Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms

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Mira betrachtete ihre Hände, die immer noch die Glasflasche hielten. „Also haben ihre Eltern die Schwangerschaft gar nicht gemeldet? Sie waren nicht bei den Untersuchungen? Ich meine … ist das nicht unverantwortlich? Stella hätte krank sein können! Ihre Eltern wussten doch gar nicht …“

„Darum geht es denen doch gar nicht.“ Bienes Miene war steinern geworden. „Sie wollen nur die Kontrolle über die Einwohnerzahlen behalten. Und sicherstellen, dass sie Einfluss auf die ersten Lebensjahre der Kinder nehmen können. Hast du nicht gehört? Sie wollen die Kinder jetzt erst mit sechs Jahren bei ihren Familien leben lassen. Bis dahin sollen sie in den staatlichen Einrichtungen bleiben. Mit Besuchsrecht natürlich, wegen der Bindung zu den Eltern.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ihre ach so guten Absichten rechtfertigen es, dass sie die Familien zerstören.“

Mira hatte Biene noch nie so bitter erlebt. „Was ist eigentlich … was ist aus deinem Vater geworden?“, fragte sie, sich jäh erinnernd, dass auch Bienes Familie Opfer der Kontrollausübung des Staates geworden war.

„Sie haben ihn gehen lassen. Aber er hat keine Arbeitserlaubnis mehr und kann unsere Familie nicht ernähren. Ich habe drei kleine Geschwister.“ Sie starrte an Mira vorbei in den wolkenlosen Himmel. „Sie bräuchten mich zu Hause. Jede helfende Hand bräuchten sie. Aber wenn ich geblieben wäre, hätte ich sie alle in Gefahr gebracht. Wenn herauskommt, dass ich Teil der gesuchten Gruppe war …“ Sie verstummte.

Zuerst glaubte Mira, dass die Tränen ihr die Stimme abgeschnürt und ihr das Sprechen unmöglich gemacht hatten. Doch dann sah sie, wie Panik über Bienes Gesicht flackerte.

Mira wandte den Kopf, um Bienes Blick zu folgen, doch sie hörte es, noch bevor sie irgendetwas sah. Ein Auto. Keines der antriebslosen Wracks auf dem Schrottplatz um sie herum, sondern eines mit einem funktionstüchtigen Elektromotor.

Mira konnte die wenigen Male, die sie dieses Geräusch bisher gehört hatte, an einer Hand abzählen. In Leonardsburg gab es keine Fahrzeuge. Die Stadt war klein genug, um alles zu Fuß zu erreichen. Nur selten kamen Staatsbeamte von außerhalb.

Aber das leise Knirschen von Reifen auf rauem Untergrund hätte sie überall wiedererkannt. Als kleines Mädchen hatte sie aufgeregt darauf gelauscht. Das hatten alle Kinder. Sie waren auf die Straße gelaufen, um einen Blick auf das wundersame Gefährt zu werfen, wenn einmal eines in der Stadt gewesen war, und hatten es mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Faszination beobachtet.

Auch jetzt schlug Miras Herz ihr augenblicklich bis zum Hals. Nicht vor Aufregung, sondern vor Entsetzen. Ein Auto konnte nur eines bedeuten: Jemand war ihnen auf der Spur.

Kapitel 5
Unter der Oberfläche

Urs war hellwach, kaum dass Biene ihn sachte an der Schulter schüttelte. Mira konnte ihre geflüsterten Worte kaum verstehen, so leise wisperte sie sie in Urs’ Ohr. Darauf bedacht, sich ebenso lautlos zu verhalten, sprang Mira auf die Beine. Sie wussten nicht, wie nahe die Wachposten waren, noch, mit wie vielen sie es zu tun hatten. Einzig dass es sich um Wachposten handeln musste, das stand außer Frage. Wer sonst verfügte über ein funktionstüchtiges Fahrzeug?

Das Geräusch der Reifen verstummte, und Metall knallte auf Metall. Entweder Miras Gehör war vor Angst geschärft, oder sie waren ihnen tatsächlich ungeheuerlich nahe. Vielleicht gleich dort hinter dem windschiefen Haufen aus rostigen Autoteilen.

Auf halber Höhe des enormen Hügels war ein gelbes, größtenteils erhaltenes Fahrzeug eingeklemmt. Die Reifen fehlten, und sein Heck war völlig im Fundament des Schrotthaufens verschüttet. Aber die vordere Tür war zu erreichen.

„Da hinein!“ Urs und Biene folgten ihrem Nicken. Mira wartete nicht auf etwaigen Widerspruch. Natürlich war es riskant. Der gelbe Wagen war verbeult, die Tür womöglich völlig verkeilt, die Scharniere verrostet und der ganze Berg eine tödliche Falle, wenn er beim Versuch, ihn zu erklimmen, in sich zusammenbrach.

Irgendwo − schwer zu sagen, ob fern oder schon ganz nah − hörten sie gedämpfte Stimmen.

Urs rappelte sich auf und rannte in die von Mira gewiesene Richtung. Mira sah zu, wie er mit sorgfältigen Schritten prüfte, ob der Berg ihn halten würde, doch als er sich schließlich an der gelben Tür zu schaffen machte, ließ sie sich neben Chas auf die Knie fallen.

Es hatte keinen Sinn, ihn zu wecken und ihm die Situation zu erklären. Nach so langer Zeit ohne Bewusstsein, nach so heftigem Kampf mit dem Tod, war Chas nicht in der Lage, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er konnte den Berg nicht erklimmen und in den Innenraum des Wagens klettern. Vermutlich konnte er noch nicht einmal ohne ihre Hilfe laufen.

Stattdessen schob sie die Hände unter seine Schultern, griff ihn, so gut sie konnte, unter den Achseln und zerrte ihn über den staubigen Grund mit sich.

Noch ehe Biene mitanpacken konnte, riss Chas die Augen auf und setzte zu heftigem Protest an.

„Du musst still sein“, herrschte Mira ihn an. „Kein Wort! Wir retten dir gerade das Leben.“

Und tatsächlich biss Chas die Zähne zusammen und blieb stumm. Nur als sie ihn am Fuß des Schrotthaufens in eine aufrechtere Position ziehen wollten, entfuhr ihm ein schmerzvolles Stöhnen.

Einen halben Meter über ihnen war es Urs derweil gelungen, die Tür des gelben Wagens aufzubrechen. Sie knallte gegen die Wand aus rostigen Metallstücken und brachte einige davon zu Fall. Mit ohrenbetäubendem Scheppern rutschten sie den Hang hinab. Eines davon traf Mira am Knöchel, doch Schmerz spürte sie nicht.

Um den Lärm, den sie hier veranstalteten, nicht gehört zu haben, müssten die Wachmänner, die ihre Verfolgung aufgenommen hatten, vollständig taub sein. Sie packte Chas fester. Er biss sich auf die Unterlippe, während sie versuchte, ihn mit sich nach oben zu ziehen. Aber ihre Kraft reichte nicht aus. Ihre Hände rutschten ab, doch Chas konnte sich in letzter Sekunde selbst mit beiden Armen abfangen. Dieses Mal konnte er einen Aufschrei nicht unterdrücken. Die abrupte Belastung seines verletzten Arms musste ihm höllische Schmerzen bereiten.

„Es tut mir leid.“ Mira fühlte ein Brennen in ihrer Kehle, schluckte die Tränen jedoch mühsam hinunter. „Es tut mir so leid, aber ich muss …“

„Lass mich machen!“ Urs schob Mira so grob zur Seite, dass sie den Hang hinabrutschte und noch mehr Metallteile polternd zu Fall brachte. Biene kletterte hinter Urs durch die Tür des Wagens und half von dort, den vor Schmerz keuchenden Chas in das Innere des Autos zu zerren.

Auch Mira machte sich wieder an den Anstieg. Müssten die Wachmänner sie nicht längst erreicht haben? Jeden Augenblick konnten sie hinter ihrem Rücken auftauchen. Mira konnte dem Drang nicht widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellte. Ihre Hand griff ins Leere, und eine Schreckenssekunde lang spürte Mira, wie ihr Körper den Halt verlor. Dann packten Urs’ kräftige Hände ihre Arme und zogen Mira durch die offene Wagentür.

Einen Moment lang stand alles still. Sie keuchten vor Anstrengung, Schmerz oder Panik und übertönten dadurch beinahe die Schritte, die draußen auf Kies und Schrott knirschten. Dann lehnte Biene sich vor, um die Tür hinter Mira zuzuziehen − und in diesem Moment zerriss die Welt um sie herum in Chaos.

Krachend schlugen Metallteile zusammen. Mira wurde über die fehlende Rückenlehne auf den Rücksitz des Schrottwagens geschleudert, Biene schrie, Urs schwerer Körper presste sich auf Miras, das Dach über ihnen knirschte, und Dunkelheit verschluckte sie.

Erst als der Grund, auf dem sie lag, zum Stillstand kam, wurde Mira klar, dass der Schrotthaufen, in dem ihr Auto wie ein Nagel in der Wand gesteckt hatte, in sich zusammengebrochen sein musste. Er hatte sie unter Schutt begraben, und nur hie und da spähte ein wenig Sonnenlicht von fern zu ihnen herein.

Mira hatte Mühe, Luft zu holen. Ihr Kopf hämmerte, und als sie die Hand hob und an die Stirn presste, griff sie in etwas Warmes, Klebriges. Es war Blut.

„Chas?“ Ihre Stimme kratzte und klang gleichzeitig unerwartet schrill. „Wo … seid ihr okay?“

„Scht.“ Ein immenses Gewicht wurde von ihrem Brustkorb gehoben, als Urs sich auf seine kräftigen Unterarme stützend, sich von ihr herunterrollte. Endlich konnte Mira wieder frei atmen. Sie setzte zu einer erneuten Frage an, doch Urs knurrte: „Seid still. Alle.“

Mira glaubte, Biene leise wimmern und dann verstummen zu hören. Dafür nahm sie nun andere Geräusche wahr. Geräusche, die von draußen kamen.

„Meinst du, es waren Rebellen?“ Das war eine Frau. Eine tiefere Stimme antwortete. Mira hatte Mühe, die Worte zu verstehen. „ … hier draußen herumtreiben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass jemand überlebt hat.“

Mira hielt diese Schlussfolgerung für leichtsinnig, aber wenn sie es sich recht überlegte, lag sie nahe. Hätten sie sich nicht in einem festen Gestell aus Metall befunden, hätte der Berg Schrott sie bei seinem Zusammensturz unweigerlich erschlagen, zerquetscht oder zumindest so schwer verletzt, dass sie hier unten verblutet oder erstickt wären.

Nur mühsam widerstand sie dem Drang, erneut nach Chas zu fragen. Urs schien in Ordnung zu sein, und auch von Biene hatte sie zumindest ein Lebenszeichen vernommen. Aber Chas konnte sie in der Dunkelheit nicht einmal halbwegs verorten. Sie lauschte, ob sie sein Atmen unter dem der anderen heraushören konnte, aber sie war nicht sicher, ob die gepressten Züge von ihm oder von Biene kamen.

Stumm verharrten sie in ihrem finsteren Gefängnis und wagten kaum zu atmen. Etwas bohrte sich schmerzhaft in Miras Rücken, aber sie konnte es nicht riskieren, auch nur ihr Gewicht zu verlagern. Was, wenn das ganze wackelige Gebilde dann erneut in Bewegung kam und verriet, dass darunter noch jemand am Leben war?

 

So lauschten sie nur den Geräuschen, die von draußen hereinkamen. Gedämpfte Stimmen, manchmal Schritte und endlich, nach einer ganzen Ewigkeit, das Knirschen von Reifen.

Sie verharrten noch eine Weile − unsicher, ob es Minuten oder doch nur Sekunden waren −, dann richtete Mira sich langsam auf. Auch Urs neben ihr erwachte aus seiner Starre, und eine Bewegung zu ihrer Linken ließ Mira zusammenfahren. Eine Hand berührte im Halbdunkel ihre Stirn. Das Reißen von Stoff war zu hören, und jemand reichte ihr einen Stofffetzen. „Hier.“

Es war, als strömte die Luft erst jetzt wieder frei in Miras Lungen. Als hätte sie seit Minuten nur flach und unzureichend geatmet, während sie vergeblich auf den Klang dieser Stimme gewartet hatte.

Sie nahm den Fetzen aus Chas’ Hand und presste ihn auf die Wunde an ihrer Stirn. Der Druck linderte das Pochen ein wenig. „Bist du okay?“, krächzte sie schließlich.

Chas antwortete nicht. „Das war verflixt knapp“, sagte er stattdessen.

Niemand pflichtete ihm bei. Sie waren alle noch zu beschäftigt, den Schrecken zu verdauen. Urs war zu Biene gerobbt und redete beruhigend auf sie ein. Mira konnte mehr hören als sehen, wie die beiden sich aneinanderklammerten und einander hielten.

In der Dunkelheit spürte sie, wie Chas seine Finger sachte auf ihre freie Hand legte. Als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Nachdem alle grundlegenden Fragen beantwortet waren − dass niemand ernstlich verletzt war und dass sie gerade noch einmal mit dem Schrecken davongekommen waren −, wurden sich die vier schnell in einem Punkt einig: Sie mussten so bald wie möglich von hier verschwinden.

Vermutlich würden die Wachen von Cem keinen großen Aufwand betreiben, um ihre vermeintlichen Leichen zu bergen. Aber sie konnten doch nicht sicher sein, ob sie nicht schon in Kürze zurückkehren würden.

Urs machte sich daran, ihnen einen Weg nach draußen freizuräumen. Alle Türen klemmten, und so schlug er das Heckfenster ein, um von dort aus mit der Arbeit zu beginnen. Es war kein leichtes Unterfangen. Immer wieder brach der schon geschaffene Tunnel über ihm zusammen und drückte einmal sogar die Decke des Wagens gefährlich ein. Von da an war Urs noch vorsichtiger bei dem, was er tat.

Zwar versuchte Chas anfangs, ihm zur Hand zu gehen, doch wurde schnell klar, dass er keine große Hilfe war. Im Gegenteil: Chas’ unsteter Gesundheitszustand war nicht nur beim Freiräumen eines Weges ans Tageslicht hinderlich.

„Es wäre das Beste, so schnell es geht so viel Distanz wie möglich zwischen uns und Cem zu bringen“, erklärte Urs, während er an einer Stoßstange rüttelte, die seinen weiteren Weg nach oben blockierte. Das Metall über ihnen ächzte dabei bedenklich. „Dein Job ist es jetzt ausschließlich, so schnell wie möglich zu Kräften zu kommen. Damit wir schnell weiterziehen können.“

Chas schnaubte verächtlich.

Mira konnte es ihm nicht verdenken. Er war nicht nur frustriert, Urs beim Bau ihres Fluchtweges nicht helfen zu können. Urs’ Rat war auch leichter gesagt als getan. Sie hatten hier drinnen weder Wasser noch Nahrung, die er gebraucht hätte, um sich von seiner Verletzung und der langen Zeit des Fiebers zu erholen.

„Wohin wollt ihr überhaupt gehen?“, fragte Mira. Sie kauerte im Kofferraum des Wagens und erledigte hin und wieder Handlangeraufgaben für Urs. Dass sie oder Biene zu ihm nach draußen in den instabilen Tunnel kletterten, wollte er partout nicht zulassen.

Urs hatte die Stoßstange mittlerweile aufgegeben und bahnte sich stattdessen einen Weg um sie herum. Er reichte Mira ein weiteres Stück rostiges Metall, das sie auf dem freien Teil der Rückbank ihres Wagens verstaute.

„In die Hauptstadt“, gab Biene an seiner Stelle Auskunft. „Zu den Rebellen.“

Mira wandte sich zu ihr um und gab sich alle Mühe, sie nicht anzustarren. „In der Hauptstadt … gibt es Rebellen?“

„Klar, am Puls des Geschehens. Sie sind viel mehr als die kleinen Grüppchen in den anderen Städten. Aber sie arbeiten alle zusammen. Sie wollen …“ Biene verstummte. Vielleicht war sie sich erst jetzt bewusst geworden, wie bereitwillig sie solch empfindliche Informationen an Mira ausgeplaudert hatte. Ausgerechnet an Mira, deren beste Freundin immerhin die Fischerkinder ans Messer geliefert hatte.

„Wir wollen ein neues System“, ertönte jedoch Urs’ Stimme von draußen. „Einen gerechten Staat. Ohne König.“

„Wir?“, hauchte Mira. Sie sah mit aufgerissenen Augen von Biene zu Chas, der grimmig nickte.

„Du bist die ganze Zeit über zweigleisig gefahren, nicht wahr?“, stellte er mehr fest, als dass er es fragte.

Das Klappern vor dem Heckfenster erstarb, und im Gegenlicht der mittlerweile mehr und mehr durchdringenden Sonne konnten sie sehen, dass Urs sich ihnen zugewandt hatte. „Ich war ein Fischerkind“, sagte er mit Nachdruck. „Und bin es immer noch. Aber noch ehe ich zum ersten Mal einen Fuß nach Klein-Ararat gesetzt hatte, gehörte ich schon zu den Rebellen.“

„Du?“ Ob ihrer gewisperten Einwortsätze kam Mira sich selbst albern vor und fügte hastig hinzu: „Deshalb hast du Rune gekannt.“ Langsam dämmerte ihr so einiges. „Er ist auch einer, oder? Deshalb hattest du etwas gut bei ihm. Und deshalb hast du auch das Medikament für deine Wunde bekommen!“

„Und deshalb sitzen wir nicht mehr im Gefängnis von Cem“, fügte Urs hinzu, ohne ihren vorwurfsvollen Unterton im Geringsten zu kommentieren.

„Gefängnis?“, schaltete sich Chas ein. „Du hast nie etwas von −“

Mira hob abwehrend die Hände. „Du willst jetzt nicht wirklich darüber streiten, dass ich dieses Detail für mich behalten habe, oder? Sieht so aus, als wäre mein Geheimnis hier von allen noch das harmloseste.“

Chas warf ihr einen warnenden Blick zu, und Mira ließ sich gegen die Seitenwand des Wagens sinken. „Ich kann nicht glauben, dass ihr uns das verschwiegen habt. Wir haben euch vertraut, und die ganze Zeit hast du mit Kerlen wie diesem Rune unter einer Decke gesteckt.“

Nun war es an Urs, beschwichtigend die Hände zu heben. „Immer mit der Ruhe.“ Er kletterte ins Innere des Wagens zurück, ehe er fortfuhr. „Ich gebe zu, manche von ihnen sind komische Kerle. Rune insbesondere. Aber sie verfolgen ein gutes Ziel. Wir verfolgen ein gutes Ziel.“

„Auttenberg zu stürzen?“ In Chas’ Stimme schwang nicht die leiseste Spur irgendeiner verräterischen Emotion mit. Keine Aufregung, keine Wut − gar nichts, was ihn hätte verraten können. Wenn überhaupt, dann klang er interessiert.

„Die ganze Monarchie abzuschaffen und den Menschen ihre Freiheit wiederzugeben. In der Hauptstadt haben die Rebellen große Pläne. Kommt mit und hört es euch selbst an! Wir können uns ihnen anschließen und …“

„Und was? Einen Bürgerkrieg anzetteln?“ Mira konnte nichts dagegen tun, dass all die längst vergangenen Vorträge ihres Vaters wieder in ihren Ohren hallten. Über den Frieden, den sie Nicholas Auttenberg verdankten, über das goldene Zeitalter, das anbrechen sollte, wenn erst die Anfangsschwierigkeiten überwunden wären. Natürlich, Auttenbergs Importverbot und der Grenzschluss sorgten für viel Leid. Aber ein Krieg konnte doch unmöglich besser sein! Und wozu sonst als zu einem Krieg sollte es führen, wenn das gesamte politische System ihres Landes gestürzt werden sollte? Sie müssten den König schon mit Gewalt …

Miras Blick huschte zu Chas. Bei all ihren sich überschlagenden Überlegungen wurde ihr erst jetzt wirklich bewusst, dass es sich bei dem, über den sie da sprachen, um seinen Vater handelte.

„Ich glaube nicht, dass das etwas für uns ist“, wehrte sie rasch ab. „Wir wollen eigentlich nur Filip helfen und dann so schnell wie möglich …“

„Warum eigentlich nicht?“, unterbrach Chas sie jedoch unerwartet. „Um ehrlich zu sein: Wir haben keinen besonders guten Plan. Im Hauptquartier der Rebellen wären wir nah am Geschehen und könnten uns unser Vorgehen überlegen.“

Mira zog die Augenbrauen hoch. Sie wollte Chas gerne fragen, ob das sein Ernst war. Ob er sich wirklich einer Gruppe anschließen wollte, die einen Hinterhalt gegen seinen Vater plante. Was erhoffte er sich davon? Wollte er sie aufhalten oder sie − im Gegenteil − gar unterstützen? Was hatte er vor?

Vor Urs und Biene allerdings konnte Mira ihre Zweifel nicht aussprechen. Sie hatten keine Ahnung, dass Chas Nicholas Auttenbergs Sohn war, und so sollte es, zumindest vorerst, auch bleiben.

Also starrte Mira nur in Chas’ goldene Augen und versuchte, aus ihnen schlau zu werden, während sie widerwillig zustimmte: „Schön, dann gehen wir also zu den Rebellen in die Hauptstadt.“

Es dauerte noch einige weitere Stunden, bis Urs seinen Fluchttunnel endlich für vollendet und einsturzsicher erklärte. Die Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, und selbst im Zwielicht ihres unterirdischen Verstecks bemerkte Mira die rötliche Färbung, die das Licht mittlerweile angenommen hatte.

„Wenn wir gut zehn Stunden am Tag laufen, sollten wir keine Woche mehr bis in die Hauptstadt brauchen.“ Urs brach mithilfe eines Metallstücks die scharfkantigen Reste des Heckfensters aus seiner Rahmung. „Also, wer mag zuerst zurück ans Tageslicht klettern?“

Mira warf einen raschen Blick zu Chas, der Urs und die Tunnelöffnung hinter ihm kritisch musterte. „Ich nicht.“ Seine Stimme klang so rau und trocken, wie Miras Kehle sich anfühlte.

„Wir brauchen zuerst Proviant.“ Biene schien einen ähnlichen Gedankengang wie Mira zu verfolgen. „Ohne Wasser kommen wir nicht weit. Und Chas ist geschwächt. Er braucht etwas in den Magen.“

Fast automatisch wanderte Miras Blick zu dem weißen Plastikband an ihrem Handgelenk. „Wenn wir Rationskarten hätten …“

„Die Rebellen werden uns mir allem versorgen, was wir brauchen“, widersprach Urs. „Wir sind daran gewöhnt, einander zu helfen. In der nächsten Ortschaft suchen wir einen ihrer Unterschlupfe.“

„Nein, Urs.“ Biene schüttelte den Kopf. „Hier in Cem. Wasser kann ich bei den Rebellenbotschaftern am Stadtrand holen. So wie gestern Abend. Aber Lebensmittel …“

„Gestern Abend hat es sich um einen Notfall gehandelt“, unterbrach Urs sie.

„Urs …“ Biene biss sich auf die Unterlippe. „Wir brauchen Wasser und Lebensmittel, bevor wir aufbrechen. Chas …“

„Blöd nur, dass keiner von euch Cem mehr betreten kann“, unterbrach sie dieser mit einem Hauch Spott in der Stimme. „Ihr seid aus einem Gefängnis ausgebrochen, wie ich kürzlich erfahren habe. Wahrscheinlich sucht man euch.“

„Also willst du gehen?“, fragte Mira angriffslustig. „Ohne Armband kommst du sicher sehr weit. Wir haben immerhin …“

„Ihr habt beide kein Zeichen.“ Urs hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich sagte, wir helfen einander. Kein Rebell wird einen anderen ohne Wasser und Nahrung auf der Straße stehen lassen. Aber für Außenstehende übernehmen wir keine Verantwortung.“ Zögerlich löste er die Verschränkung seiner Arme und streckte ihnen den linken entgegen.

Mira starrte auf Urs’ Arm und das weiße Band daran. Ihre Augen hatten sich längst an das Zwielicht gewöhnt, aber sie konnte nichts Besonderes erkennen. Das helle Band bildete einen starken Kontrast zu Urs’ sonnengebräunter Haut. Die winzige, ausgefranste Narbe, die Mira schon einmal bemerkt hatte, lag exakt zwischen Handballen und Armband.

Sie sah genauer hin. Für eine ganz normale Narbe war sie ungewöhnlich exakt. Sie bildete einen perfekten kleinen Kreis und wurde von einigen sehr feinen Linien durchkreuzt.

„Es ist unser Zeichen.“ Urs zog sein Handgelenk aus ihrem Blickfeld und verschränkte wieder die Arme. „Zeig es einem anderen Rebellen, und er weiß, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Lass es versehentlich einen Wachmann sehen, und er kann rein gar nichts damit anfangen. Halte es unter einen Scanner, und ein Hilferuf wird an die Rebellen abgesetzt.“

„Also hast du im Gefängnis in Cem gar nicht dein Ausweisband gescannt!“ Mira hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass etwas an ihrer geglückten Flucht faul gewesen war.

Aber Chas hatte noch etwas ganz anderes aus Urs’ Worten herausgehört. „Dann habt ihr also sogar das Sicherheitssystem des Staates unterwandert.“ Es war keineswegs eine Frage. Aber für eine nüchterne Feststellung lag zu viel Faszination in seiner Stimme.

Urs’ Mundwinkel zuckten. „Schon vor Jahren. Nichts, was sie wissen, das wir nicht auch wissen. Und − ohne größenwahnsinnig sein zu wollen − meistens noch ein bisschen mehr.“

 

Fassungslos ließ Mira ihren Blick hinüber zu Biene gleiten, die stumm an der Seite ihres Freundes saß. Wie hatte sie die beiden unterschätzt! Natürlich hatte sie schnell gemerkt, dass sie die Außenstadt von Leonardsburg kannten wie ihre Hemdtaschen. Auch dass Urs dort ausgezeichnete Verbindungen hatte, war kein Geheimnis gewesen. Aber dass er und die zart wirkende Biene neben den Fischerkindern noch einer zweiten illegalen Kleinstgruppe angehört hatten, und das die ganze Zeit schon, konnte sie einfach nicht glauben.

„Tatsache ist jedenfalls, dass nur Urs oder ich Hilfe von den Rebellen in Cem erwarten können“, fasste Biene zusammen.

„Und wir können uns da drinnen genauso wenig noch einmal blicken lassen wie Mira. Das ist ja wohl allen klar.“

„Na ja“, erwiderte Biene jedoch, und im Dunkeln funkelten ihre Augen so geheimnisvoll, dass Mira sich für den Bruchteil einer Sekunde doch vorstellen konnte, dass sie eine waschechte Rebellin war. „Das kommt darauf an.“

„Ganz habe ich die Flecken nie herausbekommen.“ Mira strich über den feinen Stoff ihrer Bluse. An Biene saß sie lockerer, aber das merkte man kaum. „Es sind dieselben Kleider, die ich während des Angriffs auf Klein-Ararat getragen habe.“ Beim Klettern an Felswänden, beim Robben über den staubigen Boden und einmal sogar beim Verstecken in einem modrigen Wasserrohr am Feldrand. Ein Wunder, dass die Bluse überhaupt noch ihren ursprünglichen Weißton hatte!

„Ach was.“ Auch Biene strich über die Bluse und sah an sich herab. „Jeder kann sehen, dass es Innenstädterkleider sind. Niemand aus den Armenvierteln hat Kleidung aus so feinem, hellem Stoff! Keiner wird die Flecken bemerken.“

„Großartig, dass du so optimistisch bist“, knurrte Urs. Er und Chas hatten sich höflich weggedreht, als Biene und Mira die Kleider getauscht hatten, aber jetzt starrte er Biene unverhohlen und ganz und gar nicht begeistert an.

„Dein Messer“, erinnerte ihn Mira. Sie hatten die Sache ein Dutzend Mal diskutiert. Sie wollte sich nicht auf eine erneute Debatte mit Urs einlassen. Biene hatte sich entschieden, und Mira fand ihren Plan gut. Sich zu verkleiden war einfach, aber wirkungsvoll.

Urs zog sein Taschenmesser hervor und reichte es Mira. „Du bist ganz sicher?“

„Klar. Oder hast du etwa schon einmal eine Innenstädterin mit einer derartigen Mähne gesehen?“ Bienes Stimme zitterte leicht, genauso wie Miras Hände, als sie das Messer an einer von Bienes schulterlangen Haarsträhnen ansetzte. Sie schlang sie zu einer Schlaufe um die Klinge, und mit einem kurzen, kräftigen Ruck durchtrennte sie sie.

Keiner von ihnen sprach, während Mira arbeitete. Irgendwann hörten ihre Hände auf zu zittern, und Bienes Atemzüge wurden gleichmäßiger. Vielleicht war es gut, dass sie immer noch im Halbdunkel saßen. Jedenfalls war Mira am Ende recht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit.

„Wie eine echte Innenstädterin“, befand sie und lächelte Biene zu. Deren Blick jedoch huschte schnell weiter zu Urs.

„Gefällt es dir?“, fragte sie zaghaft.

Urs streckte die Hand aus und berührte eine der blonden Strähnen, deren Spitzen nun oberhalb von Bienes Wangenknochen endeten. Wie die jedes anständigen, staatskonformen Bürgers. „Ich fand dein langes Haar schön.“ Er ließ die Strähne los, und Biene nickte. Vermutlich war nun auch sie dankbar für das Halbdunkel. Wortlos wandte sie sich ab.

„Du siehst toll aus“, versicherte Mira, deren Worte Urs’ abweisende Reaktion wohl kaum aufwiegen konnten. „Kaum wiederzuerkennen. Und das ist doch der Sinn der Sache. Dass du sicher bist.“

„Am sichersten wäre es, sie bliebe hier“, brummte Urs, aber niemand ging darauf ein. Es war beschlossene Sache: Biene würde in die Stadt und zu den dort lebenden Rebellen gehen. Wenn alles gut ging, wäre sie noch vor Beginn der Ausgangssperre zurück. Sie würden in ihrem Versteck ihre erste richtige Mahlzeit seit einer gefühlten Ewigkeit einnehmen, sich noch ein paar Stunden Schlaf gönnen und im Morgengrauen aufbrechen. Wenn alles gut ging.