Aus, Äpfel, Amen! Mia, die Feder

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MEINE EXISTENZ VOR MEINER GEBURT

Es heißt, man kann sich frühesten ab dem 3. Lebensjahr an die Vergangenheit erinnern.

Was war aber vor meiner Geburt? Habe ich vor dem Aufenthalt im Bauch meiner Mutter schon gelebt? Ich meine, haben mein Geist, meine Seele schon vorher existiert?

Aus meinem Unterbewusstsein steigt eine Geschichte empor und ich glaube, so war das wirklich. Und so erinnert sich mein Unterbewusstsein: Bevor Kinder auf die Welt kommen, sind sie kleine Seelen, die den Engeln verwandt sind. Sie halten sich im Paradies auf und bleiben dort, bis sie auf die Erde geschickt werden. Sie tummeln sich auf rosa und weißen Wölkchen, sie beten, musizieren, singen, lachen, unterhalten sich, fliegen umher und treffen sich mit anderen Seelchen.

Sie lesen Engels- und Erdgeschichten und natürlich tratschen sie auch unter- und übereinander.

Es gibt auch Freundschaften unter ihnen. Ich bin mit Ra sehr eng befreundet.

Wir unterhalten uns oft darüber, wie wohl unser Leben auf Erden sein wird. Wir werden wohl wie hier auch unten auf der Welt ein schönes Leben führen. Davon sind wir jetzt schon überzeugt. Wir werden Mittel und Wege finden, denn wir sind doch zwei Supergescheite.

Besonders gern blicken wir durch Wolkenfenster und beobachten die Menschen. Das Erdentreiben ist so interessant für uns, weil wir doch eines Tages runter und auch dort leben müssen. Was es da alles zu sehen gibt! Wir können nicht genug schauen.

Die Menschen lernen, studieren, arbeiten, feiern Feste, sind lustig und traurig, gesund und krank, dumm und gescheit, sie lachen und weinen, kämpfen, siegen, gewinnen und verlieren, sie hassen und sie lieben sich.

Ra hat eine rosa Brille, die sie zwischen den Wolken versteckt hält, denn offiziell ist diese nicht erlaubt. Aber wenn wir die Welt durch diese Brille anschauen, sieht man alles nur schön und so fehlerlos wie hier im Paradies und dieser falsche Eindruck soll laut Paradiesvorschriften nicht vermittelt werden.

Ra will deshalb die Brille an der Paradiespforte abgeben, aber ich bitte sie darum, denn die Benutzung gefällt mir und Ra schenkt sie mir.

Eines Tages, als wir uns wieder unseren Beobachtungen hingeben, sehen wir eine frühere Seele, die Joh, die sich nun auf Erden aufhält.

Ich kann mich noch genau erinnern, welche Wünsche Joh vor ihrer Sendung Gott gegenüber äußerte.

„Ich will schön, reich, gesund, erfolgreich und berühmt sein. Ich will immer viel Geld haben.“

Gott meinte darauf lakonisch: „Wenn es sonst nichts ist, das kann dir alles erfüllt werden. Aber willst du keine Liebe?“

„Ach, wenn sich alle meine Wünsche erfüllen, dann kann ich mir alles kaufen, alles was ich will.“

Und nun sehen wir plötzlich Joh.

Joh wurde als Mann auf die Erde geschickt. Und wirklich, Gott hat all seine Wünsche erfüllt. Wunderbar so ein Leben! Er muss einfach glücklich sein!

Doch dann zoome ich mir das Gesicht von ihm her. Die Augen sind ohne Glanz und wirken leer.

Er ist unglücklich. Er hat alles, alles erreicht, aber die Menschen lieben ihn nicht. Natürlich heucheln ihm die Menschen um ihn herum Freundschaft und Liebe vor, aber all das nur, um sich Vorteile durch ihn zu sichern.

Das werde ich mir merken, wenn ich mal nach meinen Wünschen gefragt werde.

Eines Tages ist es soweit, dass ich zu Gott dem Vater gerufen werde.

Ich bin schon ganz aufgeregt und flattere hin und her. Wie wird das Gespräch verlaufen?

Ein großer Engel geleitet mich zu Gott.

Er, Gott ist in ein strahlendes Licht gehüllt und schaut mich liebevoll an.

„Nun Ma, (dies ist mein Name hier), bist du bereit für die Erde?“ Ich kann nur nicken, denn zu groß ist meine Ehrfurcht vor dem Schöpfer.

„Ich sehe, du bist eine weiche, weibliche Seele und so werde ich dich in einem Mädchenkörper zur Erde senden.“ Ich habe keinen Einwand.

„Was wünscht du dir denn von deinem Erdendasein Ma? Willst du eine schöne Schauspielerin sein? Oder vielleicht eine begnadete Sängerin? Oder eine berühmte Tänzerin?“

Eigentlich möchte ich all diese Vorteile bei mir wahrnehmen. Besonders das Schönsein würde mir schon gefallen, aber wenn ich an Joh denke, nein, nein, nein!

Ganz zurückhaltend meine ich: „Ich will gar nicht viel und ich habe nur ganz bescheidene Wünsche.“

„Und die wären?“

„Ich will eigentlich nur, dass ich Menschen lieben kann und dass die Menschen mich lieben, ohne dass ich besonders gescheit, berühmt, reich oder schön bin.“

Oh Gott, das mit dem Nicht-schön-sein ist mir zu schnell rausgerutscht. So ernst habe ich das nicht gemeint. Aber nun habe ich das schon gesagt. Ich setze meinen Wunsch fort: „Die Menschen, das heißt nicht alle Menschen, aber wenigstens einige, sollen mich einfach lieben, so von ganzen Herzen und einfach so, weil ich es bin.“

Da schmunzelt Gott und meint: „Du denkst, dass deine Wünsche bescheiden sind?“ Er streichelt mir über die Wange. „Glaub mir, dein Wunsch ist der größte, den Menschen haben können. Lieben und geliebt werden, so aus tiefem Herzen, das ist das größte Glück, das man auf Erden erreichen kann. Dieses Glück zu finden ist gar nicht einfach und oft mit vielen Opfern und auch Leid verbunden. Aber wenn du dich anstrengst, kann es sein, dass du dieses Ziel erreichen wirst. Und noch etwas, lass die rosa Brille hier.“

Dann bin ich entlassen.

Auf die rosa Brille will ich aber nicht verzichten und verstecke sie schnell in einer Seelenfalte.

Der Engel geleitet mich zur Paradiespforte, klopft mir noch auf die Schulter, „Mach es gut, Ma!“ und ich schwebe meinem irdischen Leben entgegen, die rosa Brille fest an mich gedrückt.

Ist es der Wind oder höre ich die Stimme Gottes flüstern: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“

Dann schwinden meine Sinne und die Erinnerung an das Paradies ist ausgelöscht.

MEINE WURZELN, VORFAHREN, URGROSS- GROSS- UND ELTERN, UND VERWANDTE - CA. 1850 FF

Natürlich bin ich im irdischen Leben daran interessiert, wo ich herkomme, wo meine Wurzeln liegen, wo, was, wie, wer die Vorfahren waren.

Soweit meine „Vorderen“ während meiner Kindheit noch am Leben sind, lausche ich ihren mündlichen Überlieferungen und ihren Geschichten.

Vielleicht gibt es da doch ganz „Große“, vielleicht gehen meine Wurzeln bis zu Friedrich I, dem Barbarossa zurück, wo doch in meiner Familiengeschichte immer wieder Rothaarige auftauchen?

Es kann aber auch sein, dass meine Wurzeln auf die Wittelsbacher zurückgehen, weil ich mich ja auch so echt, ganz echt bayerisch fühle, wie die Wittelsbacher.

Ich suche, frage und finde???


Die Urgroßeltern

Nichts! Gar nichts! Überhaupt nichts!!

Keine Kaiser, Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, Grafen und Barone, keine edlen Ritter, keine Burgfräuleins. Na ja, damit muss und kann ich auch leben.

Nun gut, meine Vorfahren haben also keine Leibeigenen gehabt, keine Soldaten befehligt, in den Krieg geschickt und Menschen Unglück gebracht.

Dagegen lese ich bei meinem fränkischen Urgroßvater „Taglöhner“, ein Armer also, der sich um das tägliche Brot für seine Familie abrackern musste.

Niemand in der Familie ist an Hunger gestorben und er und seine Frau erzogen ihre Kinder Gretl, Peter und Georg (mein Großvater) zu anständigen Menschen. Bestimmt war ihr Lebenswerk größer als das der damaligen Großen.

Gerade will ich meine geistige Forschungsakte schließen, da blitzt eine kurze Anmerkung auf, die lautet: „Von Heuschneider – kleiner Landadel“.

Ich bin fündig geworden! Ich hab’s doch gewusst! Sofort hole ich mein virtuelles Mikroskop und überprüfe mein Blut, ob es auch blaues enthält.

Das Ergebnis zeigt nur ganz kleine hellblaue Restspuren, die keineswegs für „adelsfähig“ verwertet werden können. Aber wo liegt der Ursprung dieser mehr als mageren Spuren, die ich gefunden habe?

Nach den Erzählungen meiner Altvorderen liegt das Schloss in der Oberpfalz. Leider lebt keiner mehr, der mir dazu was berichten könnte.

Der Schlossherr, ein großer, stattlicher Mann, herrscht dort etwas rücksichtslos. Seine Frau, eine kleine, zierliche Person, deren rote, lange Haare bis zum Boden reichen, hängt mit Liebe an ihrem Mann. Dieser trinkt gerne mal über seinen Durst. Wenn er dann seinen Alkoholpegel erreicht hat, zieht er seine Frau aus dem Bett, packt sie an den Haaren und schleift sie so durch das ganze Schloss.

Wie wäre es da mir ergangen?

Bei meinem Gewicht wäre ich sicher ohne Haare, skalpiert auf der Strecke geblieben.

Dies ist also die Geschichte, die in der Erinnerung am weitesten zurück liegt.

Meine Oma hat nach ihren Berichten in ihrer Kindheit den letzten „Von Heuschneider“ noch gesehen. Er hat keine männlichen Nachkommen und das Geschlecht „derer von Heuschneider“ ist damit ausgestorben. Natürlich gibt es der Gegend Pfatter und Wiesent Heuschneider, aber keine „von“. Der letzte „von“ hat aber eine Tochter, die Anna. Diese heiratet einen angesehenen Bürgerlichen mit dem Namen Gottfried Fuchs.

Das Ehepaar Fuchs bekommt zwei Töchter,

Maria (*29. 01. 1857), mal wieder eine Rotblonde,

und

Anna (* 24. 06. 1858) eine Dunkelhaarige.

Maria ist meine Urgroßmutter.

Sie wird von meinem Urgroßvater

Johann Rettinger (*10. 05. 1852)

 

einem Zimmermann, geehelicht.

Das Ehepaar bekommt zwölf Kinder.

Das vorletzte Kind, die Tochter

Theresia, ist meine Großmutter.

Sie wird in Kelheim geboren (13. 10. 1896).

Meine Urgroßmutter ist also fast vierzig Jahre alt, als sie dieses Kind bekommt..

Den Dutzend-Reigen schließt noch eine Tochter, die

Rosa.

Meine Urgroßmutter ist damals fast fünfzig!

Meine Urgroßeltern verfügen zunächst über etwas Vermögen. Leider schwindet dieses für Arztkosten meiner Urgroßmutter und den Kindern schnell dahin. Daher übersiedelt die Familie von Wiesent nach Kelheim, als dort mein Urgroßvater einen Posten in der Forstverwaltung erhält.

Später zieht die Familie nochmals um, wohnt nun in Ingolstadt.

Die Familienmitglieder werden „Schanzer“.

ERSTKOMMUNION MEINER GROSSMUTTER

Bei der vorletzten Tochter Theresia wird schon in der Kindheit eine akute Herzschwäche festgestellt. Als sie mit neun Jahren an der 1. Hl. Kommunion teilnehmen soll, darf sie das nicht. Ihr Herzmuskel ist entzündet. Sie weint und will trotzdem unbedingt mitmachen. Der Pfarrer kommt ins Haus. Er will ihr die Erstkommunion zu Hause feierlich gestalten. Nein, nein und nochmals nein, sie will im weißen Kleid in der Kirche teilhaben. Theres ist aber zu schwach und der Doktor lehnt dies kategorisch ab.

Der Pfarrer verspricht ihr dann, dass sie extra eine Erstkommunion bekommen soll, sobald es ihr wieder besser geht. Damit ist die selbstbewusste Kleine endlich einverstanden.

Wirklich, als sich im Herbst ihr Zustand stabilisiert hat, wird für sie die Feier in der Oberen Pfarr angesetzt. Überglücklich sitzt sie in der Kirche.

Dann eine Überraschung! Alle Mädchen, mit denen sie Kommunion gefeiert hätte, kommen in ihren weißen Kleidern und begleiten sie zum Tisch des Herrn. Zu Hause ist sie an diesem Tag der große Mittelpunkt.

Sogar ihre Tante Anna, die Schwester ihrer Mutter ist angereist. Diese Feier bleibt Theres ihr Leben lang in wunderschöner Erinnerung.

Außerdem macht ihre elegante Tante Anna wieder großen Eindruck auf sie.

Was die alles für Geschichten zu erzählen weiß. Am liebsten würde sie mit ihr fahren!

DIE KAMMERZOFE ANNA FUCHS

Die Schwester meiner Urgroßmutter, die Anna, denkt nie daran, zu heiraten.

Auf Empfehlung kommt sie an den Kaiserhof in Wien und dient der Kaiserin Elisabeth, genannt Sisi (*24. 12. 1858), als Kammerzofe.

Die Kaiserin ist mit ihrem Cousin, König Ludwig II. (*25. 08. 1845, †13. 06. 1886), sehr eng befreundet. Sisi hält sich mit ihrem Hofstaat’(immer ca. hundert Leute) am 13. Juni 1886, dem Todestag des Königs, auch am Starnberger See in Feldafing auf. Sie ist ja in Possenhofen am Starnberger See aufgewachsen. All diese Zeitzeugen stehen auf dem Standpunkt, dass der König ermordet wurde.

DIE KINDER MEINER URGROSSELTERN

Meine Urgroßeltern klagen nie, auch als der 1. Weltkrieg Elend und Hungersnot über die Familie bringt. Natürlich setzen die erwachsenen Söhne und Töchter, soweit es ihnen möglich ist, alles daran, die Familie zu unterstützen.

Ein Sohn, der Gottfried II, verliert im 1. Weltkrieg beide Beine.

Gottfried wird nach einem Bruder benannt und getauft, den sie schon im Kindesalter verlieren.

Gottfried I

(der erste) ist ein aufgeweckter Bub. Die Mutter mag ihn besonders gern. Seine leuchtenden Augen, sein Lachen, seine Fröhlichkeit helfen ihr oft über die anstrengenden, arbeitsreichen Tage. Und auch Gottfried hängt mit seiner herzlichen Kinderliebe an seiner Mutter. Er ist eigentlich ein folgsamer Sohn.

Nach der Schule wird die Schulkleidung ausgezogen. Eine alte Hose mit Flicken genügt zum Spielen.

Nach dem Mittagessen verbringt Gottfried die Zeit meist draußen mit Freunden. Sie springen, lachen, wieseln hin und her, spielen Räuber und Gendarm, Fangermandl, Schussern, und was den Buben eben einfällt.

So auch heute wieder.

Jetzt kommt gerade ein Stadtbauer mit seinem Pferdefuhrwerk, das mit einem Odelfass beladen ist.

Die Kinder laufen auf das Fuhrwerk zu. Sie wollen alle ein Stück mitfahren, indem sie sich auf die Deichsel setzten oder sich sonst wie anhängen.

Natürlich rennt auch Gottfried mit um sich auf oder an dem Fuhrwerk einen Platz für eine kurze Mitfahrt zu sichern.

Seine Mutter hat dies immer wieder untersagt. Aber nun schlägt er die warnenden Worte seiner Mutter in den Wind. Er will ja nur ein ganz kleines Stück bis zum Elternhaus hin mitfahren, dann abspringen und heimgehen. So schnell fährt ein Pferdefuhrwerk ja auch nicht.

Schon hängt er an der Seite des Leiterwagens. Er freut sich. Die Mutter wird schon nicht gerade jetzt einen Blick aus dem Fenster auf die Straße werfen und ihn sehen, denn er will hernach ihre ermahnenden und tadelnden Worte nicht hören. Gleich fährt das Fuhrwerk am Haus vorbei.

Gottlieb will schnell auf die Straße hüpfen. Doch irgendwie bleibt er hängen.

Der geplante Sprung klappt nicht. Gottfried fällt, landet auf der Straße, aber ganz unglücklich zwischen die mit Eisen beschlagenen Räder. Eines dieser rollt über seinen schmächtigen Kinderkörper.

Sofort entsteht ein Tumult, die Kinder schreien. Der Bauer ruft, ein Doktor soll schnell geholt erden, ein Nachbar läuft gerade hinaus und hilft, den verunglückten Buben unter dem Fuhrwerk herauszuziehen.

Die Mutter drinnen im Haus hört das Geschrei, geht an das Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Ihre Augen weiten sich im Entsetzen, das Blut weicht aus ihrem Gesicht, der Boden schwankt unter ihren Füßen, sie muss sich am Schrank festhalten, um nicht umzufallen.

Gottfried war doch gerade noch lachend und fröhlich hier beim Essen und nun schleppen sie ihr Kind in eine Decke eingewickelt, sterbend ins Haus.

Sie öffnet die Türe. Sie braucht keine Erklärung, sie weiß, was passiert ist. Sie hilft, den Bub auf das Sofa zu legen.

Gottfried ist bei Bewusstsein.

„Mutter, ich bin vom Wagen gefallen, bitte schimpf nicht.“

„Nein, mein Kind, das tu ich nicht.“

Obwohl sie sieht, dass keine Hilfe mehr möglich ist, soll der Doktor schnell kommen. „Heilige Maria Mutter Gottes, vom siebenfachen Schwert durchbohrt, steh mir bei!“ Sie wischt Gottfried das leichenblasse Gesichtchen ab. Der kalte Schweiß steht ihm auf der Stirn. „Jetzt kommt gleich der Doktor. Dann geht es dir schnell wieder besser.“

„Ja, Mutter, aber ich hab Durst. In meinem Bauch brennt es so heiß.“

Die Nachbarin, die auch hier im Haus Bescheid weiß, bringt ein Glas Apfelsaft. Die Mutter hebt seinen Kopf und hält ihm das Glas an die zitternden Lippen. Mit gierigen Zügen leert Gottfried das Glas, sein Köpfchen gleitet auf das Kissen zurück.

„Mutter, jetzt muss ich bieseln.“

Schnell holt die Nachbarin ein Nachthaferl herein. Die Mutter hebt die Decke auf und schiebt es unter das stöhnende Kind. Gottfried muss nicht bieseln, es ist alles Blut, das so aus seinem sterbenden Körper heraus läuft.

Es zerreißt ihr fast das Herz. Sie schiebt ihren Arm unter das Kopfkissen und hält das Kind, so an sich gedrückt, fest.

Kurz darauf meint er wieder: „Mutter, ich muss schon wieder.“

„Mach dir da jetzt keine Sorgen. Lass es einfach laufen. Später werde ich das alles waschen.“ Sie schaut in das Gesicht ihres Kindes. Ist das Näschen nicht schon ganz weiß und spitz?

„Mutter, wenn ich jetzt sterbe, komme ich dann in die Hölle, weil ich nicht gefolgt habe?“

„Ach, mein Lieber, du kommst nicht in die Hölle. Du bist doch ein braver Bub.“

„Du, Mutter, wenn ich sterbe, komme ich dann in den Himmel?“

„Herzerl, freilich kommst du in den Himmel.“

„Du, Mutter, wenn ich jetzt sterbe, komme ich dann gleich in den Himmel?“

„Du kommst freilich gleich in den Himmel.“

„Du Mutter, spielen dann die Engel mit mir?“

„Ja, Liebling, die Engel spielen dann mit dir.“

„Du, Mutter, ich sehe Engel, die winken mir schon zu und wollen mit mir spielen … Mutter, komme ich wirklich gleich in den Himmel?“

„Du kommst ganz, ganz schnell in den Himmel.“

„Mutter, ich seh in den Himmel. Es schaut so schön aus. Bin ich jetzt gleich dort?“

„Ja, du bist gleich dort.“

„Mutter, die Engel fliegen zu mir her und holen mich jetzt.“ Gottfried hebt seine Händchen den Engeln, die er sieht, entgegen. Ein seliges Lächeln umspielt seine Lippen. „Sie sind da und ich bin gleich im Himmel.“

Seine Ärmchen fallen zurück und mit einem verzückten Lächeln im Gesicht macht er einen tiefen Atemzug, dann ist es vorbei.

„Oh Herr, gib ihm die ewige Ruhe …“

Die Mutter schließt ihm die Augen, dann verliert sie das Bewusstsein.

Diesen Schicksalsschlag kann Urgroßmutter Maria ihr Leben lang nicht verarbeiten und oft vergießt sie heiße Tränen. Doch das Leben geht weiter … weiter … weiter …

Alle Kinder hängen an ihren Eltern, auch wenn diese streng sind.

Theresia liebt ihre Mutter sehr. Als mal die Rede auf das Sterben kommt, meint sie: „Mutter, wenn du mal stirbst, dann will ich auch nicht mehr leben.“

„Ach Kind.“

„Doch, Mutter, wenn du stirbst, dann springe ich in dein Grab.“

Die Mutter lächelt mild: „Ach Kind, wenn ich sterbe, dann wird es dir schon sehr wehtun. Aber glaub mir, ein Jahr später wirst du wieder singen, lachen und springen. Glaub mir das!“

Ja, das Leben geht immer wieder weiter …

DIE SCHWESTERN

Eines Tages bekommen sie in Ingolstadt Besuch aus Pfatter, den Huber Sepp.

Als junges Mädchen schwärmt Maria für den Josef. Doch der hat damals nur Augen für die dunkelhaarige Anna.

Jetzt beim Kaffeetrinken hält ihm Maria dies nun lachend vor. „Ja mei“, meint er, „für eine schwarze Kirsche steigt man halt höher, als für eine rote.“ Und: „Maria, natürlich warst du auch a Saubere. Aber ein wenig hast du schon eingebüßt“, meint er lächelnd.

„Wenn du von einem Baum zwölf Äste abbrichst, dann schau mal, wie der dann ausschaut“, ist Marias Antwort.

Auch wenn Anna, die Schwester Marias, sich mit dem Hofstaat aus Wien öfters in Possenhofen aufhält, so hat sie doch kaum Gelegenheit, nach Ingolstadt zu kommen.

Es treffen aber immer wieder Schließkörbe mit Kleidern, Blusen, Röcken und Hüten von ihr in Ingolstadt ein. Die Kleider aus Samt und Seide, mit Spitzen, Rüschen, Volanten, Stickereien und Schleppen, können zwar von ihren Nichten nicht so getragen werden, aber die tüchtigen Mädchen trennen, schneidern, ändern und schaffen so tragbare „bürgerliche“‘ Kleidung.

Anna fühlt sich in Wien wohl. Sie genießt das abwechslungsreiche Leben am Hof. Für sie würde es nie in Frage kommen, das Leben einer Hausfrau zu führen, kochen, waschen, putzen, nähen, bügeln, für einen Ehemann da zu sein und (s)eine Herde Kinder aufzuziehen.

Nein … nein … niemals … und nochmals nein … Sie sieht sich genug an ihrer Schwester. Sie mag Kinder, aber ihr schönes Leben für eine Ehe aufzugeben? Nein … und nochmals nein …

Sie hängt an ihren Neffen und Nichten. Besonders die vier Mädchen liegen ihr am Herzen. Ihnen will sie ihr Vermögen testamentarisch vermachen. Maria, Anna, Resi und Rosi sollen eine solide Aussteuer bekommen. Dies hat sie immer wieder erwähnt und betont.

Als dann ihre Kaiserin 1898 ermordet wird, ist Anna gerade 40 Jahre alt. Sie verlässt Wien und geht nach München. Hier nimmt sie eine herrschaftliche Wohnung, richtet sie mit Antiquitäten, Gemälden und Teppichen geschmackvoll ein. Sie verfügt über einen roten und einen blauen Salon. Sie führt ein angenehmes Leben.

Außerdem hat sie einen jüngeren, gut aussehenden Liebhaber, dem sie ziemlich verfallen ist. Sie sieht nur seine schöne Gestalt, sein weltgewandtes Auftreten, glaubt all seinen Liebesbeteuerungen. Nichts kann sie von ihm abbringen. (Verfügt sie vielleicht über eine rosa Paradiesbrille?)

Als sie stirbt, gibt es keine Testamentseröffnung, denn es ist kein Testament da. Es befinden sich weder teure Möbel noch Gemälde in der Wohnung. Weder Schmucksachen, Bargeld noch Bankguthaben werden gefunden. Der magere Erlös aus dem Verkauf der restlichen Sachen reicht gerade für eine einfache Beerdigung. Ihr Liebhaber ist schon lange vorher über alle Berge.

 

So ist wieder ein Lebenskapitel abgeschlossen und dem Vergessen hingegeben. Aber man ist erst dann tot, wenn man vergessen ist!

Wahrscheinlich bin ich die Letzte, die etwas über sie berichtet.