Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms

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Hinter einem einigermaßen standfest aussehenden Berg aus Karosserien und Reifen ließ Mira Chas zu Boden sinken. Sein Hemd war von der Anstrengung schweißgetränkt, das schwarze Haar klebte ihm nass und schmutzstarr an der Stirn, und sein Blick war wieder ins Nichts gerichtet.

„Danke“, flüsterte Mira, halb an ihn, halb an Gott gewandt, und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Moment den Dienst versagen, und sie gab dem Drang nach, sich ebenfalls kurz zu setzen. Sie trocknete mit ihrem Ärmel Chas’ Stirn ab und suchte nach seinem Puls, aber mehr als dessen rasendes Klopfen beunruhigte sie die immer noch unnatürliche Hitze seiner schweißnassen Haut.

„Du musst durchhalten.“ Mira schluckte. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Chas fehlte, und keine Ahnung, welche Medikamente er brauchte. Aber welche Wahl hatte sie? Einfach hierzubleiben war keine Option. Sie konnten nicht länger abwarten und darauf hoffen, dass Chas von selbst wieder zu Kräften kommen würde. Und dann war da ja auch noch Filip, für den mit jedem Tag der Prozess näher rückte. Doch fortsetzen konnten sie ihren Weg nicht. Das würde Chas nicht schaffen. Und zurücklassen konnte Mira ihn auf keinen Fall. Schon gar nicht in diesem Zustand.

Also was hätte sie tun sollen? Sie konnte nicht tatenlos abwarten, während Chas immer schwächer wurde. Ihr Vorhaben war wahnwitzig, einen besonders guten Plan hatte sie nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie genau sie es anstellen wollte. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste es versuchen.

Chas regte sich nicht mehr. Entweder er war vor Erschöpfung eingeschlafen, oder er hatte das Bewusstsein verloren. Aber das war ihr recht. So konnte er wenigstens nicht fragen, wohin sie ging und was sie vorhatte.

Kapitel 2
In der Falle

Das Gesundheitszentrum war eine Festung. Mira hatte den gesamten Morgen und einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, das Gebäude und das rege Treiben außen herum zu beobachten. Da gingen wichtig aussehende Staatsgesundheitsbeamte ein und aus, wurden Kranke gebracht, Spaziergänge in Krankenhauskluft unternommen, Lebensmittel geliefert und Müllsäcke abgeholt.

Mira suchte seit Stunden fieberhaft nach einer Schwachstelle. Blieb die Tür hinter einem der Beamten länger als nötig offen, sodass sie hindurchhuschen konnte, ohne ihr Armband zu scannen? Gelangte jemand durch den Besuchereingang, ohne von der Frau hinter dem Schalter aufgehalten zu werden? Blieb der Lieferanteneingang unbeaufsichtigt offen stehen? Aber nichts davon war der Fall.

Mira überlegte, was die Helden in ihren Lieblingsromanen an ihrer Stelle getan hätten. Sich als Staatsgesundheitsbeamter ausgegeben vielleicht, eine Krankheit vorgetäuscht und sich selbst im Gesundheitszentrum aufnehmen lassen, um nachts aus dem Zimmer zu schleichen. Ein Fenster eingeschlagen, den Feueralarm ausgelöst, einen Tunnel gegraben. Aber all diese Ideen, die in Büchern so gut funktionierten, erschienen Mira für die Realität zu kurzsichtig. Zu viel konnte schiefgehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mira konnte nicht riskieren, erwischt und eingesperrt zu werden.

Als es schließlich dämmerte, saß Mira immer noch auf einem Stein im Hinterhof und sprang jedes Mal in die Büsche hinter sich, wenn sich etwas regte. Doch auch das wurde seltener. Der geschäftige Tagesbetrieb hatte schon vor Stunden ein Ende gefunden. Die Besucher waren gegangen. Dort drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, wurden jetzt vermutlich Kranke versorgt, bekamen Brot und Suppe zum Abendessen, um wieder zu Kräften zu kommen, nahmen Medikamente ein und schliefen in weichen Betten.

An so einen Ort gehörte Chas. Nicht auf einen rostigen, schmutzigen Autofriedhof. Vielleicht war es dumm von Mira, ihn jetzt noch zu decken. Was, wenn er starb? Würde es wirklich so schlimm sein, wenn seine wahre Identität ans Licht käme? Ein Skandal wäre es natürlich − verschwundener Kronprinz wieder aufgetaucht! Aber konnten sie ihn wirklich als Verräter anklagen? Er war immerhin Nicholas Auttenbergs Sohn! Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Gesundheitszentrum bringen. Chas hatte weder Kraft, Fragen zu stellen, noch, sich zu wehren. Und vielleicht rettete es ihm das Leben.

Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr diese Idee. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Kranken richtig versorgte − zumal sie nur eine vage Vermutung hatte, was Chas fehlte und dass das Fieber von einer Infektion seiner Wunde herrühren musste. Es sah auch nicht so aus, als hätte Gott vor, ihre verzweifelten Gebete zu erhören und ihr Zugang zu den Medizinvorräten des Zentrums zu verschaffen. Vielleicht weil er wusste, dass Chas dort draußen keine Chance hatte.

Mira erhob sich und streifte sich Staub und Steinchen von der Kleidung, da ließ das Knirschen von Reifen auf Asphalt sie zusammenschrecken. Abgesehen davon, bog der elektrische Lieferwagen nahezu lautlos in den Hinterhof ab. Miras angespannter Körper reagierte schneller als ihr müde gewordenes Gehirn: Sie sprang zurück in ihren Unterschlupf.

Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.

Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.

Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.

Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.

Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot − es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.

Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.

Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.

„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht tat.

Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit beiden Händen nach den Türen und zog sie mit einem heftigen Ruck zu.

Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.

Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …

Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.

Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?

Wie sollte sie das entscheiden? Ein falscher Schritt, ein unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!

 

„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.

Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.

Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.

„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.

Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.

Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.

Ihre Schritte, sich öffnende und schließende Schranktüren, ihre eigenen Atemzüge − alles hallte unnatürlich und viel zu laut in Miras Ohren. Über ihrem Kopf flackerte eine Neonröhre und ließ ihre Bewegungen bizarre Schatten auf den Betonboden werfen.

Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie sich schon im staatlichen Gesundheitszentrum befand und wie viele Räume sie bereits vergeblich durchkämmt hatte, an jeder Tür mit klopfendem Herzen innehaltend und auf Stimmen auf der anderen Seite lauschend.

Mira stürzte zu einer weiteren Reihe spindähnlicher Schränke und riss mit zittrigen Fingern einige Türen und Schubladen auf. Ordentlich gefaltete Handtücher und Bettlaken stapelten sich auf den Regalbrettern, ein Sammelsurium aus offenbar ausrangiertem, staubigem Geschirr im nächsten Fach.

Warum eigentlich war sie hier unten noch niemandem begegnet? Bei dem geschäftigen Treiben, das sie durch die Fenster in den oberen Stockwerken beobachtet hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte das Gefühl, ihr Glück nicht überstrapazieren zu dürfen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Nicht ehe sie nicht wenigstens irgendetwas gefunden hatte, das Chas helfen konnte.

Mit beunruhigend laut dröhnenden Schritten hastete sie zu einer Tür und riss sie auf. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein weiterer Raum voller Schränke. Als Mira einen davon aufzog, musste sie sich die Faust auf die Lippen pressen, um keinen Triumphschrei auszustoßen. Feinsäuberlich einsortiert lagerten darin Infusionen, Tabletten, Säfte und Tinkturen. Etiketten auf den Regalböden wiesen aus, mit was sie es zu tun hatte. Mira las einige davon und versuchte, irgendwie schlau aus den medizinischen Fachbegriffen zu werden. Irgendetwas, das sie vielleicht einmal in einem Buch gelesen hatte, musste ihr doch weiterhelfen! Was wirkte fiebersenkend, desinfizierend, irgendwie kräftigend? Brauchte Chas ein Antibiotikum, und wenn ja, welches? Oder Schmerztabletten?

Ein Geräusch draußen im Lagerraum ließ Mira zusammenfahren. Sie sah sich hektisch nach einem Versteck um, aber der Raum war leer bis auf die Schränke. Ihr blieb keine Zeit!

Wie zuvor im Lieferwagen raffte sie mit beiden Händen zusammen, was sie irgendwie in ihre Taschen stopfen konnte. Schächtelchen mit Pillen oder Tinkturen, Fläschchen, Dosen, Ampullen − was sie in die Finger bekam. Sie fand sogar ein paar Rollen Verbände und Kompressen, die sie sich aus Mangel an weiterem Stauraum in den Hosenbund klemmte.

Sie schaffte es gerade noch, ihre Bluse über die verräterischen Ausbeulungen zu zerren, ehe die Tür aufgestoßen wurde.

Für einen Moment starrte der Mann im Türrahmen sie einfach nur an, und Mira starrte zurück, als wären sie sich unschlüssig, wer schockierter über den Anblick des jeweils anderen war. Dann riss Mira sich aus der Erstarrung und stürzte blindlings los.

Der Mann war so verdutzt, dass sie es beinahe an ihm vorbeigeschafft hätte. Aber nur beinahe. Im letzten Moment hechtete er zwischen sie und ihren Fluchtweg. Mira geriet ins Straucheln. Die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, reichten aus. Der Mann ergriff ihre Oberarme und hielt sie fest.

„Patienten haben hier unten nichts verloren.“ Er musterte Mira mit zusammengekniffenen Augen. Dann, viel ruhiger und langsamer, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, fragte er: „Auf welche Station gehörst du denn?“

Verunsichert erwiderte Mira seinen Blick. Ihr Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und sie konnte nicht umhin, immer wieder hastig in Richtung Ausgang zu sehen.

Der Griff des Mannes um ihre Arme lockerte sich, in seinem Gesicht lag jetzt unverkennbar Besorgnis. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Hast du dich verlaufen?“ Immer noch sprach er sehr langsam.

Endlich dämmerte es Mira. Der Mann hielt sie für geistig verwirrt, für psychisch krank oder körperlich so erschöpft, dass sie nicht bei klarem Verstand war. Kein Wunder: Sie musste in ihrer Panik über sein plötzliches Auftauchen völlig wahnsinnig ausgesehen haben.

„Ähm …“, machte sie, um endlich auf seine Fragen zu reagieren. Was sollte sie sagen? Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken.

„Ich bringe dich nach oben, ja?“

„Ähm“, machte Mira noch einmal dümmlich und beschloss in Sekundenbruchteilen, dass sie mitspielen musste. Nur so konnte sie noch unbeschadet aus der Sache herauskommen. Vielleicht sogar mit den Medikamenten für Chas.

„Ich hab mich verlaufen.“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Alles in ihr war in Alarmbereitschaft. Dennoch gab sie sich alle Mühe, arglos und verloren auszusehen.

Während er sie am Arm aus dem Lagerraum in ein Treppenhaus führte, betrachtete Mira den Mann aus dem Augenwinkel. Er war dick, mit kräftigen Oberarmen und großen, fleischigen Händen. Den weißen Kittel eines Staatsgesundheitsbeamten trug er nicht.

„Weißt du, wie dein Pfleger heißt?“, fragte er freundlich, während er Mira die Treppe hinaufbugsierte.

„Nein.“ Es hatte keinen Sinn, einen Namen zu erfinden. Diese Tarnung würde allzu schnell auffliegen. Schneller noch als die der ahnungslosen Geistesverwirrten. „Irgendetwas mit M … oder N. Vielleicht war es auch P. Ich weiß nicht mehr.“

„Na, auch nicht so schlimm.“ Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht und betraten ein geräumiges Foyer. Am anderen Ende konnte Mira den unbesetzten Empfang und die verschlossenen Schiebetüren sehen, die auf den Vorplatz hinausführten. Den ganzen Tag über hatte sie die Eingänge von außen betrachtet und überlegt, wie sie hineinkommen sollte. Jetzt hätte sie einiges dafür gegeben, wieder dort draußen zu sein. Mit den Medikamenten natürlich.

Der Dicke schob sie behutsam weiter. „Das werden wir gleich haben“, versicherte er. „He! Ihr da, macht euch hier mal nützlich!“

Miras Herz setzte einen Schlag aus. Auf den Ruf ihres Begleiters hin traten zwei Wachmänner aus einer Nische bei den Türen und eilten zu ihnen.

„Wir brauchen jemanden mit einem Scanner. Die junge Dame hier hat sich verlaufen und findet ihre Station nicht mehr.“

Miras rechte Hand umschloss fast automatisch das Band an ihrem linken Handgelenk. Sie wollte einen Schritt zurückmachen, stieß aber gegen den Bauch des Mannes, der sie heraufgebracht hatte.

Die Wachmänner musterten sie. Einer der beiden hatte so stechend blaue Augen, dass Mira das Gefühl hatte, von seinem Blick regelrecht durchleuchtet zu werden.

„Sind Sie völlig bescheuert?“, blaffte er den Mann hinter Mira an. „Das ist keine Patientin. Sie trägt ja Straßenkleidung. Schmutzige noch dazu.“ Seine Hand schnellte nach vorne und entriss Mira dem fürsorglichen Griff des Dicken. „Was hast du hier drinnen zu suchen, hm?“ Schmerzhaft zerrte er an ihren Armen und drehte die Handflächen nach oben. „Einen Besucherstempel hast du auch nicht. Wie bist du hier hereingekommen? Los, spuck es aus!“

„Aber, aber“, fuhr der Mann hinter Mira dazwischen, ehe diese antworten konnte. „Das ist doch kein Grund, so grob zu werden.“

„Wer hat dich gefragt? Was bist du? Eine Putzkraft? Lagerarbeiter?“ Er schnaubte. „Geh wieder an deine Arbeit und lass mich meine machen. Du bist wohl zu blöd, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Kleine ist hier eingebrochen. Wir nehmen sie mit.“

Nun konnte Mira nicht mehr an sich halten. Sie vergaß sogar ganz, dass sie eben noch harmlos und verwirrt hatte wirken wollen. „Nein!“ Sie entriss ihre Arme dem Griff des Wachmanns und rannte blindlings auf die Türen zu. Der dicke Mann war so verdutzt von dieser plötzlichen Anwandlung, dass auch er sie einfach losließ.

Sie konnte kaum fassen, dass sie die Türen wirklich erreichte. Waren die Wachmänner so langsam oder sie in ihrer Panik so schnell? Sie hatte keine Zeit, sich umzusehen. Mit beiden Händen packte sie die Türgriffe und schob. Hinter ihr lachte einer der Wachmänner. Ihre Tatenlosigkeit machte schlagartig Sinn. Die Türen waren verschlossen.

„Nein!“, brüllte Mira erneut. Sie holte mit dem Fuß aus, um das Glas notfalls zu Bruch zu bringen. Sie musste zu Chas, musste einfach. Er brauchte Hilfe, brauchte sie! Seine im Fieberwahn gesprochenen Worte hallten ihr noch in den Ohren. Was, wenn ihr etwas zustieße? Was würde dann aus ihm werden?

Ehe ihr Fuß das Glas traf, hatten die beiden Wachmänner sie nun doch erreicht. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und stopften ihr aus Mangel an Alternativen ein Knäuel Taschentücher in den Mund.

„Wir bringen sie in die Staatsjustiz. Die sollen sie einsperren, bis sie sich beruhigt hat.“

„Was, wenn noch mehr von ihnen eingedrungen sind?“, fragte der andere Wachmann.

„Ich gebe Durchsuchungsbefehl. Haltet alle Ausgänge verschlossen“, wies er den dicken Mann an, der immer noch regungslos an den Türen zum Treppenhaus stand.

„Aber …“, stammelte er. „Meine Güte, ich verstehe nicht, warum man in ein staatliches Gesundheitszentrum einbrechen sollte. Sie ist nicht einmal eine Illegale.“ Er nickte zu Miras gefesselten Händen. „Sie hat ein Armband.“

„Das ist nicht deine Sorge. Das sollen die Justizleute herausfinden“, erwiderte einer der Wachmänner, ohne Mira aus den Augen zu lassen. „Aus dem Mädchen bringst du heute kein Geständnis mehr heraus. Die ist ja völlig außer sich.“ Er betätigte einen Schalter rechts der Türen, und mit einem leisen Surren schoben sie sich auf. So einfach. Mira hätte sich ohrfeigen können.

Den ganzen Weg über den Vorplatz und schließlich die Straße hinab wand sie sich in ihren Fesseln und trat nach den beiden Wachmännern. Sie versuchte trotz des Knebels zu schreien und jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie machte es den beiden so schwer, sie mit sich zu zerren, dass einer von ihnen sie kurzerhand wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter hievte und sie trug. Ein Teil ihrer kostbaren Schmuggelware rutschte aus seinem Versteck und fiel zu Boden. Mira rechnete damit, dass die Wachmänner sie nun durchsuchen und ihr all ihr Diebesgut abnehmen würden, doch sie hatten es noch nicht einmal bemerkt. Hoffentlich war das verlorene Medikament nicht ausgerechnet dasjenige, das Chas brauchte.

Abermals bäumte Mira sich gegen ihre Fesseln auf. Nicht einmal die verbleibenden Packungen in ihren Taschen würden Chas helfen, wenn sie nicht freikäme, um sie ihm zu bringen.

Also kämpfte Mira weiter. Die Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, und durch die Taschentücher in ihrem Mund bekam sie kaum noch Luft, doch sie ließ nicht locker. Sie musste zurück zu Chas. Ob mit oder ohne Medikamente, alleine hatte er keine Chance. Sie hatte ihn gut versteckt. Zu gut. Auf dem Autofriedhof würde niemand ihn finden. Niemand könnte ihm helfen.

Dass sie das Staatsjustizgebäude erreicht hatten, bemerkte Mira erst, als der Wachmann, der sie getragen hatte, sie unsanft direkt vor dessen Eingangstür absetzte. „Und jetzt ist Schluss mit dem Theater“, knurrte er und zog sie mit sich hinein. Dann vermeldete er: „Einbruch im Staatsgesundheitszentrum.“

 

Es musste kurz nach Ausgangssperre sein. Nur eine einzige Wachfrau saß im Justizgebäude und sortierte Unterlagen.

„Sperrt sie zu den anderen“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf Mira gelangweilt. „Wir kümmern uns morgen darum.“

„Sie hat ein Armband.“

„Das hat sie morgen auch noch. Wir kümmern uns darum.“

„Sollten wir nicht ihre Identität …“

„Bei der Verfassung!“ Die Wachfrau knallte die Unterlagen auf die Tischplatte. „Nun sperrt sie schon ein. Und nehmt ihr den Knebel ab, ehe sie daran erstickt. Sie ist schon ganz rot.“

Die Wachmänner erwiderten nichts. Eine Tür wurde aufgeschlossen und Mira hindurchgeschubst. Ohne dass jemand ihre Fessel durchschnitt oder die Taschentücher aus ihrem Mund entfernte, knallte die Tür hinter ihr ins Schloss.

Mira wollte sich gerade dagegenwerfen, als im Dunkel hinter ihr Gemurmel laut wurde.

„… noch jemanden gebracht.“

„Ein Mädchen.“

„Sie ist geknebelt.“

Ein Paar weicher Hände nahm ihr den Knebel aus dem Mund und versuchte, sie festzuhalten. Aber Mira stieß sie von sich.

„Chas!“, keuchte sie erstickt, schnappte nach Luft und verschluckte sich. „Chas … ich muss … er stirbt!“, brachte sie zwischen Husten hervor. Sie wand sich aus einem zweiten Paar Hände − größer und rauer als das erste − und warf sich gegen die Tür. „Lasst mich raus!“ Sie versuchte einzuatmen, aber das Husten machte es ihr unmöglich. Stoßweise sog sie zwischen den unkontrollierten Kontraktionen ihres Brustkorbes den Sauerstoff in ihre Lungen, bekam aber trotz aller Mühe nicht genug. Wieder und wieder warf sie ihren ganzen Körper gegen die Tür, doch dann gaben ihre Beine nach, versagten ihr einfach den Dienst, und sie sackte schwer und immer noch nach Luft schnappend auf den Boden.

„Ist okay.“ Die weichen Hände waren wieder da. Sie strichen über ihr Haar. Mira ließ es zu. Alle Kraft hatte sie verlassen.

Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich erwischen zu lassen? Wie hatte sie so unvorsichtig sein können, während Chas in seinem Versteck gegen den Fieberwahn ankämpfte? Ob er in seinen Albträumen wieder das brennende Klein-Ararat besuchte? Der Gedanke brach Mira das Herz.

„Mira“, sagte eine Stimme über ihr leise. „Was ist mit Chas?“

Immer noch um Luft ringend, rappelte Mira sich auf und starrte durch die fast undurchdringliche Dunkelheit in das Gesicht eines Jungen, der sich besorgt über sie lehnte.

„Urs“, brachte sie hervor. „Biene!“

Die weichen Hände zogen sie in eine Umarmung, die nach trockenem Gras, Erde und Moos roch. Nicht nach dem finsteren Gefängnis, in dem sie sich befanden, sondern nach jemandem, der genau wie Chas und Mira die Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte.

„Meine Güte, Mira, du bist es wirklich!“, sprudelte es aus Biene heraus, während sie Mira immer noch festhielt. „Es ist so gut, dich zu sehen … ich meine, nicht hier! Das ist gar nicht gut. Aber … du weißt schon.“

Beinahe musste Mira trotz der schrecklichen Umstände lachen. Urs und Biene waren hier – jetzt musste einfach alles gut werden! „Was macht ihr denn hier?“, platzte sie heraus. „Wo sind die anderen Fischerkinder? Und warum habt ihr Leonardsburg verlassen? Ist es sicher für euch hier?“

„Offensichtlich nicht.“ Ein Glucksen mischte sich in Urs’ Stimme. „Immerhin haben wir es genau wie du geschafft, eingefangen zu werden, ehe wir auch nur weiter als ein paar Kilometer gekommen sind.“

Mira bemerkte, dass er nur einen Bruchteil ihrer Frage beantwortet hatte, aber für den Moment gab es Wichtigeres. „Chas.“ Die Tränen brannten in ihrer Kehle. „Ich muss zurück zu ihm.“

„Was ist passiert?“ Bienes zarte Hand rieb ihre Schulter, doch ihre Stimme bebte.

„Er ist …“ Mira drohte an den Worten zu ersticken. „Die Wunde hat sich entzündet. Er ist wie im Wahn, er … Urs, ich glaube, er stirbt!“ Ein raues Schluchzen bahnte sich den Weg über ihre Lippen, und hätten nicht nach wie vor zwei Paar so unterschiedlicher Hände sie gehalten, wäre Mira gänzlich zusammengebrochen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung und Angst.

Urs schwieg lange, ehe er antwortete. Mira dachte bereits, seine Worte über ihr eigenes Schluchzen hinweg nicht gehört zu haben. „Dann jetzt oder nie“, sagte er jedoch schließlich. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„W… was meinst du?“

„Komm.“ Biene zog Mira von der Tür weg, bis sie die jenseitige Wand im Rücken spürte. „Bleib einfach da sitzen.“

„Aber … ich muss zu Chas.“

„Schsch“, machte Biene. „Wir haben längst einen Plan. Dass wir zu dritt sind, macht es vielleicht ein wenig schwieriger, aber …“

„Still.“ Urs richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein bärenhafter Umriss verdeckte fast gänzlich das Licht, das durch die Ritzen der Tür fiel. „Hilfe“, polterte er dann, und alles schien bei diesem Ausruf zu vibrieren. Selbst Mira, die im Grunde wusste, dass sein Hilferuf nur Schauspiel sein konnte, schnürte die Panik in Urs’ Stimme die Kehle zu.

„Wir brauchen Hilfe! Sie ist ohnmächtig geworden!“

Auch die desinteressierte Wachfrau musste ihm jedes Wort abnehmen, denn es dauerte nur Sekunden, bis die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Im augenblicklich hereinflutenden Licht sah Mira, dass Biene am jenseitigen Ende des kleinen Zimmers zusammengesackt war und bäuchlings auf dem Fußboden lag. Urs kauerte mittlerweile neben ihr.

„Hilfe“, wimmerte er, und Mira lief ein eisiger Schauer über den Rücken, obgleich sie wusste, dass sein Leid nur gespielt war.

Die Wachfrau schloss die Tür hinter sich, aber sie näherte sich Biene tatsächlich und ging neben ihr in die Hocke. „Aus dem Weg“, herrschte sie Urs an, unternahm aber nichts, um diesen Befehl auch durchzusetzen. Urs blieb wie angewurzelt an Bienes Seite. Mira konnte sich nicht vorstellen, dass er sich auch nur im Geringsten anders verhalten würde, wenn all das hier echt gewesen wäre.

„Sie ist einfach ohnmächtig geworden. Bitte! Bitte tun sie etwas!“ Er umklammerte das Handgelenk der Wachfrau, ließ sich jedoch allzu leicht abschütteln.

Mira sah zu, wie die Wachfrau sich über Biene beugte und ihren Puls suchte. Urs hätte die zierliche Frau leicht überwältigen können. Aber stattdessen sah Mira im Zwielicht, wie er seine Hand langsam und unauffällig in Richtung des kleinen, tragbaren Scanners schob, der am Gürtel der Wachfrau baumelte. Sie dachte, er wolle ihn an sich nehmen, doch er streckte nur den Arm aus. Das blaue Licht des Scanners fiel auf seine sonnengebräunte Haut, eine kleine zackige Narbe am Handgelenk und schließlich für den Bruchteil einer Sekunde auf das weiße Armband. Kaum hörbar ertönte ein Klicken.

„Sie atmet“, stellte die Wachfrau fest, die nichts von alledem bemerkt hatte. Sie schien es nicht erwarten zu können, von Biene wegzukommen. Hastig richtete sie sich auf. „Ich bringe euch Wasser. Sie kommt schon wieder zu sich.“

Urs beugte sich wortlos über Biene, Haltung und Miene immer noch die eines Menschen, der Todesängste aussteht.

Die Wachfrau brachte ihm Wasser, verschwand dann aber hastig und ließ Urs, Mira und die immer noch regungslos auf dem Fußboden liegende Biene allein zurück.