Tödliche Klamm

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2

Sie öffnete die Glastür zum kleinen halbrunden Balkon im ersten Stock, trat hinaus ins helle Sonnenlicht und atmete tief durch. Der Himmel war klar, ohne jede Wolke, und die Sonne wärmte ihr Gesicht. Eine leichte Brise wehte und bewegte den Saum ihres dünnen Seidenmorgenmantels. Die winterliche Februarkälte kroch langsam ihre Beine hinauf und ließ sie frösteln, doch das helle Licht in ihrem Gesicht war so angenehm, dass sie noch einige Minuten ausharrte, bevor sie ins Schlafzimmer zurücktrat und die Tür wieder schloss.

Heute war einer der guten Tage. Heute fühlte sie sich nicht erschöpft und müde, sondern ausgeruht und innerlich von einem Frieden erfüllt, den sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Und sie hatte Appetit. Auf Rührei und Speck. Und Kaffee.

Die große breite Steintreppe ins Erdgeschoss hatte sie schon so viele Wochen nicht mehr betreten, dass sie an der obersten Stufe zuerst zögerte, doch dann mit einem Lächeln im Gesicht und erhobenen Hauptes hinunterschritt, als wäre sie eine Königin.

Der Eingangsbereich war groß und die überdimensionierten Fenster ließen eine solche Flut an Licht in den Raum, dass sie die Augen zukneifen musste. Ihr Zimmer im oberen Stock war seit Wochen dunkel, die schweren Vorhänge immer verschlossen.

»Luise?«, rief sie und wunderte sich selbst über ihre feste, klare Stimme. Kein Halsweh, keine Heiserkeit.

»Frau Wiedemann.« Die kleine rundliche Luise erschien in der Tür zum Salon und schaute sie erschrocken an. »Verzeihen Sie bitte, ich dachte, Sie schlafen noch. Ihr Tee ist gleich fertig.«

»Heute keinen Tee, Luise. Haben wir Eier und Speck im Haus? Ich habe so sehr Appetit auf etwas Deftiges. Und vielleicht einen Kaffee.«

Luise zögerte, betrachtete die Hausherrin zweifelnd, nickte dann aber ergeben und begab sich in die Küche.

»Ist mein Mann schon in seiner Praxis?« Frau Wiedemann war Luise in die Küche gefolgt und setzte sich jetzt an den kleinen Tisch vor dem Fenster, der den Blick in den großen gepflegten Garten freigab. Selbst jetzt im Winter wirkte er aufgeräumt und lud zum Verweilen im Freien ein. Vielleicht würde sie später einen kleinen Spaziergang zu der großen Eiche am Grundstücksende machen.

»Ich serviere Ihnen das Frühstück im Salon, Frau Wiedemann. Ich bin gleich fertig.« Luise beeilte sich, Schüsseln und Pfannen bereitzustellen und die Eier und den Speck aus dem Kühlschrank zu holen. Die Kaffeemaschine lief bereits.

»Nein, nein. Hier ist es viel schöner, Luise. Stellen Sie es einfach hier auf den Tisch.«

»Alexander Richter«, stellte der schlanke Mann in der schwarzen Uniform sich höflich vor und reichte der Dame an der Tür seinen Dienstausweis. »Richter Security, wir sind für die Sicherheit in diesem Haus verantwortlich und würden gern mit Ihnen oder Ihrem Mann sprechen.«

»Herr Dr. Wiedemann ist nicht im Haus. Ich bin nur die Haushälterin. Ich weiß nicht …«, stammelte sie unsicher und verstummte dann. Die drei Männer vor der Tür machten sie nervös. Hinter Herrn Richter von der Sicherheitsfirma standen noch ein Polizeibeamter in Uniform und ein Mann in Zivil mit Jeans und schwarzer Lederjacke. Alle drei lächelten freundlich.

»Ist Frau Wiedemann denn im Hause?«, fragte Herr Richter jetzt und spähte an der kleinen dicken Frau vorbei in den Flur der Villa. »Es gibt da einige Unstimmigkeiten und ich würde gern wissen, wie Richter Security damit umgehen soll. Immerhin geht es um Ihrer aller Sicherheit.«

»Ja, gut. Aber könnten Sie nicht wiederkommen, wenn Dr. Wiedemann da ist? Wir erwarten ihn am Nachmittag.« Luise schob die Tür etwas weiter zu und versperrte den schmalen Durchlass mit ihrem imposanten Körper. »Herr Dr. Wiedemann schätzt es gar nicht, wenn fremde Besucher in seinem Haus sind, während er nicht anwesend ist.«

»Verstehe.« Richter nickte und lächelte wieder entwaffnend. »Doch die Angelegenheit ist äußerst dringend. Ich habe mir sogar erlaubt, zwei Beamte der Kripo mitzubringen, da wir vermuten, dass gestern Abend bei Ihnen eingebrochen worden ist. Wir haben schon die Außenanlage begutachtet und würden jetzt auch gern einen Blick ins Haus werfen. Können wir bitte mit Frau Wiedemann sprechen?«, wiederholte er sein Anliegen, legte die Hand auf die schwere Eingangstür und drückte vorsichtig dagegen. Hauptkommissar Florian Forsters Hand legte sich von hinten auf seinen Arm und zog ihn von der Tür weg.

»Wir haben wirklich nur ein paar kurze Fragen und vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis«, mischte sich jetzt Florian ein und hielt der Dame einen Zettel entgegen. »Dieses Schreiben erlaubt uns, Haus und Garten zu untersuchen. Die Vorfälle der letzten Nacht haben einen Staatsanwalt veranlasst, einen Durchsuchungsbeschluss zu unterschreiben. Das zeigt doch die Dringlichkeit unseres Anliegens. Bitte lassen Sie uns rein.«

Die kleine Dame biss sich nervös auf die Unterlippe, trat dann zurück und ließ die drei Herren eintreten.

»Warten Sie bitte in der Bibliothek.« Sie wies mit der Hand zur linken Seite, vergewisserte sich, dass alle drei Männer den Raum neben der Steintreppe betraten und beeilte sich dann, ihrer Arbeitgeberin vom Besuch zu berichten.

Im Vergleich zum Eingangsbereich mit der breiten Marmorempore und der schweren Steintreppe wirkte dieser Raum beinahe erdrückend klein. Außerdem war er dunkel. Die wandhohen Bücherregale aus massivem Nussbaumholz waren über und über mit dicken Wälzern bestückt. Klassiker der Weltliteratur in edlen Einbänden aus Leder mit goldenen Verzierungen reihten sich an moderne Literatur, eine ganze Reihe Bibeln in unterschiedlicher Ausführung und medizinische Fachliteratur. Ein kleiner Kamin war neben der Tür in die Wand eingelassen und zwei Ohrensessel standen davor. Das einzige Fenster war mit dunklen Vorhängen aus dichtem Stoff behangen und ließ nur mattes Licht von draußen in das Zimmer. Direkt vor dem Fenster stand ein kleines Kaffeetischchen mit zwei samtbezogenen Stühlen.

Kommissar Berthold Willig stand fasziniert vor dem hohen Regal und fuhr mit dem Zeigefinger ehrfurchtsvoll über die mit Gold eingelassenen Lettern einer alten Sonderausgabe von Shakespeares »Hamlet«.

»Damit ich das wirklich richtig verstehe, Alex«, begann Florian und ließ sich auf einem der Sessel vor dem Kamin nieder. »Ihr habt festgestellt, dass die Alarmanlage für über zwei Stunden ausgeschaltet war und jemand um das Haus geschlichen ist, aber keines der Fenster ist beschädigt und die Haustür wurde ganz normal mit einem Haustürschlüssel geöffnet.«

»Zweimal. Einmal um etwa 3 Uhr morgens und einmal um kurz nach 5 Uhr«, bestätigte Alexander Richter, schob den schweren Vorhang beiseite und schaute in den Vorgarten. »Wir betreuen dieses Haus seit drei Jahren. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Alarmanlage so lange aus war. Normalerweise schaltet sich das Gerät nach geraumer Zeit eigenständig ein, damit uneingeschränkter Schutz auch dann besteht, wenn man das manuelle Aktivieren einmal vergessen sollte. Man muss diese Funktion durch eine besondere Tastenkombination und einen Schlüssel unterdrücken, wenn die Anlage dauerhaft deaktiviert bleiben soll. Vor einem Jahr«, fuhr er fort, »war im ganzen Stadtviertel Stromausfall und selbst in so einem Fall bezieht die Anlage ihre Energie über ein Notstromaggregat und bleibt aktiviert.«

Florians nächste Frage erübrigte sich also. Er hatte vermutet, dass der heftige Sturm von letzter Nacht vielleicht für den Ausfall der Sicherheitsanlage verantwortlich gewesen war.

Florian kannte Alexander Richter bereits seit fast 20 Jahren. Sie hatten als Jugendliche im selben Fußballverein trainiert, bis Alexander als junger Erwachsener in den damals noch recht unpopulären, neu gegründeten Rugbyverein gewechselt war. Heute trainierte er ehrenamtlich den Kemptener Rugbynachwuchs.

»Und einen Schlüssel zu dem Haus und den Geheimcode für die Alarmanlage haben nur die Wiedemanns?«

Alexander Richter setzte sich auf den zweiten, noch freien Ohrensessel und nickte.

»Das Ehepaar Wiedemann, die Haushälterin Luise Kramer und wir natürlich, Richter Security, also ich und meine vier Mitarbeiter«, zählte der Sicherheitsbeamte auf.

In diesem Moment hörten sie jemanden an der Eingangstür.

Kommissar Willig hob alarmiert den Kopf und starrte durch den Spalt in der Tür in den Flur, Richter sprang auf und lief zum Fenster, um hinauszusehen. Hauptkommissar Forster erhob sich etwas langsamer, ging zur Tür, schob sie mit dem Fuß etwas weiter auf und schaute ebenfalls in den Flur.

Vor der Haustür fiel ein Schlüsselbund scheppernd auf die Granitfliesen, jemand fluchte. Sekunden später wurde die Haustür aufgeschlossen und ein Mann in einem dicken Wintermantel und mit etwas schütterem dunkelbraunem Haar stürmte in den Eingangsbereich, sah sich hektisch um und rief nach der Haushälterin. Dann drehte er sich um und gab routiniert die Tastenkombination am Display neben der Tür ein, um den ansonsten folgenden Alarm zu deaktivieren.

»Herr Dr. Wiedemann?« Florian trat aus dem Schatten der dunklen Bibliothek, gefolgt von Berthold Willig und Alexander Richter, und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. »Kripo Kempten, mein Name ist Hauptkommissar Forster.«

»Oh Gott«, rief der Hausherr entsetzt, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ging dann auf den Beamten zu. »Ist etwas mit meiner Frau? Ist Monika etwas passiert? Um Gottes Willen.«

Noch bevor Florian verneinend den Kopf schütteln konnte, sah er im Augenwinkel eine Frau die steinernen Stufen herunterkommen.

»Keine Panik, Schatz«, begrüßte Monika Wiedemann ihren Gatten. »Mir geht es sehr gut.« Dann nickte sie den drei Herren zu, die vor der massiven Eichenholztür zur Bibliothek standen und zu ihr hinaufsahen. »Guten Tag, die Herren.«

 

Das Bild, das diese Frau bot, erschütterte Florian so sehr, dass er sich anfangs nicht von ihrem Anblick losreißen konnte. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Ihre Haut war dermaßen blass und dünn, dass die Adern an Händen und Hals deutlich als dunkle Linien zu erkennen waren. Das Haar hing stumpf und wasserstoffblond an ihrem Kopf herunter und reichte bis zu ihren Schultern. Durch die helle Bluse aus edlem, zartem Stoff sah man deutlich Schulterknochen und Schlüsselbeine hervorstechen. Ihr ganzer Körper war so dünn und gebrechlich, dass Florian sich kaum vorstellen konnte, woher sie die Kraft nahm, auf eigenen Füßen zu stehen. Er bemerkte, wie auch ihr Ehemann sie entsetzt anstarrte, als sie die Treppe hinunterschwebte, lautlos und unheimlich wie ein Geist, beinahe durchsichtig.

Dr. Wiedemann lächelte jetzt und lief seiner Frau entgegen. »Dir geht es besser. Schön«, sagte er und nahm sie in seine Arme.

»Kommst du jetzt schon aus der Praxis?«, fragte sie und wirkte verwundert.

»Ich war in Frankfurt, Moni, das habe ich dir doch erzählt. Ich bin vor drei Tagen gefahren. Das Klassentreffen«, half er ihr auf die Sprünge, doch Frau Wiedemann schüttelte nur langsam den Kopf.

Dann sah sie entschuldigend zu den drei Männern hinüber. »Ich bin manchmal etwas neben der Spur«, erklärte sie lachend. »Aber heute geht es mir gut.«

»Das freut mich sehr, Liebes.« Dr. Wiedemann geleitete seine Frau die restlichen Stufen hinunter, indem er ihre Hand in seine Armbeuge legte. »Und was kann ich für Sie tun? Sie haben mir mit dem Polizeiwagen in meiner Auffahrt einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Die vier Männer nahmen im Wohnzimmer Platz. Florian bemerkte, wie Dr. Wiedemann immer wieder durch die große Terrassentür in den imposanten Garten schaute und seine Frau beobachtete, die dick eingepackt in einen teuren Pelzmantel neben dem kleinen Gartenteich stand und in die Ferne blickte. Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Sorge und Unzufriedenheit. Es wirkte fast so, als würde ihm nicht gefallen, dass seine Frau dort draußen alleine herumlief.

Der Blick auf die Alpen war atemberaubend. Die Sicht war klar, der Himmel hellblau und die Sonne schien. In der Ferne ragte der Grünten empor. Eine weiße Schneehaube zierte seinen Gipfel. Vor Mai würde der Schnee auf den höher gelegenen Berggipfeln auf gar keinen Fall schmelzen. In manchen Jahren waren die Spitzen der Allgäuer Berge nur für zwei Monate im Jahr schneefrei.

»Und Sie sagen, jemand hat gestern Abend die Alarmanlage deaktiviert?«, wandte Herr Wiedemann sich jetzt an den Chef der Sicherheitsfirma. Er hatte sie vor drei Jahren beauftragt, seine Villa zu sichern, nachdem Einbrecher versucht hatten, ins Haus zu gelangen. Seitdem Richter Security das Anwesen elektronisch überwachte, war nichts dergleichen mehr vorgefallen.

»Nicht nur das, Herr Dr. Wiedemann«, erklärte Alexander Richter seinem Auftraggeber. »Jetzt, da Sie mir erneut bestätigt haben, dass Sie drei Tage nicht im Hause waren, kommt mir auch die Tatsache komisch vor, dass ihr Wagen gestern Abend das Grundstück verlassen hat und erst nach guten zwei Stunden zurück in die Garage fuhr.«

»Der Mercedes meiner Gattin?«, fragte Wiedemann dazwischen und suchte durch das Fenster erneut nach seiner Frau im Garten. Sie war bereits an der hinteren Grundstücksgrenze.

»Sie meinen also, Ihre Frau hätte das Haus für zwei Stunden verlassen und vergessen, die Alarmanlage zu aktivieren?«, mischte sich jetzt Florian ein, während Berthold der Haushälterin half, die Kaffeetassen von dem Tablett auf dem Glastisch anzurichten und Kaffee einzuschenken.

»Nein, das meine ich nicht«, brummte Dr. Wiedemann etwas unhöflich, lächelte dann entschuldigend und griff nach der Porzellantasse mit dem dampfend heißen Getränk. »Meine Frau ist krank, wie Sie sicher schon bemerkt haben. Seit Wochen hat sie ihr Schlafzimmer nicht verlassen. Deshalb war ich ja so erschrocken, als ich sie eben auf der Treppe gesehen habe.« Er nippte an der Tasse, entschied dann, dass der Kaffee noch viel zu heiß war, und stellte die Tasse zurück auf den Unterteller.

»Darf ich fragen, an welcher Krankheit ihre Gattin leidet?«, brachte sich jetzt Berthold ins Gespräch ein und fing sich einen ärgerlichen Blick vom Doktor ein.

»Meine Frau leidet unter schweren Depressionen und Angstzuständen.«

»Und behandeln Sie sie selbst?«, fragte Berthold und zog unmerklich den Kopf ein, so als fürchtete er eine wütende Schimpftirade von Dr. Wiedemann. Doch als er Florians anerkennendes Lächeln sah, fühlte er sich etwas sicherer. »Sie sind doch Arzt.«

Dr. Wiedemann sah den jungen Beamten beinahe verächtlich an. »Ich bin Allgemeinmediziner, kein Psychologe«, erklärte er leicht ungehalten. »Doch meine Frau ist seit drei Jahren bei einem befreundeten Psychotherapeuten in Behandlung. Und er spricht vor allem die medizinische Unterstützung durch Medikamente mit mir ab, also ja, auch ich versuche, meiner Frau zu helfen. Aber was hat das mit der kaputten Alarmanlage zu tun?«

»Die Anlage ist nicht kaputt, sondern wurde manuell für einen kurzen Zeitraum deaktiviert. Das ist ein Unterschied«, verteidigte Alexander Richter sich und seine Firma. »Wie es unsere Art ist, möchten wir für Ihre absolute Sicherheit sorgen. Und gestern Abend hat ein Außenstehender an Ihrer Anlage gespielt, wenn es Ihre Frau und Ihre Haushälterin nicht waren. Scheinbar hatte diese Person auch einen Schlüssel.«

»Sie haben doch Luise und meine Frau befragt«, polterte Dr. Wiedemann zurück. »Die beiden waren es nicht. Die Medikamente meiner Frau lassen ja auch gar nicht zu, dass sie sicher Auto fährt. Der Wagen wurde von ihr seit Monaten nicht bewegt.« Er stand auf und trat ans Fenster, hob die Hand und winkte seiner Frau, die bereits wieder auf dem Rückweg war und in Richtung Villa ging. Sie winkte ihrem Mann zurück.

»Suchen Sie einfach die Person, die angeblich hier im Haus war und die mit dem Wagen gefahren ist, aber tun Sie mir den Gefallen und halten Sie meine Frau da raus. Ihr Zustand lässt es nicht zu, dass sie sich ängstigt. Wir haben lange daran gearbeitet, dass sie wieder ruhig schlafen kann. Auch dank der Medikamente«, fügte er hinzu und wandte sich dann an Hauptkommissar Forster.

»Ich möchte eine Anzeige gegen unbekannt aufgeben. Und suchen Sie zuerst bei Herrn Richters Angestellten. Vielleicht ist dort einer dabei, der sich etwas Geld nebenbei verdienen will und sich bei reichen Leuten bedient. Ich gebe also eine Anzeige auf. Das kann ich doch bei der Kripo tun, oder ist da eine andere Abteilung zuständig?« Er sah Hauptkommissar Forster fragend an.

»Nein, den Fall übernehmen ich und mein Kollege Willig. Wir ermitteln ja bereits im Namen der Staatsanwaltschaft, aber natürlich ist es hilfreich, wenn auch Sie den Vorfall melden und für Fragen weiterhin zur Verfügung stehen. Und ich würde Sie bitten, in naher Zukunft zu überprüfen, ob vielleicht etwas gestohlen wurde.«

»Und ich möchte Sie bitten, etwaige Anschuldigungen gegen die Mitarbeiter meiner Firma zu unterlassen«, drohte Alexander Richter, bewirkte mit seinen Worten aber nur, dass Herr Dr. Wiedemann ihn wütend anstarrte.

»Dann erwarte ich spätestens morgen Ihren Anruf bezüglich gestohlener Gegenstände«, wiederholte Florian und griff nach seiner Kaffeetasse.

Dr. Wiedemann nickte und begrüßte seine Frau, als sie durch die Terrassentür das Wohnzimmer betrat.

3

Die welken Blumen auf dem Grab seiner Frau sahen erbärmlich aus. Letzte Woche, als die Temperaturen noch merklich unter null Grad lagen, waren die Rosen mit einer dünnen Schicht kristallklarem Eis überzogen gewesen und hatten in der Sonne geglitzert. Jetzt war der ganze Strauß matschig braun und verwelkt. Er hätte ein Gesteck aus Tannenzweigen an ihrem Geburtstag aufs Grab legen sollen. Es war schließlich Winter. Auch war die Erde auf dem Grab noch trostlos leer, da er bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, sich über die Begrünung Gedanken zu machen. Immerhin war Petra im November gestorben, kurz bevor der erste Frost ins Allgäu kam und eine Bepflanzung unmöglich machte. In ein paar Wochen würde er sich darum kümmern. Oder besser, er würde einen Gärtnerdienst beauftragen. Die hatten mehr Erfahrung als er und würden das Grab mit Sicherheit professioneller bepflanzen und pflegen.

Nachdem er die alten Blumen entsorgt hatte, verließ er den Friedhof wie jeden Sonntagnachmittag über den kleinen Weg durch die schön angelegte Teichlandschaft zum Nebenausgang, wo er sein Auto geparkt hatte.

Als er die Hand in seine Manteltasche schob, nach seinem Autoschlüssel suchte und ihn schließlich herauszog, fiel ein kleiner Zettel zu Boden, wurde vom Wind erfasst und ein paar Meter über den matschigen Sandweg geweht, bis der winzige Papierschnipsel in einer Pfütze liegenblieb. Einen kurzen Moment überlegte er, ihn einfach liegen zu lassen, doch als die Schmerzen und dieses verdammte Engegefühl in seinem Brustkorb ganz plötzlich zurückkamen und eine erneute Panikattacke ankündigten, bückte er sich doch nach dem Zettel, hob ihn auf und schaute auf die Zahlen und Buchstaben, atmete dabei tief ein und aus, so gut es mit seinen momentanen Beklemmungen eben ging, und überlegte fieberhaft.

Er musste diesen Beweis zerstören. Das Wasser aus der Pfütze würde dafür nicht ausreichen. Die Tatsache, dass niemand die Daten auf dem kleinen Bahnticket, das er vor ein paar Tagen in Oberstdorf aus dem Automaten gezogen hatte, auf ihn zurückführen können würde, da ja kein Name oder keine Adresse vermerkt war, beruhigte ihn keineswegs. Er musste das Ticket zerstören.

Es war unmöglich, das feuchte Papier anzuzünden, musste er feststellen, als er die Flamme seines Feuerzeugs an den Zettel hielt. Doch er bemerkte zufrieden, dass die Hitze des Feuers die Thermoschicht des Zettelchens pechschwarz färbte und die Zahlen unleserlich machte. Als sich zudem die Worte »Kempten (Allgäu) Hauptbahnhof« in schwarzes Wohlgefallen aufgelöst hatten, lächelte er zufrieden, auch weil die Schmerzen in seiner Brust langsam nachließen. Er legte das wertlose Ticket vorsichtig zurück in die Pfütze und schob das Feuerzeug in seine Hosentasche.

Ja, ein Problem war gelöst.

»Bin wieder da«, rief Jessica, warf ihren Haustürschlüssel achtlos auf die Anrichte im kleinen Flur und drückte mit ihrem Hintern die Wohnungstür zu. »Ich habe Essen mitgebracht! Hallo, Rico!«

Der junge Ecuadorianer, der aus ihrer Küche geeilt war und jetzt direkt vor ihr stand und sie anstrahlte, hob grüßend die Hand. »Holla, Frau Grothe«, sagte er und es klang etwas gepresst, doch sein stetes Lächeln überspielte seine Unsicherheit. Trotz des eisigen Wetters draußen trug er in der Wohnung ständig nur knielange Hosen und kurzärmelige Hemden und wirkte durch seinen leicht dunklen Teint, als wäre er gerade frisch aus dem Urlaub gekommen. Und so war es vermutlich auch. Gab es in Ecuador überhaupt Winter, Schnee und Kälte?

»Sag doch bitte Jessica zu mir, Rico«, schlug sie zum wiederholten Mal vor und bemühte sich, ebenfalls freundlich zu lächeln. Doch der vergebliche Versuch, ohne Zuhilfenahme ihrer Hände aus ihren nassen Stiefeln zu steigen, ließ sie genervt das Gesicht verziehen. »Mistdinger!«, fluchte sie, lehnte sich gegen die Wand, beugte sich hinunter und zog mit beiden Händen an dem rechten Stiefel, der nur langsam, als hätte er sich an ihrem Bein festgesaugt, von ihrem Fuß glitt. »Verdammter Mistschuh«, zischte sie durch die fest zusammengebissenen Zähne, schaute auf und sah in drei grinsende Gesichter.

»Was gibt’s denn zu essen, Jessy?«, fragte Svenja, und Tobi griff bereits nach den zwei Plastiktüten, die Jessica neben der Anrichte abgestellt hatte und die herrlich nach Currywurst und Pommes dufteten.

»Oh, be careful, Tobi«, rief Rico entsetzt, als eine der Tüten geräuschvoll gegen die Wand klatschte, besann sich dann aber darauf, dass er nach Kempten gekommen war, um besser Deutsch zu lernen, nahm Tobi das Essen ab und sagte ermahnend: »Du mussen aufpassen gut.«

»Du musst gut aufpassen«, belehrte ihn Svenja, nahm Tobi an die Hand und lief zurück in die Küche.

Die Entscheidung, ein Au-pair für die beiden Kinder zu besorgen, um wieder ganztags arbeiten zu können, war Jessica zuerst schwergefallen. Und auch der durchaus sympathische ecuadorianische Deutschstudent Ricardo Hernandez war nicht ihre erste Wahl gewesen. Jessica hätte durchaus lieber ein junges Mädchen als Aufpasserin für die achtjährige Svenja und ihren drei Jahre jüngeren Bruder Tobias gehabt, doch Rico stellte sich als überaus kompetent und freundlich heraus und fand sofort einen Zugang zu Tobi und Svenja. Er war jetzt seit zwei Wochen bei ihnen und hatte den Haushalt und die Kinder bereits besser im Griff, als Jessica es je gehabt hatte. Und er kam gut an bei den Nachbarn, besonders bei den weiblichen. Das lag mit Sicherheit auch an seinem blendenden Aussehen, doch vor allem die älteren Damen, die in diesem Mehrfamilienhaus wohnten, schätzten seine überschwängliche Höflichkeit, seine Hilfsbereitschaft und sein humorvolles Wesen. Er hatte die sonst so zurückhaltende, etwas grantige und misstrauische Allgäuer Frauenwelt hier im Haus im Sturm erobert. Bei den Männern war das anders. Den Allgäuer Männern hielt er einen Spiegel vor, in dem sie sich selbst nicht wiedererkannten und sich äußerst bedroht fühlten. Doch Rico quittierte jede versteckte Beleidigung oder unangebrachte Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln.

 

»Du musst gut aufpassen«, wiederholte er jetzt Svenjas Worte und lachte so schallend, dass Jessica ebenfalls bessere Laune bekam, sich auch von ihrem zweiten Schuh befreite und das Paar achtlos in die Ecke warf.

»Hast du alle Mörder gefasst und eingesperrt, Jessica?«, fragte Rico grinsend. Seit drei Tagen, seit Jessica ihren Job im Kemptener Präsidium angetreten hatte, stellte er ihr diese Frage immer, wenn sie die Wohnung zu Feierabend betrat.

»Ausnahmslos alle«, gab Jessica dann immer augenzwinkernd Auskunft. »Wir werden heute also gut schlafen können.«

Es schneite so heftig, dass der Scheibenwischer an Hauptkommissar Forsters Dienstwagen auf Hochtouren lief und trotzdem kaum die Windschutzscheibe freihalten konnte. Beinahe hätte er den Abbieger verpasst, weil er die abzweigende Straße durch das Schneegestöber nicht gesehen hatte.

»Kreuzkruzifix«, fluchte er und riss das Lenkrad herum, als der Wagen nach der Kurve dem Graben neben der Straße gefährlich nah kam. Die Hinterräder des Autos schlitterten über den mit Schnee bedeckten Asphalt. Doch Florian hatte das Fahrzeug schnell wieder im Griff, drosselte jetzt aber vorsorglich das Tempo. Mit gerade einmal 15 Stundenkilometer lenkte er den Wagen durch den Schneesturm und starrte dabei angestrengt auf die Straße vor sich.

»Welcher depperte Siach geht bei so einem Wetter bloß wandern? Wahrscheinlich irgend so ein Flachlandtourist«, schimpfte er ärgerlich, doch von seinem Kollegen Willig auf dem Beifahrersitz kam keine Reaktion. Berthold hielt sich krampfhaft am Innengriff der Beifahrertür fest und hatte die Augen weit aufgerissen, als würde er Achterbahn fahren und direkt auf einen dreifachen Looping zurasen. Welchen depperten Wanderer sein Chef meinte, konnte Berthold eh nur spekulieren. Er vermutete, Forster sprach von dem Herrn, der die Polizei gerufen hatte, weil er auf seiner morgendlichen Tour durch die Breitachklamm eine Leiche gefunden hatte, und nicht von der Leiche selbst. Das wäre immerhin etwas pietätlos gewesen.

Nach mehreren Wochen Tauwetter und Temperaturen über zehn Grad hatte der Winter sich heute Mittag mit Unwetter und bis zum Nachmittag mit fast 40 Zentimetern Neuschnee zurückgemeldet. Die Schneeräumfahrzeuge kamen kaum hinterher, wenigstens die Hauptverkehrsstraßen einigermaßen frei zu halten, der große Parkplatz vor dem Eingang der Breitachklamm war ein einziges weißes Meer aus Schnee. Jetzt gab Hauptkommissar Forster noch einmal Gas und pflügte den Streifenwagen durch den Schnee. Er wollte so nah wie möglich an das kleine Tickethäuschen kommen und hoffte inständig, dass er sich gut genug erinnern konnte, wo ungefähr die Holzpfosten standen, die die Bereiche des Parkplatzes abgrenzten und in Parzellen einteilten.

Er war vor über zwei Jahren das letzte Mal hier gewesen. Im Sommer.

Direkt hinter ihm fuhr Erwin Buchmann, der Gerichtsmediziner, zusammen mit seiner Kollegin in einem weißen Transporter. Er nutzte die kurzzeitig entstandene Fahrrinne von Florians Wagen. Ohne sie wäre er vermutlich schon am Anfang des Parkplatzes mit dem schweren Fahrzeug im Schnee stecken geblieben.

Hauptkommissar Forster hielt direkt vor dem Eingang zur Klamm und wollte gerade aussteigen, als sein Dienstwagen einen kleinen Satz nach vorne machte und dann langsam gegen einen dieser Pfosten rutschte, die nur noch wenige Zentimeter aus dem Schnee herausschauten. Als der Transporter die hintere Stoßstange des Dienstwagens zusammendrückte, die ächzend ein metallisch knirschendes Geräusch von sich gab, war Florian bereits aus dem Wagen gesprungen und versank augenblicklich bis zum Knie im Schnee.

Er schloss die Augen, atmete einmal tief durch und wartete mehrere Sekunden, bis er sich schließlich umdrehte, Jacke und Mütze vom Rücksitz holte, sich seinen Schal dreimal um den Hals wickelte und in die Daunenjacke schlüpfte.

»Sag mal, wo hast du eigentlich fahren gelernt, du Zipfel?«, fuhr er schließlich Erwin Buchmann an, als der aus dem Transporter stieg und ebenfalls laut fluchte.

»’tschuldige, Mann. Konnte nicht rechtzeitig bremsen.«

Die vier mussten beinahe eine halbe Stunde gehen, bis sie den vermeintlichen Unfallort erreichten. Dort trafen sie auf das Team der österreichischen Bergrettung aus dem Kleinwalsertal, das zuerst gerufen worden war. Doch die Unglücksstelle lag auf deutschem Boden, sodass die Zuständigkeit den deutschen Kriminalbeamten oblag.

Direkt vor ihnen klaffte ein großes Loch. Ein gewaltiger Erdrutsch hatte mindestens zwei Meter des Weges mitgerissen, auf dem sie standen, und Schutt, Felsbrocken und Erde in die weiter unten liegende Breitach gespült. Vom Fluss selbst war von hier oben nichts zu sehen, denn es war jetzt am späten Nachmittag bereits so dunkel, dass Florian kaum mehr als die Umrisse seiner Kollegen erkennen konnte. Doch das Rauschen des Wassers dröhnte laut und klang bedrohlich. Einen Sturz aus dieser Höhe in den reißenden Fluss würde man wohl nur schwerverletzt überleben.

Wenn man viel Glück hatte.

»Waren Sie schon unten?«, fragte der Hauptkommissar den Bergretter auf der anderen Seite der breiten Grube zwischen ihnen und leuchtete gleichzeitig mit seiner Taschenlampe suchend über die entstandene Schutthalde.

»Die Leiche liegt weiter unten. Ich war schon dort«, gab der junge Mann Auskunft. »Wenn Sie runter wollen, muss ich Sie abseilen, anders ist es unmöglich.«

Jetzt sah Florian die Seile, die weiter oben an einem Baum befestigt und mit allerlei Karabinerhaken und Knoten gesichert waren. »Na, dann wollen wir mal.« Der Hauptkommissar seufzte. »Ich gehe zuerst. Ewe, du kommst nach. Die anderen beiden bleiben hier oben«, befahl er, fing das Gurtsystem auf, das der Bergretter ihm zuwarf, und ließ sich schließlich beim Abstieg helfen, ohne zu wissen, was ihn dort unten erwarten würde.

Der Scheinwerfer war über und über mit Dreck überzogen. Das Gerät war genau wie er beim Herunterlassen durch braunen Schlamm gerutscht und an Felsen geschlagen. Sollte er jemals wieder diese schleimige Soße von seinem Körper und seinen Klamotten bekommen, würden die unzähligen blauen Flecken sichtbar werden, die er an Armen und Beinen hatte. Sich in dieser Dunkelheit einen felsigen und nassen Abgrund abseilen zu lassen, war keine gute Idee gewesen, leider aber eine Notwendigkeit. Mit dem Ärmel seiner verschmutzten Jacke wischte er die matschige Dreckschicht vom Scheinwerfer und endlich wurde es etwas heller hier unten.

»Obacht«, hörte er Ewes Stimme weiter oben brüllen, gefolgt von einem polternden Geräusch, das stetig lauter wurde und auf ihn zuzukommen schien. Geistesgegenwärtig sprang Hauptkommissar Forster zurück, trat dabei ungeschickt auf einen glitschigen Stein, rutschte aus und landete schmerzhaft auf seinem Hinterteil. Der schwere Metallkoffer des Gerichtsmediziners, der sich verselbständigt hatte, krachte im gleichen Augenblick gegen eine Felswand neben ihm und blieb dort liegen. Das Teil hätte ihn nicht nur von den Füßen gerissen, sondern ihm vermutlich beide Schienbeine gebrochen.