Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms

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Kapitel 6
In Flammen

Urs litt. Er hatte Biene nach draußen gebracht, und noch lange nachdem sie gegangen war, hatten Mira und Chas ihn auf dem freien Platz auf und ab laufen hören. Irgendwann, als die Sonne schon beinahe untergegangen war, war er wieder zu ihnen in das Innere des verschütteten Wagens geklettert. In der Dunkelheit, die mittlerweile hier drinnen herrschte, hatte er sich wortlos in den Kofferraum gesetzt und sich von dort nicht mehr wegbewegt.

Und nun warteten sie. Urs starrte durch das fehlende Heckfenster und ruckte unwillig mit dem Kopf, wenn einer von ihnen ein Geräusch verursachte, das ihn aus seinem angestrengten Lauschen riss. Deshalb schwiegen Chas und Mira, und nur hin und wieder kommunizierten sie lautlos − zuerst mit Blicken und, als es dafür zu dunkel wurde, durch eine rasche Berührung ihrer Hände, wann immer sie etwas zu hören glaubten.

Sie hatten keine Uhr, und ihr Zeitgefühl mochte sie trügen, aber es musste bereits nach Anbruch der Ausgangssperre sein. Biene hätte längst zurück sein müssen.

„Vielleicht musste sie bei den Rebellen in Cem untertauchen“, flüsterte Mira, weil sie es nicht ertragen konnte, Urs länger untätig zuzusehen.

Chas’ Finger streiften ihren Handrücken, und wenn Mira nicht alles täuschte, bedeutete seine Berührung dieses Mal: „Lass gut sein.“

Mira stieß die Luft aus. Natürlich hatte Chas recht: Ihre Worte waren leer und halfen Urs nicht weiter. Seine Freundin war möglicherweise in Gefahr, und er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Aus jüngster Erfahrung wusste Mira ganz genau, wie sich solch erzwungene Tatenlosigkeit anfühlte. Alles war erträglich gewesen, solange sie etwas hatte tun können − sich in die Stadt schleichen, in das staatliche Gesundheitszentrum einbrechen. Auch wenn es nur verzweifelte Versuche gewesen waren, Chas zu helfen, hatten sie Mira beschäftigt gehalten, Körper und Geist funktionieren lassen, weil sie noch gebraucht wurde. Aber im Gefängnis, als sie zum Stillstand verdammt gewesen war, da waren bei ihr sämtliche Sicherungen durchgebrannt.

Kurz vor diesem Punkt stand Urs. Mira fühlte seine Anspannung, als läge sie greifbar in der Luft. So wie manchmal die innige Verbundenheit zwischen Urs und Biene greifbar war, wenn sie einander ansahen, im Arm hielten oder nur stumm nebeneinandersaßen. Mira hatte nie zwei Menschen gesehen, deren Leben, ja deren ganze Wesen so untrennbar miteinander verwoben waren. Was würde mit Urs geschehen, wenn Biene nicht zurückkäme?

„Du wirst nicht in die Stadt gehen, oder?“, fragte sie leise.

Urs drehte ihr flüchtig den Kopf zu, dann starrte er wieder aus dem Heckfenster.

„Nicht vor dem Morgen jedenfalls“, setzte Mira hinzu. „Du bist Biene keine Hilfe, wenn sie dich während der Ausgangssperre draußen erwischen.“

„Hier bin ich ihr auch keine Hilfe“, knurrte Urs.

„Wenn sie bis Sonnenaufgang nicht zurück ist …“ Mira schluckte. Urs würde nicht bis Sonnenaufgang warten. Und wie könnten sie es von ihm erwarten? Er liebte Biene, er konnte sie einfach nicht verlieren. „Lass uns noch eine Weile warten“, flüsterte Mira. „Dann können wir …“

„Still!“ Urs hob die Hand, und als Mira verstummte, hörte sie es auch. Hastige Schritte draußen auf dem Schrottplatz.

„Warte“, raunte Chas. „Es könnten auch Wachen sein.“

Aber Urs hatte sich bereits durch das Heckfenster geschoben und begann, den Fluchttunnel emporzuklettern. Seine übliche Vorsicht und Selbstbeherrschung waren wie weggewischt.

Mira schloss ihre Hand um Chas’ Finger und lauschte. „Urs!“, ertönte endlich eine Stimme. Eindeutig die von Biene. Aber Mira wollte kein Stein vom Herzen fallen. Zu deutlich schwang die Angst in Bienes atemlosen Ruf mit.

„Ihr müsst euch das ansehen! Ihr müsst … Mira!“

Mira stürzte zum Heckfenster. Erst als sie schon halb draußen im Tunnel war, fiel ihr Chas wieder ein. Sie wandte sich zu ihm um. „Warte hier. Ich sehe nach, was los ist, und komme wieder.“

Sie wusste, dass es das einzig Sinnvolle war, aber es fühlte sich dennoch falsch an, Chas zurückzulassen. Dass er nichts erwiderte, machte es nicht besser.

Trotzdem kletterte Mira, so schnell sie nur konnte, aus ihrem Versteck.

Draußen war es heller. Mondlicht beschien den Autofriedhof, die Berge unnützer Metallteile und den freien Platz, auf dem Urs und Biene in inniger Umarmung standen.

Als Mira neben ihnen den Schrotthaufen hinabstolperte, löste Biene sich von Urs. „Ihr müsst mitkommen. Ihr glaubt nicht, was in der Stadt vor sich geht!“

„Aber die Ausgangssperre …“

„Glaubt mir, heute kümmert das keinen.“ Mira fiel auf, dass Bienes Gesicht ganz rot war. Das kurze Haar stand wild von ihrem Kopf ab. Sie stellte einen offenbar gut gefüllten Rucksack am Fuß des Schrotthaufens ab und nahm Urs bei der Hand. Er ließ sich ohne zu zögern von ihr mitziehen.

Mira brauchte ein wenig länger, aber sie folgte den beiden. In leichtem Trab näherten sie sich der Stadt und sprachen dabei nicht. Deshalb hörte Mira die Stimmen auch schon von Weitem. Dem Geräuschpegel nach zu urteilen, musste halb Cem auf den Beinen sein.

Die ersten Häuser, die in ihre Sichtweite kamen, bestätigten diesen Eindruck. Menschen standen in offenen Türen oder lehnten sich aus den dunklen Fenstern. Strom hatten die privaten Haushalte um diese Zeit längst nicht mehr, aber manche Leute hatten Taschenlampen oder sogar Kerzen bei sich, die dem weißen Licht des Mondes ein wenig nachhalfen und neugierige, aufgeregte und erschrockene Gesichter erhellten. Man reckte die Hälse, sah die Straße hinab und unterhielt sich dabei aufgeregt.

Die drei Neuankömmlinge beachtete niemand. Völlig unbehelligt folgten Urs und Mira Biene weiter die Straße hinab, wo das Aufgebot an nächtlichen Schaulustigen noch zunahm. Stellenweise hatte sich eine richtige Menschenmasse gebildet.

Dicht gedrängt standen sie in den Straßen. Erwachsene und Kinder, Mittellose und offensichtlich Bessersituierte, besorgt Tuschelnde und sich schaulustig Reckende. Die ganze Szene war von rötlichem Schein erhellt, der direkt aus dem Herzen der Menschenmenge zu dringen schien. Er ließ die Schatten der Versammelten tanzen und flackern. Jemand musste dort ein Feuer entzündet haben.

Mira musste sich strecken, weil die Leute hier so dicht standen, dass sie nur die Rücken einiger Frauen direkt vor sich sehen konnte. Eindeutig, Flammen. Mannshoch loderten sie bereits. In Miras Bauch zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Warum machte niemand Anstalten, das Feuer zu löschen? Wussten die Menschen nicht, wie rasch solch ein Brand sich ausbreiten konnte? Die Armenviertel von Leonardsburg waren innerhalb einer einzigen schrecklichen Feuernacht nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden.

„Nein!“

Mira fuhr herum, um dem Ursprung des gellenden Schreis nachzugehen. Aus einem Haus zu ihrer Rechten schleppten zwei Wachmänner eine Kiste. Eine Frau mit langem, grauem Haar machte es ihnen fast unmöglich, indem sie sich an ebendiese Holzkiste klammerte.

Ein junger Mann wiederum hielt die Frau am Arm zurück. „Mutter, bitte“, flehte er. „Lass sie ihre Arbeit machen. Sie werden dich sonst verhaften. Ich bitte dich!“

Aber die alte Frau dachte gar nicht daran. Was immer sich in der Kiste befand, es schien von enormem Wert für sie zu sein. Mit einer Kraft, die man ihren dünnen Armen kaum zugetraut hätte, zerrte sie daran. „Nehmen Sie sie mir nicht weg. Nicht ins Feuer, bitte, nicht ins Feuer!“

Die Umstehenden traten hastig einige Schritte zurück, als die Wachmänner die Kiste samt der Frau durch die Tür nach draußen zerrten. Aus dem Augenwinkel sah Mira, wie Urs zuckte, aber Biene legte ihm die Hand auf den Arm, und er blieb widerwillig, wo er war.

„Nicht verbrennen!“, flehte die Frau und zog mit aller Kraft an der hölzernen Kiste − ohne auch nur den geringsten Erfolg. Im Feuerschein blitzte es silbern auf, als einer der Wachmänner eine Schusswaffe zog.

„Mutter!“ Der Mann packte die Frau an beiden Schultern, um sie aus der Schusslinie zu ziehen, doch der Wachmann schien gar nicht vorzuhaben, auf sie zu schießen. Stattdessen rammte er den metallenen Kolben der Waffe so unvermittelt in ihre Rippen, dass die Frau von den Füßen gerissen wurde. Ihr Sohn stürzte sofort an ihre Seite. Mira wäre vielleicht auch zu ihr geeilt oder hätte sich zumindest vergewissert, ob die Frau wieder auf die Beine kam. Doch in diesem Moment traten die Menschen zur Seite, um den Wachleuten Platz zu machen, und Mira erhaschte einen Blick auf das Feuer.

Es mussten Hunderte sein, vielleicht Tausende. Manche waren aufgeklappt und offenbarten ein letztes Mal ihre dicht beschriebenen Seiten, die oft gelesenen, geliebten Worte, die mancher im Schein einer Taschenlampe in sich aufgesogen hatte, sie vor sich hingemurmelt, auswendig gelernt haben mochte. Andere waren verschlossen, doch auch die ledernen, leinenen, glänzenden Umschläge konnten das kostbare Gut aus dünnem, leicht entflammbarem Papier nicht schützen. Die Glut fraß sich in dicke Wälzer, verschlang dünne Heftchen und kroch über kunstvolle Titelbilder. Nichts blieb verschont.

Am Rande der Flammen drehten die beiden Wachmänner die Kiste um, und drei weitere Dutzend Bücher ergossen sich in das Inferno.

Mira schob sich an den Menschen vorbei, drängte sich so nahe an das Feuer, dass sie die Hitze auf ihrem Gesicht spürte. Die gleiche Hitze, die nur einen knappen Meter von ihr Millionen von kostbaren gedruckten Worten und Sätzen vernichtete. Unfähig, sich der glühenden Hitzequelle weiter zu nähern, ging sie in die Hocke und starrte in die Flammen. Die Luft flirrte vor Hitze und ließ Miras Blickfeld verschwimmen, aber dennoch glaubte sie, einen vertrauten Titel unter den frisch hinzugekommenen Büchern zu erblicken. Ein Buch, das sie selbst gelesen und geliebt hatte. Und Hunderte, die sie nicht kannte und nun vielleicht auch niemals kennen würde.

 

Der Rauch brannte in Miras Augen und Kehle, der beißende Geruch überdeckte jede Erinnerung an den unvergleichbaren Duft papierner Seiten und Druckerschwärze, der ihr in der Buchhandlung „Porters Höhle“ so vertraut geworden war.

„Und das sind alles verbotene Schriften?“, fragte eine der Frauen, an denen Mira sich vorbeigedrängt hatte. Sie hatte die Stimme gesenkt. „So viele?“

„Unsinn, ich denke, sie wollen auf Nummer sicher gehen.“ Ihre Begleiterin schnalzte mit der Zunge. „Hier und dort soll es noch verbotene Schriften gegeben haben, und so können sie sicher sein, dass sie alle erwischen. Längst überfällig, wenn du mich fragst. Es gehört sich sowieso nicht, zu lesen. Hat etwas Zwielichtiges, das musst du zugeben.“

„Und so viele unserer Nachbarn hatten Bücher! Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.“

„Nun, ich habe gehört, die Hauptstadt ist schon seit Monaten völlig bücherfrei. Höchste Zeit, dass auch Cem mit dem Fortschritt geht. Heute Abend soll es in vielen Städten Bücherverbrennungen geben, wenn man den Gerüchten trauen kann. Macht die Welt um einiges sicherer.“

Langsam rückte Mira von den schwatzenden Frauen ab und näher ans Feuer. Nun hätte sie beinahe die Hand ausstrecken und einen der verkohlten Buchkadaver berühren können. Vielleicht war ein Teil davon noch lesbar …

„He, Mädchen!“

Mira schreckte ertappt zurück.

Ein Wachmann war dicht hinter sie getreten. „Mach, dass du da wegkommst! Gesindel“, wandte er sich dann an einen seiner Kollegen. „Will die Überreste wohl auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen.“

Mit einem Gefühl, als würde ihr Magen in Sekundenschnelle im freien Fall nach unten sacken, wurde Mira sich bewusst, dass sie noch immer Bienes Außenstädterkleidung trug. Und das vermutlich noch zu ihrem Glück, denn das war ihre einzige Tarnung, die nicht einmal besonders gut war.

Sie erhob sich langsam, ließ den Blick aber geflissentlich auf den Boden gerichtet, damit die Wachmänner ihr nicht ins Gesicht sehen konnten. An ihre klobigen Stiefel gewandt, murmelte sie: „Entschuldigung.“ Sie wartete einen Augenblick, ob sie vorhatten, sie aufzuhalten, doch als nichts geschah, tauchte sie hastig wieder in der Menge unter. Sie stieß beinahe mit Biene zusammen.

„Lasst uns abhauen.“ Endlich konnte sie den Blick wieder heben. „Hier will ich keine Minute mehr bleiben.“

„Porters Höhle“ wollte Mira nicht aus dem Kopf gehen. Dieser wunderbare, fast verwunschene Ort voller Bücher, vom Boden bis zur Decke, fein säuberlich in alte, hölzerne Regale einsortiert. Eine Stille hatte stets über dem kleinen Buchladen gelegen, eine Stille, in der Mira, wenn sie die Augen geschlossen und tief in sich hineingelauscht hatte, hundert wispernde Stimmen gehört hatte, die ihre geheimnisvollen Geschichten erzählen wollten.

Wie oft hatte sie an diesem Ort stiller Heiligkeit nach einem neuen Abenteuer gestöbert, es mit nach Hause genommen in ihre damals so gar nicht abenteuerliche Welt. Unter der Bettdecke hatte sie die Geschichten gelesen und sie tags darauf nur schweren Herzens in den Buchladen zurückgebracht, nur um sich ein neues Buch auszusuchen, das sie noch nicht kannte.

Sie hasste den Staat von ganzem Herzen. Hasste ihn, weil er das Wunderbarste zerstört hatte, das in dieser abscheulichen Enge noch geblieben war. Die Bücher, in die sie sich so viele Jahre lang geflüchtet hatte.

Der Gedanke, dass sich vor Edmund Porters wunderbarem Buchladen eine ähnliche Szene abspielte wie die, deren Zeugen sie heute Nacht geworden waren, schnürte ihr die Kehle zu. Am liebsten hätte sie geweint, und sie sehnte sich wie nie zuvor nach Edmund Porters verstehenden Blick und seinen weisen Worten.

Sie legten den Weg zum Autofriedhof schweigend zurück. Mira war sicher, dass, wenn jemand das Wort an sie richtete, die Tränen doch noch die Oberhand gewinnen würden, und auch Urs und Biene schienen erschüttert von dem, was sie eben beobachtet hatten. Vielleicht nicht wegen des Verlustes, den Mira empfand, aber doch wegen der Angst vor dem, was es bedeutete. Die Netze zogen sich zu. Die tastende Hand staatlicher Kontrolle war ihnen mit einem Mal um so vieles näher gekommen.

Mira konnte es nicht erwarten, in die sichere Enge ihres unterirdischen Versteckes zu klettern. Die Welt hier draußen würde verschwinden, und Chas wäre dort. Sie sehnte sich nach seiner Anwesenheit, danach, ihm zu erzählen, was sie beobachtet hatten. Er sprach nie besonders viel, aber er war ein ausgezeichneter Zuhörer. Und er teilte ihre und Edmunds Liebe zu Büchern.

Nacheinander kletterten sie den Tunnel hinab und durch das Heckfenster. Hier drinnen war es dunkler, und Miras Augen mussten sich zuerst an die neue Umgebung gewöhnen. Einen schrecklichen Moment lang dachte sie, Chas wäre gar nicht da. Doch dann sah sie, dass er auf den Vordersitz des Wagens geklettert war, hinter das Lenkrad. Er starrte durch die noch intakte Frontscheibe hinaus in die unterirdische Schwärze. Ihre Rückkehr bedachte er kaum mit einem kurzen Blick.

Irritiert von seinem Desinteresse kroch Mira über die Rückbank auf den lehnenlosen Beifahrersitz neben ihm. „Alles okay?“

„Sicher.“ Chas sah sie nicht an. Er bewegte sich auch nicht. „Und bei euch?“

Mira warf einen hilfesuchenden Blick zu Urs und Biene, die hinter ihr in den Wagen geklettert waren. Sie hatte Chas von den hässlichen Dingen erzählen wollen, die in der Stadt geschehen waren, aber nun fehlten ihr die Worte. „In der Stadt verbrennen sie die Bücher“, murmelte sie nur ein wenig kläglich.

„Ja?“ Chas warf ihr nun doch einen flüchtigen Blick zu, dann drehte er sich zur anderen Seite und lehnte den Kopf gegen die Fahrertür. „Weißt du, es ist spät. Ihr wart ziemlich lange weg, und ich wollte eigentlich gerade schlafen.“

Fassungslos starrte Mira ihn an. „Okay.“ Ihre Kehle war eng geworden, und ihr „Gute Nacht“ kam nur gepresst heraus. Weil sie es nicht über sich brachte, sich erneut zu Urs und Biene umzuwenden, die stumm auf dem Rücksitz saßen, betrachtete sie Chas’ Rücken und tat es ihm irgendwann gleich, indem sie sich an den Fahrzeugrahmen zwischen den beiden rissigen Fenstern auf ihrer Seite lehnte und vorgab zu schlafen. In Wirklichkeit gab sie endlich den Tränen nach.

Chas’ Atemzüge und das Flüstern von Biene auf dem Rücksitz mussten sie in den Schlaf gewiegt haben. Mira erwachte von einem anderen Geräusch, einer anderen Stimme. Sie blinzelte ein wenig, fühlte sich aber zu erschlagen, zu ausgelaugt, um den Kopf zu heben, obwohl ihre Schultern von der seitlichen Haltung schmerzten.

„Das tut mir aufrichtig leid.“ Gesprächsfetzen drangen durch die Schwere zu Mira durch. Urs’ Stimme klang weich. Sie klang eigentlich fast immer weich, überlegte Mira schlaftrunken. Wie ein schwerer Samtvorhang. Ganz sicher nicht wie die Stimme eines Rebellen.

Rebellen. Biene. Flammen und Bücher. Bücher und Flammen. Bücher in Flammen. Die Geschehnisse des vergangenen Tages schlugen wie eine eisige Welle über Mira zusammen und zogen die samtige Wärme, die der Schlaf und der Klang von Urs’ Stimme hinterlassen hatten, schlagartig weg.

Mira riss die Augen auf und starrte regungslos in die bleierne Dunkelheit um sie herum. Sie wollte sich eben vorsichtig aufrichten, um die anderen nicht zu wecken, da ergriff erneut Urs das Wort. „Einer von uns hätte hierbleiben sollen. Bei den Rebellen …“ Er sog scharf die Luft ein. „Wir lassen nie einen Einzelnen zurück. Es widerspricht unseren Überzeugungen.“

Niemand antwortete, und Mira begann bereits, sich zu fragen, ob Urs am Ende mit sich selbst sprach.

„Sie war bei euch“, erklang jedoch endlich Chas’ Stimme, so viel näher an Mira als die von Urs, dass sie unwillkürlich zusammenfuhr. „In Außenstädterkleidung. Ich wusste nicht … wenn ihr nun etwas zugestoßen wäre.“

Ein glühender Stich fuhr Mira durch die Eingeweide, als ihr klar wurde, dass Chas von ihr sprach.

„Du hast dir Sorgen gemacht“, stellte Urs nüchtern fest. „Als Biene heute alleine in der Stadt war, bin ich vor Angst ebenfalls fast gestorben.“

„Ich hab keine Angst.“

„Aber du willst sie nicht verlieren.“

Es war eine Feststellung, keine Frage, doch Chas antwortete dennoch darauf, und so viel Offenheit sah ihm derart unähnlich, dass Mira unwillkürlich den Atem anhielt. „An dem Abend, an dem sie zum ersten Mal zu den Fischerkindern kam, wollte ich Klein-Ararat eigentlich verlassen. Und seitdem noch zwei weitere Male. Aber mir ist es nie gelungen, Mira zurückzulassen.“

Urs erwiderte nichts, aber Mira war sich beinahe sicher, dass er lächelte. Sie selbst lehnte regungslos an der Autokarosserie und spürte, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte und eine so tiefe Zärtlichkeit für Chas in ihr aufstieg, dass alles in ihr danach verlangte, das Schlaftheater aufzugeben und sich ihm zuzuwenden.

„Ich weiß nicht“, sagte Chas, und Mira wurde sich bewusst, dass sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen so abgelenkt gewesen war, dass sie überhört haben musste, was Urs gefragt hatte. „Es gibt ja auch noch Filip.“

„Aber er und Mira … sie sind nicht zusammen, oder?“

„Um ehrlich zu sein, weiß sie das wahrscheinlich selbst nicht einmal so genau.“ Chas lachte leise, aber es war deutlich zu hören, dass er diese verworrene Geschichte zwischen Mira und Filip nicht wirklich lustig fand. „Jedenfalls wird sie in mir niemals mehr als einen Freund sehen, ehe sie und Filip das nicht geklärt haben. Wahrscheinlich wäre es auch viel verlangt, solange Filip in Gefahr schwebt.“

„Und das auch noch ihretwegen“, murmelte Urs. „Weil er sie beschützen wollte.“

„Eigentlich meinetwegen.“

„Deinetwegen?“

Chas seufzte. „Er glaubt … er hat etwas gegen mich in der Hand. Um Mira zu schützen, hat er mich gedeckt. Ich befürchte, das ist der Grund, aus dem sie ihn verhaftet haben.“

Wieder folgte ein langes Schweigen. Mehr konnte Chas unmöglich preisgeben, wenn er Urs nicht verraten wollte, dass er in Wirklichkeit Carl Auttenberg war. Und dass Filip und sein Wachmannkollege ihn höchstwahrscheinlich erkannt hatten.

„Ist es wahr?“, fragte Chas unvermittelt. „Dass sie die Bücher verbrennen?“

„Ja.“

Auch dazu sagte Chas nichts. Er gab überhaupt keine hörbare Reaktion von sich. Doch Mira spürte seine Hand auf ihrem Arm. Er tastete sich vorwärts bis zu ihrem Hals und strich vorsichtig über ihr Haar.

Schnell presste Mira die Augen wieder zu und hoffte, dass Chas nicht bemerkte, dass ihr Atem viel zu hastig ging für eine Schlafende.

Als Mira das nächste Mal die Augen aufschlug, drang wieder Sonnenlicht in ihr Versteck. Ihr ganzer Körper fühlte sich steif und verspannt an. Der Hals schmerzte vom Lehnen an der Karosserie, und sie hatte einen metallischen Geschmack auf der Zunge, als hätte sie sich im Schlaf die Lippe blutig gebissen.

Chas’ Hand war von ihrem Haar verschwunden. Sie drehte den Kopf, um festzustellen, dass er noch immer neben ihr saß. Auch er war wach. In den Händen hielt er die Bibel, die Edmund ihnen beim Abschied geschenkt hatte. Die Bibel, mit der alles begonnen hatte, wegen derer Mira zur Diebin und zur Verräterin geworden und zu den Fischerkindern gekommen war.

Einem plötzlichen und heftigen Impuls folgend, streckte Mira die Hand aus und legte sie ebenfalls auf das raue Leder des Buches.

Überrascht sah Chas auf, zog seine Hand jedoch nicht weg.

„Wer weiß, wie viele nun noch übrig sind“, flüsterte Mira. „Vielleicht ist es das letzte.“

„Darüber habe ich auch gerade nachgedacht.“ Chas’ Stimme klang rau. Ob er die ganze Nacht wach gelegen hatte? Mira musterte sein Gesicht. Die blasse Haut, die unansehnlich lang gewordenen Bartstoppeln, die dunklen Schatten unter den karamellfarbenen Augen.

„Eine Welt ohne Bücher“, sagte sie leise, und der bloße Gedanke beschwor eine tiefe, fassungslose Leere in ihr herauf.

Aber Chas’ Züge hatten sich verhärtet. „Ein Land“, berichtigte er. „Es ist nur dieses verfluchte Land, das verrückt spielt. In Amerika … wenn ich erst dort bin …“ Er verstummte.

„Am liebsten würde ich mitkommen.“

Chas’ Augen fanden die ihren und hielten ihren Blick fest. „Dann komm mit.“

Einen wunderschönen, süßen Moment lang erlaubte sich Mira, es sich vorzustellen. Ein fremdes Land ohne Justizstaatsbeamte und Mauern, ohne hungernde Außenbezirke, heimliche Versammlungen und Angst vor dem Entdecktwerden. Dafür mit der Freiheit, zu gehen, wohin sie wollte, zu denken und zu sagen, was ihr in den Sinn kam, mit einem sicheren Zuhause für sie alle und mit Büchern. Und Chas.

 

„Filip“, presste sie jedoch über die Lippen. „Zuerst müssen wir Filip helfen.“

„Ja“, erwiderte Chas, und das knappe Wort sagte mehr als das. Als ahne er, dass Mira, wenn sie Filip erst befreit hatten, niemals mit ihm nach Amerika kommen würde. So einfach war es immerhin nicht.

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