezüglich meiner Ernährung und der Einhaltung der erforderlichen Maßnahmen.

Ganz besonders mein Vater, welcher von Natur aus ein leidenschaftlicher Hobby-Koch und Genießer war, experimentierte viel mit neuen Rezepturen, wobei natürlich auch die geliebte, deftige Hausmannskost nicht fehlen durfte.

Am Anfang wurden die Portionen mithilfe einer Küchenwaage noch aufs Gramm genau abgewogen, um die genaue BE-Zahl so perfekt wie möglich einzuhalten. Meist klappte das auch nahezu optimal, meine Werte blieben im Rahmen. Es wurde anfangs auch noch sehr viel mit Urinstreifen gearbeitet. Daran ließ sich unter anderem feststellen, ob meine Basalrate (langwirkendes Insulin, welches der Körper unabhängig von den Mahlzeiten benötigt, um den restlichen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten) optimal eingestellt war. Da diese individuell abhängig von Alter, Gewicht, Muskulatur, Fettmasse, Bewegung und sämtlichen weiteren Faktoren ist, musste sie oftmals neu angepasst werden. Wovon ich in den ersten Jahren noch nicht viel verstand, geschweige denn mitbekam. Ich spritzte immer brav das Vorgeschriebene bzw. ließ es mir von meinen Eltern spritzen. Ich hinterfragte wenig in dieser Hinsicht, irgendwann ging alles wie von selbst.

Ich liebte die damaligen Zeichentrickserien auf dem Kinderkanal (heute KiKa), welche jeden Abend im Fernsehen liefen. Mein regelmäßiges Ritual zum Abendessen, auf welches ich mich täglich ganz besonders freute. Ganz besonders die Biene Maja mochte ich gerne. Mein Vater imitierte nun vor jedem Stich in den Bauch die Titelmelodie und sagte, dass jetzt Maja wieder stechen würde. Das amüsierte mich und lenkte immer ein wenig vom Einstich ab. „Ich will aber nicht, dass die Maja sticht, dann ist sie ja tot!“, protestierte ich auf ironische Art in meiner kindlichen Unbeholfenheit. Und schon war der Vorgang auch wieder vorbei.

Meine Eltern waren stets bemüht, dass ich in Bezug auf Ernährung trotz Anrechnung von Broteinheiten und deren Korrektur wie alle anderen Kinder aufwachsen durfte. Im Gegensatz zu anderen Diabetikern, welche alles zu 100 % genau nehmen, und vollständig auf Süßigkeiten verzichten, verlebte ich in diesem Sinne eine recht normale Kindheit. Allerdings gab es trotz allem ein genaues Muster, an welches sich tagtäglich gehalten wurde.

Morgens gab es Frühstück, am Vormittag eine Zwischenmahlzeit (meist ein kleiner Joghurt oder Obst), dann Mittagessen, am Nachmittag nochmals eine kleine Zwischenmahlzeit, später Abendbrot und vor dem Schlafengehen noch eine kleine Spätmahlzeit. Die BE-Zahlen der Mahlzeiten wurden immer recht identisch gehalten, so dass sich das gewohnte Schema in Form vom kurzwirksamen Bolusinsulin zu den Mahlzeiten nicht inständig ändern musste. Die damals berechneten Einheiten, BE-Zahlen und das verwendete Insulin kann ich allerdings heute, bald 25 Jahre nach der Erstdiagnose, nicht mehr eindeutig wiedergeben.

Cool, dieses Jahr habe ich 25-jähriges Jubiläum. Gibt’s da was Besonderes zu gewinnen? *grins*

Was mich im Alltag ziemlich nervt, ist die oberflächliche Annahme, dass Diabetes stets mit ungesunder Ernährung zusammenhängt. Das mag zuweilen stimmen. Diabetes Typ 2 (auch Altersdiabetes genannt) ist in der Tat auf zu wenig Bewegung und schlechte Essgewohnheiten zurückzuführen. Dieses Krankheitsbild mutierte besonders in den vergangenen Jahren zu einer echten Volkskrankheit. Etwa 95 % aller Diabetiker in Deutschland leiden tatsächlich unter Typ 2. Nur etwa 5 % sind so wie ich von Typ 1 betroffen. Ich finde es ein bisschen schade, dass es diesbezüglich zu wenig Aufklärung und Abgrenzungen gibt. Möglicherweise wird dieses Buch in dieser Hinsicht ein wenig Licht ins Dunkel bringen…

Ich versuchte stets Sprüche wie „Oh, zu viel Süßes gegessen?!“ vornehmlich zu ignorieren. Manche Leute wissen es einfach nicht besser oder sind zu bequem um nachzuforschen. Andererseits: würde ich es tun, wenn ich niemals mit jener Thematik in Verbindung gekommen wäre? Ich kann es nicht beschwören. So vieles wird eben mal dahingesagt, ohne es tatsächlich bewusst böse zu meinen oder genauer zu überdenken. Hauptsache einen Kommentar abgegeben.

Ferner nervt es mich häufig, dass viele Menschen der Meinung sind, dass Diabetes zwangsläufig mit einer ganz gezielten Ernährung in Verbindung steht. Dass wir keine Süßigkeiten essen dürften etc. Teilweise wird dieses Klischee sogar noch in Filmen und Serien vertreten. DAS STIMMT EINFACH NICHT!!!! Dieses Schema wurde verfolgt, als es noch keine intensivierte Insulintherapie gab und sämtliche Insuline noch nicht programmiert werden konnten. Noch vor rund 40 Jahren durfte lediglich in einem vorgesehenen Zeitraum gegessen werden, wenn das Insulin seine Hochphase der Wirkung erreicht hatte. Und dann auch nur eine begrenzte Menge an „gesunden Kohlenhydraten“ wie Kartoffeln, Nudeln, Brot oder Reis. Süßigkeiten waren damals weitestgehend tabu, außer im Unterzucker. Aber dieses Schema ist längst veraltet und durch die zusätzliche Zufuhr von Insulin ist es heutzutage jedem Diabetiker möglich, alles zu essen, wann und wie viel er will! Selbst 5 Stück Schwarzwälder Kirschtorte wären rein theoretisch machbar. Hierfür bräuchte es eben rund 40 Einheiten extra. Und ob es so gesund wäre (Diabetes hin oder her), ist wiederum die nächste Frage …

Das Schlimmste ist nicht die Krankheit selbst.

Das Schlimmste ist die Sonderrolle.

Individueller Knabe

Meine Mutter arbeitete in der kleinen Nebenortschaft in einem Kindergarten als Erzieherin. Dort wurde auch ich in meinem ersten Kindergartenjahr vorerst untergebracht. Allerdings in einer anderen Gruppe, da man es für kontraproduktiv in Bezug auf meine Selbstständigkeit betrachtete, wenn ich in der Gruppe meiner Mutter wäre. Als ich dorthin kam, war ich knapp 3 Jahre jung. Ein Jahr später wechselte ich in den Kindergarten, welcher sich direkt in unserem Wohnort befand.

Als mein Diabetes entdeckt wurde, befand ich mich bereits seit fast 2 Jahren im Kindergarten. Auch dort musste nun vieles gemanagt, die Erzieherinnen und anderen Kinder aufgeklärt werden. Diesbezüglich bekam ich immer viel Rückhalt, Verständnis und gelegentlich auch Hilfe. An einige Dinge kann ich mich noch recht gut erinnern. Beispielsweise daran dass ich einmal eine Unterzuckerung erlitt, als wir mit der Gruppe einen ausgiebigen Wandertag veranstalteten.

Ich erwachte in den Armen meiner Erzieherin, welche im Schatten eines großen Baumes mit mir zurückgeblieben war und mir etwas Apfelsaft und Traubenzucker verabreicht hatte. Verwirrt fragte ich nach, da ich das Bewusstsein verloren hatte. Nachdem es mir wieder etwas besser ging machten wir uns daran, den Rest der Gruppe wieder einzuholen.

Was Freundschaften anging, so verstand ich mich in der Regel mit fast allen anderen Kindern gut. Ich hatte eine Handvoll Freunde, mit welchen ich regelmäßig spielte. Mit diesen traf ich mich ab und an auch nachmittags, da unsere Mütter bereits aus Zeiten der Krabbelgruppe und des Krankenhauses miteinander befreundet waren. Allerdings waren jene Freundschaften niemals so tiefgründig wie es bei manch anderen Kindern der Fall ist. Schon immer war ich ein besonderer Kandidat. Entweder überdreht und risikofreudig, dann jedoch wieder introvertiert und zurückhaltend. Launenhaft und auch etwas unberechenbar würde ich es im Nachhinein beschreiben. Kam dies möglicherweise mitunter durch den wechselnden Blutzuckerspiegel? Möglich wäre es zumindest, angeblich hat die Zuckerkrankheit auch einen enormen Einfluss auf die Psyche und das soziale Verhalten. Was ich lange Zeit nicht wusste, erst vor einigen Monaten las ich einen interessanten Ratgeber darüber.

Dass ich mich im Kindergartenalter schon großartig mit anderen Kindern verglich, war mir nicht bewusst. Ich machte einfach das, worauf ich Lust hatte. Ich hatte schon im Kindergarten meine festen, immer wiederkehrenden Rituale. Seit ich denken kann, bin ich ein sehr starkes Gewohnheitstier und Veränderungen und Spontanitäten überforderten mich zuweilen. So spielte ich schon damals z.B immer mit denselben Spielsachen, schaute mir in der Leseecke immer dieselben 3 Lieblingsbücher an und verteidigte meinen besten Spielkameraden/meine beste Spielkameradin, dass er oder sie bloß nicht zu häufig mit anderen Kindern spielte und diese möglicherweise lieber mochte als mich. Ich würde es im Nachhinein nicht als besitzergreifend bezeichnen, viel eher als eine Art Verlustangst. Was ich für mich haben wollte, beschützte ich. Ganz gleich, ob es sich um eine Bezugsperson oder mein Lieblingsspielzeug handelte.

 

Wen ich mochte war ebenfalls launenabhängig. Ärgerte mich jemand oder tat mir (auch unbeabsichtigt) weh, so war diese Person erst einmal längere Zeit abgeschrieben. Niemals vergaß ich eine Beleidigung oder eine Gemeinheit. Vergeben fiel mir schwer, selbst wenn es sich nur um eine Lappalie handelte, welche im Grunde gar nicht der Rede wert war. Dies bezog sich auch auf die Erzieherinnen. Einmal brach ich gemeinsam mit einem anderen Kind eine Regel. Wir betraten bei Regenwetter das Klettergerüst, was aufgrund großer Rutschgefahr verboten war. Daraufhin erhielten wir für eine Woche Gerüst-Verbot. Bis ich das wieder verziehen hatte, das dauerte eine Weile.

Ich bin im Sternzeichen Skorpion. Jene sind angeblich von Natur aus rachsüchtig und vergessen niemals eine Bosheit. Wäre möglicherweise auch eine Erklärung. Wenn auch natürlich keine Rechtfertigung für mein oftmals egozentrisches Verhalten anderen Menschen gegenüber.

Mein Auftreten und meine Dominanz variierten immer sehr unterschiedlich nach Tagesform und auch abhängig von den Personen, mit welchen ich mich umgab. Im Nachhinein betrachtet war ich für die Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen schon immer etwas immun und es fiel mir schwer, mich in andere hineinzuversetzen.

Manche Regeln zu befolgen fiel mir ebenfalls schon immer schwer. Ganz besonders dann, wenn jene nur für MICH allein galten und die anderen nicht betrafen. Es kann gut möglich sein, dass auch dies eine unterbewusste Rebellion meiner Seele darstellte, nachdem mein Diabetes ausgebrochen war und mir plötzlich sämtliche Freiheiten in puncto Essen und Trinken genommen waren. Ganz egal wohin ich ging, so war doch stets das nervige Mäppchen mit dem verhassten Inhalt an Spritzen und Co. irgendwo im Gepäck. Und auch in meinem Hinterkopf.

Im späteren Kindesalter wurde es noch eine Spur extremer. Auf Familienfeiern empfand ich es beispielsweise als herabwürdigend, dass ich nicht zusammen mit den Erwachsenen mit Alkohol anstoßen durfte, weil ich nach deren Aussagen noch zu klein war. Durch diese völlig normale Handhabung fühlte ich mich stark diskriminiert und ausgeschlossen. Obwohl es eigentlich das Normalste der Welt ist.

Gab es Meinungsverschiedenheiten und wurde geschrien, so war es ein sehr ernüchterndes Gefühl, wenn ich nicht zurück brüllen durfte. Schließlich haben Erwachsene ja andere Rechte als Kinder. Bescheuerte Logik – jeder ist doch schließlich gleich viel wert, oder? Hören wir das nicht täglich tausendfach in den Medien? Gleichstellung, Toleranz, gleiches Recht für alle?

Obwohl es hier doch eigentlich nur um eine Form des Respekts geht. Es dauerte lange, bis ich das begriff. In Kindertagen fühlte sich das so falsch an.

Heute vertrete ich die Meinung, dass im Grunde niemand grundlos schreien sollte. Weder die Eltern noch die Kinder. Schreien macht krank. Eine vernünftige und sachliche Diskussion ist deutlich effektiver. Aber natürlich platzt jedem mal die Hutschnur …

Ich kündigte bereits als Kind des Öfteren an, dass ich an meinem 16. Geburtstag (damals war es noch ab 16 erlaubt) mit dem Rauchen anfangen würde. Und genau so kam es auch. Was ich ohnehin von der Logik als Kind niemals begreifen konnte war die Tatsache, dass viele Erwachsene rauchten, obwohl es doch angeblich so ungesund wäre. Sie priesen es sogar selbst als schlecht an, taten es aber trotzdem in der Gegenwart von uns Kindern. Also musste doch wohl irgendetwas dran sein, was es das wert machte zu tun, oder? Möglicherweise reizte mich auch hierbei das Verbotene, bei welchem ich es nicht erwarten konnte, die Gleichberechtigung mit dem 16. Lebensjahr endlich zu besitzen.

Immer wieder stellte sich für meine Eltern die Frage: Hält man sich strikt an Regeln oder lässt man in gewisser Hinsicht auch mal locker und sorgt somit für Entlastung? Denn schließlich leidet die Seele zusätzlich, wenn man alles Schöne komplett aus dem Leben verbannt und verbietet. Was ich aus moralischem Aspekt heute mehr als nachvollziehen kann. Denn jeder meint es auf seine persönliche Art und Weise gut und versucht natürlich nur das Beste. So auch damals in meinem Fall.

Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich persönlich vorgehen würde, hätte ich ein Kind mit diesem Handicap. Höchstwahrscheinlich würde ich es dazu ermutigen, sein Leben zu leben und zu genießen, so weit wie nur möglich. Eventuelle Konsequenzen kann schließlich niemand exakt prophezeien und es kann jeden Tag zu Ende sein. Wer garantiert schon das Morgen? Vielleicht stürzt in den nächsten zehn Sekunden das obere Stockwerk auf mich herunter und somit wäre meine Geschichte gänzlich hinfällig. Hoffen wir es mal nicht, ich möchte noch ein bisschen mehr aus meinem „turbulenten“ Leben erzählen…

Heute frage ich mich manchmal, warum ich nicht etwas konsequenter und strenger erzogen wurde. Warum ich niemals wirklich motiviert wurde, an einer Sache konstant dranzubleiben, so wie dies bei anderen Kindern der Fall ist. Sehr viele Kinder entdecken durch eine virtuose Ader in ihrer Kindheit die Liebe zur Musik und erlernen beispielsweise ein Instrument. Andere finden in sportlicher Hinsicht eine freudige Begabung und bauen diese mit Leidenschaft aus. Zum Beispiel in einem Verein.

Ich dagegen probierte zwar einiges, hatte aber meist beim ersten Fehlschlag wieder genug. Warum nahm mich niemand an die Hand und motivierte mich zum Weitermachen? Die Antwort lautete, man wollte mir einfach nichts aufzwängen. Schließlich hatte ich schon genug an der Backe, womit ich mich herumschlagen musste. Und durch meine ungeduldige Ader schien das auch gar nicht so einfach zu sein. Irgendwann würde ich bestimmt etwas finden, was mir zusagte und worin ich aufgehen konnte. Außerdem hatte sich meine Mutter bereits in Kindertagen geschworen, ihre eigenen Kinder eines Tages zu nichts zu zwingen, was sie nicht aus eigener Leidenschaft gerne tun wollten.

Manchmal war ich ein Quälgeist. Bekam ich meinen Willen nicht, so nörgelte ich so lange herum, bis des lieben Friedens willen endlich einer nachgab. Somit hatten meine Eltern zwar ihre Ruhe und ihr Gewissen entlastet, allerdings glaube ich heute, dass mir erziehungs- und disziplintechnisch fürs Leben kein allzu großer Gefallen getan wurde. Hätte man mich doch nur ein- oder zweimal länger quengeln lassen. Das mochte zwar damals eventuell etwas nervtötender gewesen sein, aber ich hätte wesentlich früher einen besseren Bezug zu Regeln, Grenzen und Realität gehabt. Das ist jedoch alles andere als vorwurfsvoll gemeint. Es ist nur so ein Grundgedanke, welcher mich gelegentlich beschäftigt.

Im Nachhinein weiß ich, dass man es immer gut mit mir meinte. Außerdem waren meine Eltern ebenfalls beide mit vielerlei eigenen Sorgen beschäftigt, welche sie belasteten. Davon bekam ich in frühen Kindertagen jedoch niemals etwas mit, was ich ihnen bis heute sehr zugute halte. Wenn man sich dagegen viele andere Rabeneltern ansieht, welche in Gegenwart ihrer Kinder brüllen, mit Dingen schmeißen, Gewalt anwenden oder sich mit diversen Rauschmitteln ausklinken. In dieser Hinsicht waren bzw. sind meine Eltern mehr als ein Griff in den Glückstopf.

Der lässige Onkel

Als ich etwa 5 Jahre alt war, nahm ich zur Kenntnis, dass ich fast jedes Wochenende zusammen mit meiner Mutter auf Besuch zu einem guten alten Bekannten, Ernie Beck, fuhr. Etwa eine Stunde Fahrt entfernt von zuhause, inmitten der Berge im Allgäu. Ein Jugendfreund von ihr, mit welchem sie bereits seit ihrem 16. Lebensjahr eine Art On-Off-Beziehung hatte. Das war noch bevor sie meinen Vater kennenlernte, welcher damals in der ehemaligen DDR auf Besuch war. Auch ihr damaliger Freund Ernie Beck immigrierte wie meine Mutter nach der Wende in den Westen. Ich hatte ihn schon öfter mal gesehen, wenn er bei uns zu Festlichkeiten eingeladen war, ihn aber bis dahin niemals als tragende Rolle in unserem Leben wahrgenommen. Für mich war er stets nur der lässige „Onkel Beck“, welcher mir gelegentlich seinen Gameboy zum Spielen auslieh. Aber natürlich ahnte ich als Kind noch nicht, dass ER der baldige Anlass zur Trennung meiner Eltern sein würde.

Dass es damals zwischen meinen Eltern kriselte, davon bekam ich niemals etwas mit. Das Einzige, was mir bewusst auffiel, war, dass meine Mutter gegen Ende des gemeinsamen Zusammenlebens mit meinem Vater vermehrt im Gästezimmer schlief. Hinterfragte ich dies damals überhaupt? Keine Ahnung. Und wenn, so könnte ich mir vorstellen, dass simple Ausreden benutzt wurden, um mich nicht unnötig zu verunsichern. Beispielsweise,,Papi schnarcht“ oder so. Jedenfalls interessierte es mich auch nicht sonderlich. Ich war schon immer viel eher mit mir selbst beschäftigt, als mich um andere Menschen zu kümmern. Selbst dann, wenn sie mir nahe standen. Wird schon seinen Grund gehabt haben.

Meine Mutter erzählte mir im Nachhinein, dass Onkel Beck nur der Anlass zur endgültigen Trennung war, jedoch nicht die Hauptursache. Über die Jahre hatte sich schlichtweg herausgestellt, dass meine Eltern vom Wesen her zu unterschiedlich waren. Dass es sich jemals um die „ganz große Liebe“ beiderseits handelte, bezweifle ich heute. Beide stritten dies im Nachhinein mehrfach ab.

Mein Vater war beispielsweise sehr unternehmungslustig. Beinah jedes Wochenende wollte er etwas Besonderes mit der ganzen Familie unternehmen, um ganz besonders mir als Kind eine große Freude zu bereiten. Was er auf seine Art lieb meinte, war für meine Mutter häufig eine Spur zu viel. Sie wollte auch hin und wieder ihre Ruhe haben und einfach nur gemütlich auf dem Sofa sitzen und Formel 1 schauen.

Ich glaube, dass mein Vater die Beziehung in gewisser Weise aus jener Intension heraus einging, um seiner konservativ und traditionell eingestellten Familie zu gefallen und deren Ansprüchen in Form vom „erfolgreichen Geschäftsmann mit Ehefrau und Kind“ zu entsprechen. So wie es sich in der guten Gesellschaft „eben gehört“.

Bei meiner Mutter war es nach ihren eigenen Angaben wohl anfänglich das „große Los mit dem erfolgreichen Wessi“, wie sie es mir später selbst einmal umschrieb und im Laufe der Zeit dann eben das gewohnte Alltagsmuster, welchem sich die meisten Menschen nach und nach zu fügen lernen. Gezielt geplant war ich laut Erzählungen nicht. Allerdings traf man auch keine Maßnahmen, welche eine Schwangerschaft gänzlich verhindert hätten.

Natürlich verstand ich mit 5 Jahren noch nichts von Treue und sonstigen Vereinbarungen zweier Menschen innerhalb einer Ehe. Ich wusste nur so viel, dass Mami und Papi eben zusammengehörten, ohne irgendwelche Einzelheiten zu kennen. Ich war bis dato auch noch nicht aufgeklärt. Einst fragte ich meinen Vater einmal, wo denn eigentlich die Kinder herkämen. Er meinte damals nur zu mir, wenn sich Mami und Papi zusammen beide ganz fest ein Kind wünschen, dann kommt es irgendwann ganz automatisch in den Bauch der Mami. Aus heiterem Himmel eben, von Gott, dem Storch oder woher auch immer. Ich hinterfragte damals keine weiteren Einzelheiten.

Als ich einige Jahre später (es muss im 1. oder 2. Grundschuljahr gewesen sein) von einem Mitschüler erfuhr, wie Kinder tatsächlich entstehen, so konnte ich das zunächst gar nicht recht glauben. Ich befürchtete, dass mich mein Klassenkamerad verarschen wollte.

Dass meine Mutter und Onkel Beck bereits vor der Ehe meiner Eltern eine Beziehung hatten, war mir damals nie bewusst gewesen. Ab einem gewissen Zeitpunkt war es dann auch völlig normal, dass wir die Wochenenden bei Onkel Beck verbrachten. Wir verstanden uns prima. Ich mochte die lässige Atmosphäre. Alles war so locker und unkompliziert. Was mir als Kind ganz besonders viel Spaß machte, waren die gemeinsamen Spieleabende an der geliebten Nintendo 64, von welcher auch Onkel Beck ein Modell besaß. Wir spielten gemeinsam Mario-Kart und lieferten uns stundenlange Kämpfe, indem wir Jagd auf unsere Gegenüber machten, um ihnen im „Battle-Mode“ die Ballons wegzuschießen. Noch heute überkommt mich eine Art nostalgisches Gefühl, wenn ich daran denke, wie viel Spaß wir damals mit dem Spiel in der herrlichen Retro-Grafik hatten. Die heutigen Spiele sind alle so furchtbar hektisch und aufdringlich. Auch wenn die tolle Grafik keinerlei Vergleich mehr darstellt.

Durch Onkel Beck lernte ich auch mein baldiges neues Lieblingsspiel, Tetris, kennen, welches ich fortan nonstop auf seinem Gameboy spielte. Auch die erste Version von Snake auf dem alten Nokia Handy wurde schon bald von mir über Stunden „gesuchtet“, wie man heute so schön sagt. Für Geduldsspiele dieser Art konnte ich mich stundenlang begeistern.

 

Onkel Beck kannte sich außerdem sehr gut mit Computern aus. Bisher war ich nie großartig damit in Kontakt gekommen, außer gelegentlich im Geschäft meines Vaters, welcher jenen aber nur für Kundenkontakte, Buchführung oder Bestellungen benutzte. Für mich als Kind größtenteils uninteressant. Onkel Beck dagegen spielte an dieser neuen interessanten Entdeckung sämtliche Spiele, welche mich in Kindertagen weitaus mehr faszinierten als Rechnungswesen und Tabellen. Ich schaute Onkel Beck wiederholt bei „Moorhuhn 2“ und „Melker“ über die Schulter und beobachtete ihn dabei, wie er in einem weiteren Retrospiel durch unterirdische Gänge lief, um Gegner abzuknallen. Auch ich durfte mich immer mal wieder daran versuchen. Weiterhin war Onkel Beck in Bildbearbeitung und Fotografie äußerst gewandt. Jenes Hobby begann meine Mutter schon sehr bald mit ihm zu teilen. Gemeinsam gingen sie stundenlang in die freie Natur und machten die schönsten Aufnahmen.

Auch meinem Vater schwärmte ich fortan von den coolen Stunden mit Onkel Beck und meiner Mutter vor. Was diesen im Nachhinein betrachtet sehr verletzt haben muss. Doch so weit dachte ich als Kind noch nicht. Plump und unüberlegt, so wie die meisten Kinder, plapperte ich stets heraus, was ich gerade dachte.

Im Nachhinein kann ich gar nicht wirklich verstehen, warum mein Vater das alles so bedingungslos hinnahm, dass meine Mutter Wochenende für Wochenende mit mir zu Onkel Beck fuhr. Ganz eindeutig in dem Wissen, dass dort zwischen ihnen deutlich mehr lief als nur entspannte Foto-Ausflüge und gemütliche Konsolen-Abende. Was für mich in jungen Jahren nur nach harmlosen Besuchen bei einem lockeren Freund aussah, war tatsächlich das nahende Ende der Ehe meiner Eltern.

Liebte mein Vater meine Mutter nicht genug, um sie zurückzuhalten? Sollte er überhaupt noch Kraft in eine Sache investieren, die doch schon eindeutig gegessen zu sein schien? War er zu weich und gutmütig? Wie tief saßen ihre Differenzen tatsächlich? War es jemals Liebe oder einfach nur ein gescheiterter Versuch, welcher schließlich in der puren Gewohnheit endete? Am Ende womöglich sogar nur noch meinetwegen? So viele Fragen schossen mir über die Jahre durch den Kopf, auf welche es am Ende doch niemals eine Antwort geben wird. Auch wenn mir beide ihren Standpunkt mehrmals aus ihrer jeweiligen Perspektive erläuterten, so glaube ich doch nach wie vor, dass sich beide in gewisser Weise etwas vormachten. Mein Vater wollte dem Idealbild einer konservativen Gesellschaft entsprechen, welches von ihm erwartet wurde, und meine Mutter fügte sich dementsprechend. Aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. Spätestens als das Feuer zwischen meiner Mutter und Onkel Beck wieder aufflammte. Inwieweit und wie lange es vorher schon kriselte, kann ich nicht beurteilen. Ich kann mir nur aus Erzählungen ein eigenes Urteil bilden. Doch was sollte das im Nachhinein noch großartig ändern? Es sollte wohl nicht sein.

Eines Tages wurde mir berichtet, dass ich mit meiner Mutter bald umziehen würde. In eine neue Wohnung in der Nachbarortschaft. Gleich neben dem Kindergarten, in welchem sie als Erzieherin arbeitete. Jedoch ohne meinen Vater. Aber warum? Das verstand ich nicht.

Für mich fühlte es sich am Anfang noch wie ein großes Abenteuer an. Ich erinnere mich bis heute, dass ich einmal quer durch den Kindergarten rannte und allen euphorisch von meinem baldigen Umzug berichtete.

Höchstwahrscheinlich war ich mit 5 Jahren noch zu klein, um eine Scheidung zu verstehen. Plötzlich hatte ich eben zwei Zuhause. Eines bei Mami, bei welcher ich unter der Woche lebte, das andere bei Papi, bei welchem ich von nun an nur noch die Wochenenden verbrachte.

Die neue Wohnung war nicht sonderlich groß und absolut kein Vergleich zu unserer alten Wohnung, in welcher mein Vater noch eine Weile nach unserem Auszug verblieb. Unter anderem, weil sich sein Geschäft direkt darunter befand. Die neue Bleibe, in welche ich gemeinsam mit meiner Mutter umzog, hatte nur zwei Zimmer. Eines für meine Mutter und eines für mich. Es gab noch nicht einmal Türen, nur eine Art Bogen, welcher die beiden Zimmer offen trennte. Daneben eine kleine Küche und ein winziges Bad mit Dusche. Vollkommen ungewohnt für mich, zum damaligen Zeitpunkt kannte ich nur Baden in der Wanne. Diese Wohnung diente fürs Erste nur zur Überbrückung. Meine Mutter plante, so bald wie möglich mit Onkel Beck zusammenzuziehen, sobald sie eine passende Wohnung in dessen Heimatstadt gefunden hätten, welche etwa eine gute Stunde Autofahrt von unserem alten Zuhause entfernt lag. Eine, welche genug Platz für UNS DREI bieten würde. Dachte ich damals zumindest …

Sehr bald erfuhr ich, dass sich mein schon länger andauernder Wunsch nach einem Geschwisterchen in naher Zukunft erfüllen sollte. Meine Mutter erwartete ein weiteres Kind. Allerdings nicht von meinem Vater, wie ich anfänglich dachte, sondern von Onkel Beck. Auch diese Tatsache ging damals weit über meine kindliche Vorstellungskraft. Ich war nach wie vor noch nicht aufgeklärt. Mehrmals fragte ich zur Absicherung, ob mein ungeborenes Geschwisterchen tatsächlich von Onkel Beck war. Und nicht doch ganz zufällig von meinem Vater, wie ich innerlich hoffte Als meine Mutter dies immer wieder bestätigte, glaubte ich es auch irgendwann. In jenem Fall würde es sich um ein Halbgeschwisterchen handeln, welches ich persönlich jedoch niemals so ansah.

Recht bald stellte sich heraus, dass ein Brüderchen unterwegs war. Schon lange vor seiner Geburt malte ich mir in bunten Farben aus, wie wir beide einmal zusammen Nintendo spielen würden und ich ihm eines Tages sämtliche Spiele und Strategien zeigen würde. Ich freute mich darauf, ein großer Bruder zu werden.

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann sich der genaue Zeitpunkt bestätigte, dass meine Mutter schwanger war. Jedenfalls warf diese Neuigkeit meinen Vater ziemlich aus der Bahn. Ohnehin hatte ihn die Trennung ziemlich mitgenommen. Seine kleine heile Familienwelt, für die er doch stets alles gegeben hatte, lag in Trümmern. Kurz darauf begann er, regelmäßig Alkohol zu trinken, verfiel in schwere Depressionen und magerte unmittelbar nach der Trennung auch etwas ab. Nachdem er von der Schwangerschaft meiner Mutter erfahren hatte, erlitt er seinen ersten körperlichen Zusammenbruch infolge eines epileptischen Anfalls, welcher durch den nun regelmäßigen Konsum von Alkohol noch bestärkt wurde. Die Kombination Epilepsie und Alkohol ist alles andere als förderlich. Von diesem ersten Zusammenbruch bekam ich als Kind allerdings nichts mit, es wurde mir erst viel später erzählt. Zum besagten Zeitpunkt war ich nicht bei ihm, sondern bei meiner Mutter.

Dass mein Vater nach Feierabend gerne ein oder zwei Gläschen Bier trank, war kein Geheimnis. Das ist auch absolut nichts Verwerfliches, viele Menschen tun dies. Aber nach der Trennung meiner Eltern nahm es wohl Überhand.

Seit mehreren Monaten lebte ich nun mit meiner Mutter in der kleinen Wohnung direkt neben ihrer Arbeitsstätte, dem Kindergarten. Die letzten Monate vor meiner baldigen Einschulung (welche in der Heimatstadt von Onkel Beck im Allgäu geplant war), verbrachte ich nun aufgrund der Trennung in diesem Kindergarten, weil es die damalige Situation handlicher machte. So konnten meine Mutter und ich täglich ganz bequem rüber laufen, es waren nur rund 100 Meter