Tödliche Klamm

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6

Die Weste war steif und schwer. Sie wog mehrere Kilo und presste sich an den Oberkörper. Es war unangenehm, das Teil zu tragen. Auch das Atmen war anstrengender, weil man nicht nur das Gewicht des Brustkorbs, sondern auch das der Bleiweste heben und senken musste. Damals auf der Polizeischule hatte sie einmal an einem Leistungstest teilgenommen, der verdeutlichte, wie sehr das Gewicht der Weste die Ausdauer beeinflusste. Normalerweise lief sie eine Stunde auf dem Laufband, ohne großartig ins Schwitzen zu kommen. Mit Weste musste sie bereits nach einer Viertelstunde völlig entkräftet abbrechen.

»Wir haben Verstärkung bekommen«, verkündete Hauptkommissar Kern, schob sein Handy, mit dem er eben telefoniert hatte, in die Brusttasche seiner Lederjacke und griff nach seiner Weste. »Zwei weitere Beamte kommen separat und treffen sich mit uns in der Seitenstraße gegenüber des Einsatzortes.« Er sah sich in der Runde im Einsatzfahrzeug um. Reischmann und Willig, beide Anfang 20, wenig Erfahrung und sichtlich nervös. Des Weiteren seine neue Kollegin Jessica Grothe – sie schaute verbissen aus dem Fenster, als der Kleinbus in Richtung Innenstadt abbog. Sie hatte laut eigener Aussage bereits an solchen Einsätzen teilgenommen, doch war sie eine zierliche Frau. Ein Krimineller ohne Skrupel würde sie einfach über den Haufen rennen. Einem Mann hatte sie kräftemäßig nichts entgegenzusetzen. Kern machte sich Sorgen um seine drei Schützlinge. Bei einer Drogenrazzia waren meist auch Schusswaffen involviert. Er hoffte inständig, dass alles nach Plan verlief. Für die Verstärkung durch zwei weitere Beamte war er deshalb sehr dankbar. Auch, weil er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, denn das Präsidium war aufgrund diverser Krankheitsfälle seit Wochen unterbesetzt. Doch der Einsatz konnte nicht warten. Insider hatten verraten, dass die verdächtigen Drogenhändler sich in Kürze absetzen wollten.

»Ich erwarte, dass sich alle Anwesenden genau an meine Anweisungen halten«, beschwor er die drei, als der Kleinbus hielt. Alle nickten. »Da kommt ja schon der Streifenwagen.«

Jessica Grothe schloss kurz die Augen, als sie sah, wer aus dem Auto hinter ihnen stieg.

»Guten Abend, Herr Hauptkommissar«, begrüßte Florian Forster den älteren Kollegen und reichte ihm die Hand. Neben ihm stand Hauptkommissar Dietmar Heller, ein sehr erfahrener Beamter mittleren Alters, und lächelte freundlich. »Wie sieht Ihr Plan aus?«

»Das Gebäude hat zwei Eingänge«, begann Kern zu berichten, holte einen Grundrissplan hervor und faltete ihn auseinander. »Die Tür vorne ist nicht das Problem. Der Bereich ist übersichtlich, da er in einen Flur führt mit nur einem einzigen Durchgang zum Barbereich. Die Front ist also gut zu sichern.«

Jetzt deutete er auf den Hof hinter dem Gebäude. »Die Hintertür ist eine kleine Holztür, die laut unserem Informanten nicht verschlossen ist, da der Hof von den Gästen zum Rauchen genutzt wird. Dahinter allerdings befindet sich ein Gang mit diversen Türen zu Waschräumen, zum Getränkelager und einem Aufenthaltsraum. Da sieht’s etwas kritischer aus.«

»Verstehe«, sagte Florian nur. »Und was ist mit diesen Fenstern? Sind das eventuelle Fluchtmöglichkeiten?« Er deutete auf eine Fensterfront an der Seite des Gebäudes. Die andere Seite grenzte fensterlos an das Nebengebäude.

»Ja«, bestätigte Hauptkommissar Kern. »Auch wissen wir nicht sicher, ob es einen Zugang zum Nebengebäude gibt, deshalb schlage ich vor, dass wir sehr zügig arbeiten und so viele Personen festsetzen wie irgend möglich. Am besten wird es sein, wenn wir alle im Barbereich zusammentreiben. Dieser Raum hat nur zwei Zugänge und keine Fenster.«

»Gut.« Forster nickte. »Dann sollten wir drei Teams bilden.«

Hauptkommissar Kern sah sich in der sechsköpfigen Runde um. Es war klar, dass immer ein erfahrener Beamter mit einem Frischling arbeiten musste, doch für den Hintereingang bräuchten sie eigentlich mindestens zwei erfahrene Polizisten. Sein Blick blieb an Jessica Grothe hängen, dann nickte er, als er die denkbar beste Entscheidung getroffen hatte.

»Heller und Reischmann sichern die Seitenfenster«, befahl er schließlich. »Wenn ich mich über Funk melde, kommen Sie rein.«

Hauptkommissar Heller nickte und der junge Kommissar Reischmann stellte sich neben den älteren Kollegen.

»Forster«, sprach Kern jetzt Florian direkt an. »Sie würde ich gern an den Hintereingang schicken.«

Ob es eine Bitte oder nur ein Vorschlag war, wusste Florian nicht, doch er stellte die Entscheidung nicht infrage, sondern nickte ebenfalls.

»Sie bekommen Hauptkommissarin Grothe an Ihre Seite. Sie hat im Gegensatz zu Kommissar Willig etwas mehr Erfahrung«, fuhr er fort. »Willig und ich gehen vorne rein. Alles klar soweit? Wir stehen in Funkkontakt.«

Wieder nickten alle und Florian sah verstohlen zu Jessica hinüber, die so tat, als würde ihre Weste nicht richtig sitzen. Sie zog die Klettverschlüsse fester und atmete mehrmals tief durch. Ihr Atem verwandelte sich in der Winterkälte in weiße Nebelschwaden.

Der Innenhof hinter dem Club war menschenleer, doch aus den Fenstern der Nebengebäude drang genug Licht, um den ganzen Bereich zu erhellen, sodass sie alles sehen konnten, obwohl es schon nach 19 Uhr und eigentlich bereits stockdunkel war.

»Jessy?« Florian, die Hand bereits auf der Klinke der kleinen Holztür, wartete nur noch auf den Befehl von Hauptkommissar Kern. Mit der freien Hand kontrollierte er, ob der Knopf in seinem Ohr richtig saß.

»Was denn?«, fragte Jessica, griff nach ihrer Waffe, zog sie aus dem Halfter und entsicherte sie. Dann stellte sie sich neben Florian.

Der aber schob sie mit ausgestrecktem Arm hinter seinen Rücken. »Du bleibst dicht hinter mir, verstanden?«

»Aber das ist doch Schwachsinn. Hinter dir bin ich doch überhaupt keine Hilfe«, fauchte sie flüsternd. »Ich nehme die zwei Türen rechts, du die Türen links.«

»Du bleibst dicht hinter mir.« Der Befehl klang unerbittlich, fast schon drohend.

Jessica nickte zwar, sah Florian aber wütend an.

»Forster? Grothe? Sie gehen leise rein und kontrollieren die hinteren Räume«, hörten sie plötzlich die Stimme von Hauptkommissar Kern in ihren Headsets. »Sobald Sie eine Person entdecken, geben Sie Laut und wir stürmen vorn.«

»Klar, Boss«, flüsterte Florian und drückte die Klinke hinunter.

»Und, Grothe«, wieder erklang die Stimme von Kern, »Sie bleiben wirklich hinter Forster. Das ist ein Befehl. Wir wollen Sie nämlich beide nicht verlieren.«

Florian grinste breit, als er sich ein letztes Mal zu Jessica umsah. Dann schob er langsam die Hintertür auf und trat in den schmalen Gang.

»Laut Plan ist das hier das Lager.« Florian deutete auf die erste Tür auf der rechten Seite. Er vergewisserte sich, ob Jessica hinter ihm stand und ob die Durchgangstür zum Barbereich zehn Meter vor ihnen zu war. »Du sicherst den Gang. Ist die Hintertür jetzt verschlossen?«

Als Jessica nickte und den kleinen Schlüssel in die Höhe hielt, der innen im Schloss gesteckt hatte, verschwand Florian im Lagerraum, sah sich kurz um und kam sofort wieder heraus.

»Keiner drin«, flüsterte er und verschwand fast augenblicklich hinter der Tür gegenüber.

»Kripo Kempten«, hörte Jessica ihn sagen und starrte auf die Tür, hinter der Florian verschwunden war. Der abgewetzte kleine hellblaue Aufkleber, auf dem ein eindeutig männliches Strichmännchen abgebildet war, verriet, was sich hinter der Tür befand. »Kommen Sie bitte mit. Hose zu, Spülen nicht vergessen.«

Hauptkommissar Kern meldete sich über Funk und wollte wissen, ob sie alles überprüft hatten, als die Tür aufging und ein älterer Mann in Jeans und Kapuzenpullover aus der Toilette torkelte und nur nicht umfiel, weil Florian ihn im Nacken und am linken Oberarm festhielt und vor sich herschob.

»Wow«, lallte der Typ. »Heiß, die Uniform.« Er stolperte und fiel Jessica direkt in die Arme. »Du bisch neu hier, oder?« Sein Atem roch unangenehm säuerlich nach schalem Bier und Zigaretten.

Jessica befreite sich und schubste den Mann brutal an die gegenüberliegende Wand. »Fass mich nicht an«, fauchte sie und schaute dann ärgerlich zu Florian, der ihr leicht belustigt zuzwinkerte.

»Tut mir leid«, flüsterte er trotzdem, drückte sich in dem schmalen Gang an den beiden vorbei, um kurz darauf vor der Tür mit dem rosa Aufkleber und dem weiblichen Strichmännchen stehenzubleiben.

»Das Ding hat Brüste«, sagte er leicht irritiert.

Erneut drang Kerns Stimme aus dem Headset.

Erst jetzt reagierte Florian auf Kerns Anfrage. »Nein, Kern, noch nicht. Wir haben noch zwei Türen.«

Er sah sich zu Jessica um, die den sturzbetrunkenen, aber ansonsten völlig harmlosen Mann immer noch auf Armeslänge von sich fernhielt.

»Geh du rein«, schlug er vor. »Das ist das Damenklo.«

Doch der Raum war leer wie zuvor schon das Lager.

»Wir schicken ihn zurück an die Bar«, schlug Jessica vor und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Betrunkenen, der inzwischen langsam die Wand hinunterrutschte und dabei leise vor sich hin summte. Aus dem letzten Raum drangen mehrere Stimmen und Musik. »Da müssen wir zusammen rein.«

»Gut«, stimmte Florian zu und sprach den Mann an. »Hey, Sie …!«

»Ich mach das schon«, unterbrach ihn Jessica, ging zu dem Betrunkenen hinüber und half ihm wieder auf die Beine.

»Hey, Süßer«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Geh doch schon vor an die Bar und bestelle mir einen Cocktail. Ich komme gleich nach.«

»Mmh, jaaaaa«, lallte der Typ, grinste etwas debil und rollte mit den Augen. Dann schwankte er durch den Gang, ging durch die Tür und war verschwunden.

 

»Okay«, sagte Florian nur, riss sich von dem Bild los, das die Szene gerade in ihm ausgelöst hatte, und schüttelte den Kopf. »Ähm, Kern? Wir holen jetzt noch ein paar Leute aus dem letzten Raum. Geben Sie uns noch eine Minute, dann können Sie vorne stürmen. Fenster sind alle gesichert, die Hintertür ist verschlossen.«

»Heller? Reischmann? Kommen Sie nach vorn. Wir gehen rein«, hörte Jessica die Stimme ihres Vorgesetzten in ihrem Ohr.

Das weiße Pulver auf dem Tisch war das Erste, was Jessica auffiel, als sie sich einen schnellen Überblick verschaffte. Fünf Personen, alles leicht bekleidete Frauen, drei stehend, zwei am Tisch sitzend. Und dann das Kokain, ordentlich mit einer Kreditkarte zusammengeschoben zu zwei schmalen weißen Linien.

»Mist!« Eine schnelle Handbewegung fegte den Puder vom Tisch und verteilte ihn als hellen Staub auf dem dunkelbraunen Teppichboden.

»Bist du verrückt«, rief die Rothaarige am Tisch entsetzt, sprang dann aber erschrocken auf, als sie die beiden Beamten in Uniform in der Tür entdeckte. Der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, fiel scheppernd zu Boden.

»Kripo Kempten, Hauptkommissar Forster«, stellte sich Florian vor. »Würden Sie bitte alle mitkommen.« Er deutete auf die offene Tür. »Halten Sie außerdem Ihre Ausweise bereit.«

»Das war nur für den Eigenbedarf«, stammelte die Rothaarige, stellte den Stuhl wieder auf, setzte sich und lächelte gelassen. Sie war mit Abstand die Älteste hier im Raum und hatte sowohl als Tänzerin als auch als Prostituierte ihre beste Zeit schon lange hinter sich. »Nur, falls Sie beide hier eben irgendetwas gesehen haben«, ergänzte sie und zwinkerte dem Hauptkommissar herausfordernd zu.

»Ich habe jedenfalls gesehen, dass Sie kein Haschisch konsumiert haben«, entgegnete Florian und starrte die Rothaarige drohend an, bevor er ein gewinnendes Lächeln aufsetzte. »Sie können mir ja nachher erzählen, wer Ihnen das Zeug gegeben hat, vielleicht vergesse ich dann, was ich gesehen habe. Meine Damen, darf ich jetzt bitten?« Er zeigte wieder auf die Tür.

In diesem Moment brach im vorderen Bereich des Clubs ein Tumult aus. Menschen schrien, es polterte, die Beamten brüllten Befehle, Glas zerbrach. Dann fiel ein Schuss.

»Scheiße«, fluchte Forster. »Du kümmerst dich um die Frauen.« Er drehte sich auf dem Absatz um, zog seine Dienstwaffe und rannte Richtung Bar.

»Willig, kommen Sie nach vorn!«, hörte Jessica die hektische Stimme von Hauptkommissar Kern. »Heller, wo sind Sie? Ich brauche Verstärkung. Forster, Grothe, wir brauchen Unterstützung.« Wieder fielen Schüsse.

»Die Schlüssel«, sagte Jessica und sah sich im Raum um. Ihr Blick blieb an der Rothaarigen am Tisch hängen. »Schlüssel! Sofort!«, brüllte sie.

»Wieso?«

»Entweder Sie geben mir jetzt die Schlüssel«, fauchte Jessica wütend, zog ihre Waffe und richtete sie auf die rothaarige Frau, »oder Sie gehen alle zusammen mit mir nach vorn.« Sie streckte die freie Hand aus und ging auf den Tisch zu.

»Da geh ich bestimmt nicht hin«, sagte die Frau und warf Jessica einen Schlüsselbund zu. »Hauptsache, Sie lassen uns später auch wieder frei.«

Mit dem Fuß schob sie die Tür langsam einen Spaltbreit auf und schaute vorsichtig in den matt beleuchteten Raum mit den Stehtischen, den mit rotem Samt bezogenen Sofas in den Nischen auf der linken Seite und der gut zehn Meter langen Theke vor der rechten Wand.

Alles war still. Vor der Bar lagen drei Männer bäuchlings auf dem Boden, die Hände auf ihren Hinterköpfen verschränkt. Einer von ihnen war der betrunkene Typ aus dem Gang, ein anderer scheinbar der Barkeeper, denn er trug ein Hemd, auf dessen Rückseite das Emblem des Clubs prangte. Der dritte war mindestens zwei Meter groß und breitschultrig. Berthold Willig legte ihm gerade Handschellen an, während der junge Kommissar Reischmann die drei mit seiner Waffe in Schach hielt.

»Was war denn hier los, Berthold?«, fragte Jessica, betrat den Raum und schaute sich erneut nach allen Seiten um. »Und wo sind die anderen?«

»Oh, Jessica!« Berthold schaute kurz auf, konzentrierte sich dann aber wieder auf seine Arbeit. »Da kam jemand aus dem Büro dort hinten und hat geschossen.«

Erst jetzt bemerkte Jessica die offen stehende Tür auf der anderen Seite des Raumes. Dieser Raum war im Grundrissplan nicht eingezeichnet gewesen.

»Ist noch jemand drin?«, fragte sie und schritt langsam auf die besagte Tür zu, ihre Waffe schussbereit vor sich.

»Hauptkommissar Kern hat schon nachgesehen. Keiner mehr drin. Der Schütze ist da lang, Kern und die anderen sind hinterher.« Berthold wies auf die breite Holztreppe neben der Bar, die in den ersten Stock führte.

Wieder fielen Schüsse. Jemand rief etwas, doch es war keiner ihrer Kollegen, denn ihr Ohrknopf übertrug keine Signale.

»Ich gehe hoch«, entschied Jessica, hielt dabei aber das kleine Mikro zu, das ihre Stimme übertragen hätte, und legte die Schlüssel auf einen der Stehtische, der nicht umgefallen war.

»Dort hinten, erste Tür links, habe ich fünf Personen eingesperrt. Bringt diese hier auch nach hinten, sperrt sie ein und postiert euch dann unten an der Treppe.« Sie lief los, nahm immer zwei Stufen auf einmal, bis die Treppe einen Bogen machte und das obere Stockwerk sichtbar wurde.

»Wo seid ihr?«, flüsterte sie ins Mikro und hoffte auf Antwort von einem ihrer Kollegen.

»Jessica?« Es war Florian, den sie hörte. »Bleib, wo du bist. Der vordere Gang oben hat viele Türen, das ist zu gefährlich. Wir haben uns in den Nebenflur retten können und sitzen hier fest.«

Sie hörte jemanden unterdrückt stöhnen und dann die Stimme von Hauptkommissar Kern, der beruhigend auf seine Leute einredete. Sie ignorierte Florians Anweisung, schlich die letzten Stufen hinauf und schaute blitzschnell kurz um die Ecke.

Wieder fielen Schüsse, dieses Mal in ihre Richtung. Neben ihr schlug eine Kugel in das Treppengeländer ein. Holzsplitter flogen durch die Luft.

»Bist du etwa schon an der Treppe? Verdammt, Jessy!«

»Reg dich ab, Florian. Die beiden waren schon auf dem Weg zu euch, als ich um die Ecke gesehen habe«, berichtete Jessica. »Wir sollten jetzt schnell sein.«

Nach kurzem Zögern und ein paar schweren Atemzügen hörte sie Florians Stimme in ihrem Ohr.

»Gut. Was schlägst du vor?«

»Sind es mehr als zwei?«

»Keine Ahnung. Bisher haben wir nur zwei gesehen«, kam dieses Mal die Antwort von Hauptkommissar Kern. »Aber wir müssen uns beeilen, Heller braucht dringend einen Arzt«, ermahnte er. »Was schlagen Sie also vor, Frau Grothe?«

»Ich werde jetzt in den Gang treten und vier Mal schießen. Genau vier Mal. Achtet darauf, dass ihr euch nicht verzählt, denn die zwei Typen werden sicher auch schießen. Vier Mal«, beschwor sie ihre Kollegen. »Danach rennt ihr aus dem Neben- in den Hauptgang und macht sie kalt.«

Es kam keine Antwort. Kein einziger Laut drang durch die Funkverbindung.

»Habt ihr eine bessere Idee?«

»Sie schießt wirklich gut, Kern. Sie wird uns schon nicht in den Rücken schießen«, hörte sie wieder Florians Stimme. »Heller hält nicht mehr lange durch.«

»Ist gut, dann los.«

Jessica schloss kurz die Augen, fühlte die Waffe, die sie fest in beiden Händen hielt, atmete tief durch und sprang dann in den ungeschützten Gang.

Das Erste, was sie sah, war ein wütend aussehender, großer Mann mit pechschwarzem Haar, der mit einer Waffe auf sie zielte und sofort schoss.

Die Kugel zischte durch die Luft und verfehlte nur um wenige Zentimeter ihren Kopf.

Ihr erster Schuss ging daneben. Er schlug auf Höhe seines Brustkorbes in den zehn Meter entfernten Türrahmen schräg hinter ihm ein, ihre zweite Kugel traf seinen Arm, die Wucht riss ihn von den Beinen. Er torkelte und fiel gegen die Wand, schrie schmerzerfüllt auf, ließ aber die Pistole nicht los. Stattdessen schoss er in die Decke.

Ein zweiter Mann, etwas kleiner, mit blondem, viel zu langem Haar, zielte über die Schulter ihres ersten Gegners und schoss dreimal schnell hintereinander. Jessica sprang in die Nische gegenüber der Treppe, schoss wahllos zweimal durch den langen Flur und spähte um die Ecke.

Forster und Kern traten unmittelbar nach den vier Schüssen von Jessica aus dem Seitenflur und feuerten auf die beiden Männer, die sich nun blitzschnell ins Zimmer hinter ihnen flüchteten. Florian und Kern liefen auf die Tür zu, die hinter den Schützen ins Schloss gefallen war.

Florian postierte sich links und Hauptkommissar Kern rechts an der Wand neben der Tür.

»Geht’s dir gut?«, hörte Jessica Florian flüstern, trat aus der Nische und nickte. Dann richtete sie ihre Waffe auf die Tür und schritt langsam durch den Flur.

»Ich schieße wieder vier Mal«, sagte sie, sah die beiden Männer an und nickte dann. »Genau vier Mal. Danach stürmt ihr das Zimmer und ich halte euch den Rücken frei.«

Kern griff nach der Türklinke und stieß die Tür mit Schwung auf, dann ging er in Deckung.

Und Jessica schoss, zielte durch die offene Tür, traf einen Schreibtisch, der vor einem vergitterten Fenster in dem Zimmer stand, schoss ein zweites und ein drittes Mal und hatte den Flur schon zur Hälfte durchquert, als sie ihren Kollegen »Jetzt!« zurief und ein viertes Mal schoss.

Es war inzwischen kurz vor Mitternacht, alle waren müde und total erledigt, doch es war wichtig, nach so einem nervenaufreibenden Einsatz gemeinsam zur Ruhe zu kommen und noch ein bisschen zu reden. Deshalb hatte Hauptkommissar Kern seine Truppe zu später Stunde noch in eine Kneipe zu einem Bier eingeladen. Jetzt saßen alle um einen großen Tisch in einem recht ruhigen Bereich des Gastraumes, tranken, redeten und lachten, und alle Anspannung der letzten Stunden fiel von ihnen ab.

Hauptkommissar Heller war mit einem glatten Durchschuss in der Schulter ins Krankenhaus eingeliefert worden und hatte schon wieder Witze gerissen, als die Wirkung des Schmerzmittels einsetzte, das der Notarzt ihm gespritzt hatte. Alle anderen waren unverletzt.

Den gesuchten Drogenhändler hatten sie nicht erwischt, wohl aber seine zwei Unterhändler, die den Beamten der Nachtschicht jetzt gerade genügend Informationen lieferten, um eine Fahndung nach ihrem Boss auszuschreiben – mit präziseren Angaben, als sie sie bisher hatten.

»Ich erhebe mein Glas und bedanke mich für die gute Zusammenarbeit. Großartiger Einsatz, der trotz anfänglicher Pannen zu einem guten Ende gefunden hat.« Hauptkommissar Kern stand an der Stirnseite des langen Tisches und prostete allen zu. »Kommissar Willig, Kommissar Reischmann, Sie sind zwar noch grün hinter den Ohren, haben mich aber dennoch sehr positiv überrascht. Gute Arbeit, Jungs.«

Berthold grinste breit.

Jetzt erhob Kern sein Glas in Richtung Hauptkommissar Forster. »Danke«, sagte er nur. »Für alles.«

Florian hob ebenfalls sein Glas und nickte Kern anerkennend zu.

Dann war Jessica an der Reihe. Zuerst sah Hauptkommissar Kern seine junge Kollegin lange an. Schließlich lächelte er. »Großartige Mitarbeit, Jessica. Ich bin übrigens Detlef.«

Zufrieden lächelnd nippte sie an ihrem Glas und stellte es auf den Tisch zurück. Sie würde sich für ihren Einsatz und ihr scheinbar unkontrolliertes Trommelfeuer in den nächsten Tagen mit Sicherheit rechtfertigen müssen. Der Dauerbeschuss auf Verbrecher welcher Art auch immer war gänzlich unüblich und wurde im Polizeidienst nicht toleriert. Trotzdem hatte ihr Einsatz seinen Zweck erfüllt und schließlich zur Verhaftung zweier lang gesuchter Krimineller geführt. Außerdem, und das war für sie bei Weitem wichtiger, hatte es ihr die persönliche Anerkennung ihres Kollegen Kern beschert, auf die sie bisher vergeblich gewartet hatte.

Er respektierte sie jetzt.

Endlich.

Erst nach über zwei Stunden verließen sie schließlich alle gemeinsam die Kneipe und machten sich auf den Heimweg.

»Ich bring dich«, sagte Florian, schob die Hände in die Taschen seiner dunkelblauen Uniformhose und ging neben Jessica den breiten Fußweg entlang.

»Brauchst du nicht.« Jessica schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab’s nicht weit. Wohne hier ja gleich um die Ecke.«

»Ich weiß«, antwortete Florian. »Trotzdem. Du gehst nicht allein.«

Jessica lachte schallend. »Ich habe eine Waffe, Florian. Wer, bitte schön, sollte es also wagen, mich zu überfallen?« Sie blieb stehen und schaute ihren Ex-Freund belustigt an.

Florian hielt ihrem Blick stand. »Ich bring dich trotzdem heim«, bestimmte er dann und setzte sich wieder in Bewegung. »Komm. Es ist kalt.« Doch so kalt konnte ihm gar nicht sein. Er hatte weder seine Jacke geschlossen, noch trug er Schal oder Mütze.

 

Sie liefen schweigend nebeneinanderher. Die Stadt war still, die Straßen waren von den Laternen hell erleuchtet. Kein Auto fuhr unter der Woche um diese Zeit, mitten in der Nacht. Jeder, der morgen zur Arbeit musste, lag bereits seit Stunden im Bett.

Der große Platz vor dem Rathaus war gespenstisch leer. Im Sommer standen überall vor den unzähligen Cafés hübsch geschmückte Tische mit bunten Stühlen und großen Sonnenschirmen. In der Adventszeit waren überall Buden aufgebaut, ein Karussell für die Kinder und Glühweinstände. Es roch dann nach allerlei leckeren Süßigkeiten, Bratwurst und Maroni und die Luft war erfüllt von Weihnachtsmusik, Lachen und Kindergeschrei. Jetzt war alles totenstill.

Sie bogen in die kleine Nebenstraße ab und Jessica blieb an einer schweren Holztür vor einem mehrgeschossigen Mietshaus stehen.

»Hier wohne ich«, sagte sie, rieb sich die kalten Hände und schaute zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, hinter denen die Kinder hoffentlich friedlich schliefen.

»Ja, ich weiß«, sagte Florian wieder und räusperte sich. »Du, Jessy?«

Sie schlang die Arme fest um ihren Körper und sah ihn nur fragend an.

»Was ist mit uns beiden passiert, Jessy?« Sein Blick wirkte ein wenig verzweifelt. »Wir waren heute ein gutes Team«, sagte er leise. »Wir waren doch immer ein gutes Team.«

Er sah, wie sie nervös auf ihrer Unterlippe zu kauen begann und fest die Augen schloss, bevor sie langsam den Kopf schüttelte. »Bitte, Florian. Lass es gut sein«, flehte sie.

Doch anstatt ihrem Wunsch zu folgen, griff Florian behutsam nach ihren Oberarmen und er ging einen Schritt auf sie zu. »Was ist mit uns passiert?«, wiederholte er seine Frage, kam ihr ganz nah, legte seine Stirn vorsichtig an ihre und sah ihr in die Augen.

Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht, glaubte seinen Herzschlag zu fühlen und begann zu zittern. Sie sehnte sich nach ihm. Er war nach den beiden Kindern einmal der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen, ein Mensch, den sie nie verlieren wollte, den sie über alles geliebt hatte. Ja, Florian hatte recht. Sie waren ein gutes Team gewesen.

Als sie sich ihm entziehen wollte, legten sich seine Hände beinahe reflexartig blitzschnell links und rechts an ihren Hals, seine Finger gruben sich in ihr Haar und hielten ihren Kopf ganz fest.

»Bitte … bitte. Ich vermisse dich schrecklich, Jessy.« Er wischte mit dem Daumen seiner rechten Hand eine einzelne Träne von ihrer Wange, küsste ihr Haar oberhalb ihrer Stirn. Als er ihre Hände auf seinem Bauch spürte, knapp unterhalb seines unteren Rippenbogens, und sie ihn nicht von sich stieß, sondern ihre Finger sich durch seine offene Jacke in den Stoff seines Hemdes gruben, schloss er die Augen, küsste ihr weitere Tränen vom Gesicht und hielt kurz vor ihrem Mund inne. Ihre Lippen berührten sich nicht, doch dieser kurze Moment, der Moment, der eine gemeinsame Zukunft heraufbeschwören oder zerstören konnte, der Moment zwischen Hoffen und Bangen, war das Ergreifendste, aber auch das Erregendste, das er je erlebt hatte. Er wollte sie, mehr als alles andere, und er fürchtete sich vor ihrer Reaktion.

»Wenn ich dich jetzt küsse, Jessy«, hauchte er fast tonlos und seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern. »Wenn ich dich jetzt küsse … werden wir uns dann morgen … Werden wir irgendwann … wieder ein Team sein?«

Sekunden vergingen wie lange Minuten. Keiner von ihnen bewegte sich.

Und dann zerstörte Jessica diesen wunderbaren Moment mit nur einem einzigen Wort.

»Nein.«

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