Von Flammen & Verrat

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

KAPITEL 8

Bis an die Zähne bewaffnet, trat ein Krieger nach dem anderen durch das Portal in Crinaee. Wir hatten uns vorab darauf geeinigt, dass es unklug war, direkt vor den Toren von Thalos zu erscheinen, auch wenn Narcos für diesen Tag seine Schutzzauber gelockert hatte. Keiner von uns wusste, was Narcos für unsere Ankunft geplant hatte, daher konnte es nicht schaden, extra vorsichtig zu sein. Am Ende waren wir zu vierzehnt.

Dreizehn Männer und ich. Dieser Umstand erinnerte mich erneut daran, dass sich in Arcadia einiges ändern musste. Auch in Bezug auf die königliche Garde. Es wurde definitiv Zeit, für ein wenig Frauenpower in der eingeschworenen Männerriege.

Ich hätte nichts dagegen, auf zukünftigen Missionen nicht nur von Kriegern, sondern auch von Kriegerinnen begleitet zu werden. Die Harpyien zum Beispiel wären eine enorme Bereicherung. Solange sich Odile und Aello jedoch noch in Alterra verschanzten und mich freundschaftlich beobachteten, war davon auszugehen, dass sie nicht sonderlich begeistert darüber wären, unsere Krieger und Kriegerinnen bunt durchzumischen. Noch nicht. Mit Sicherheit gab es auch in Alliandoan viele weibliche Engel, die eine Karriere bei der königlichen Garde in Betracht ziehen würden … Ich speicherte diesen Gedankengang für später und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Und auf die Krieger neben mir, um mich herum und hinter mir.

Dreizehn an der Zahl.

Vier Assassinen, Nick, Malik sowie sieben unserer besten Wachen aus Arcadia. Unter ihnen Avil und ein anderer Krieger, den ich in der letzten Zeit häufiger gesehen hatte. Milkail, erinnerte ich mich. Malik hatte ihn mir als einen seiner Stellvertreter vorgestellt. Er meinte es also wirklich ernst. Das würde mir meine Mission erschweren, aber darüber würde ich nachdenken, wenn es soweit war. Dank meines kleinen Ausrasters in Arcadia mieden die Minister mich, wo sie nur konnten. Wahrscheinlich plante Minister Laurenti just in diesem Moment einen Putsch. Ein Gutes hatte es jedoch, ich war frei. Minister-frei sozusagen, und das hieß auch, dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Naja, fast.

Aber immerhin hatte ich mir mein Outfit für diese Mission selbst ausgesucht. Pragmatisch in Jeans, Shirt und Lederjacke gekleidet, hatte ich mir nicht nur meine Waffenholster umgebunden und die Wurfmesser eingesteckt, ich hatte zur Sicherheit auch noch eins der Katana aus dem Trainingszentrum mitgenommen. Und sogar meine Magie hatte ich beim Verlassen des Portals gespürt. Ein leichtes Pulsieren ging durch meine Adern und tatsächlich: Das Miststück reagierte endlich mal auf etwas anderes als Lucan Vale. Offensichtlich mochte sie Crinaee nicht sonderlich. Oder meinen Plan, mutmaßte ich, als ich meine neue Umgebung aufmerksam musterte. Sumpflandschaften, wohin das Auge blickte. Dichter Urwald mit hohen Bäumen und Palmen, kleine pfützenartige Seen und eine extrem hohe Luftfeuchtigkeit. Augenblicklich bildete sich ein leichter Schweißfilm auf meiner Stirn.

»Fast so schlimm wie Abbadon«, fluchte King neben mir leise.

»Aber wenigstens frei von Dämonen.« Nick zog eins der beiden Schwerter auf seinem Rücken und blickte in die Runde.

»Bleibt wachsam. Ich glaube nicht, dass Narcos uns nur aus Neugier eingeladen hat.«

Die Männer nickten grimmig. Wie würden sie wohl reagieren, wenn sie den wirklichen Grund dieses Besuchs erfuhren?

Die Hand an meinen Waffen, folgte ich den anderen dichter hinein in den Dschungel. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass es mir schwerfiel zu atmen. Links und rechts raschelte es im grünen Dickicht und ich spürte die Anspannung der Krieger um mich herum deutlich. Nervös sah ich mich um. Aber wir waren allein. Noch. Ein paar Minuten kämpften wir uns durch den dichten Dschungel, ehe wir an eine große Lichtung kamen.

»Dort drüben«, sagte Nick und wies auf ein paar heruntergekommene Ruinen vor uns, »liegt Thalos.«

Das sollte die verwunschene Hauptstadt Crinaees sein?

»Lass dich nicht vom Äußeren täuschen, Prinzessin«, flüsterte Lucan neben mir, »die Ruinen an der Oberfläche dienen nur der Tarnung. Thalos liegt unterhalb, im Verborgenen.«

Verborgen unter der Erde? Narcos schien noch paranoider zu sein, als ich angenommen hatte.

Malik hob eine Hand und brachte uns so zum Schweigen. Lucan trat vor und schob mich elegant ein Stück hinter sich. Augenrollend trat ich um den Assassinen herum und stellte mich neben ihn. Malik löste sich aus unserer kleinen Gruppe und machte ein paar Schritte in Richtung der Ruinen. Ein zischendes Geräusch ertönte und aus dem Nichts sauste ein Pfeil auf meinen General zu und bohrte sich wenige Zentimeter vor ihm in den Boden.

»Gebt Euch zu erkennen«, hörte ich eine tiefe Stimme vor uns rufen. Sehen konnte ich jedoch niemanden. Malik wollte antworten, aber ich kam ihm zuvor. Unter den missbilligenden Blicken der Krieger trat ich ebenfalls vor.

»Mein Name ist Lillianna Callahan, Prinzessin Alliandoans. Ich bin auf Einladung Eures Königs hier.«

Einen Moment lang war es absolut still auf der Lichtung. Dann jedoch verwandelten sich die Blätter und Bäume um die Ruine herum in Männer. Krieger, um genau zu sein.

Mindestens zwanzig, in dunkles Leder gekleidete Wachen traten aus dem grünen Dickicht, das sie – höchst wahrscheinlich mit Hilfe ihrer Magie oder eines Zaubers – als Tarnung verwendet hatten, und erschienen auf der Lichtung vor uns. Einer von ihnen, ein großer, grimmig aussehender Unsterblicher mit blauschwarzen langen Haaren, trat vor und musterte unsere Gruppe aufmerksam.

»Keine Waffen.«

»Keine Waffen, kein Treffen«, antwortete Malik und trat unbeeindruckt um den Pfeil herum. Die Männer vor uns hoben Pfeil und Bogen und alle Pfeilspitzen richteten sich geradewegs auf meinen General. Duncan hüpfte nervös von einem Bein auf das andere und wahrscheinlich wäre er vorgeprescht, hätte Lucan nicht gebieterisch eine Hand gehoben.

»Das würde ich nicht tun an eurer Stelle.«

Lucans Stimme war ruhig. Kaum wahrnehmbare Schatten umgaben den Assassinen und seine Gestalt flackerte bedrohlich, bereit einzugreifen, wenn nötig. Wie immer konnte solch eine Situation den Assassinen-König nicht aus der Ruhe bringen. Er war bereit, aber alles andere als nervös. Der Blick der Wachen wanderte vorbei an Malik, zu mir und letztendlich zu Lucan. Ein paar der Krieger schienen zu verstehen, wer dort vor ihnen stand, denn ihre gespannten Bögen senkten sich leicht.

Obwohl sie in der Überzahl waren, zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass wir sie fertig machen könnten. Ich hatte die Assassinen bereits in Aktion erlebt und niemand, absolut niemand kämpfte so wie Lucan und seine Männer. Wahrscheinlich würden King, Duncan, Alex und er die Männer vor uns auslöschen, ehe Malik oder einer meiner Wachen auch nur reagieren konnten. Offensichtlich waren Narcos Männer zu dem gleichen Schluss gekommen, denn einer nach dem anderen senkten sie ihre Waffen.

Ihr Anführer verstaute seinen Bogen, drehte sich um und dort, wo ich bis eben nur Blätter und Büsche erkannt hatte, offenbarte sich ein Durchgang. »Folgt uns.«

»Keine Spontanaktionen«, sagte Malik und drehte sich zu mir um.

»Du bleibst im Hintergrund, Lilly und keine Spontanaktionen

Heilige Balance. Malik hatte sich noch immer nicht von Vesteria erholt, was würde passieren, wenn er erfuhr, warum ich wirklich hier war? Ich nickte nicht weniger grimmig und eingekesselt durch Lucan und Nick, folgte ich Malik und seinen Männern durch ein paar enge, überwucherte Gänge hinein in den Palast. Duncan, King und Alex bildeten das Schlusslicht.

Von außen unscheinbar, war Narcos Palast im Inneren umso beeindruckender. Kleine Flüsse flossen durch die großzügigen Korridore des Palastes. Risse zogen sich durch den blau schimmernden Boden, Gemälde hingen schief und ganze Tapetenfetzen fehlten an den überwucherten Wänden. Die Decken waren bedeckt von Schlingpflanzen und mehrere Kronleuchter baumelten mal stabil, mal weniger stabil von der Decke des großen, luftigen Thronsaales, den wir soeben betraten.

Obwohl alles heruntergekommen und vernachlässig wirkte, war der Prunk noch immer zu erkennen. Der Palast musste einst prachtvoll gewesen sein. Bevor Narcos ihn unter die Erde befördert hatte.

Narcos selbst ausfindig zu machen, war nicht schwer. Der falsche König saß auf einem beinahe durchsichtigen, sich bewegenden Thron inmitten des Raumes. Ich schaute genauer hin und tatsächlich, es war Wasser. Er saß auf einem Thron aus Wasser. Seine langen, bläulichen Haare flogen um sein hageres Gesicht und er schenkte mir ein haifischartiges Lächeln, wobei er eine Reihe spitzer, kleiner Zähne enthüllte. Offensichtlich wehte hier unten eine Brise, die nur Narcos zu erreichen schien, denn weder wir noch die Wachen hinter Narcos, wurden von dem Windhauch erfasst. Es war eine dramatische Geste, eine Showeinlage, mehr aber auch nicht. Die fast weißen Augen des falschen Königs waren fest auf mich gerichtet. Aus der Entfernung hatte seine weiße Haut wachsartig und leblos ausgesehen, jetzt aber, da wir nähertraten, erkannte ich einen hübschen, blauen Schimmer. Beinahe so, wie die Schuppen eines bunten Fisches. Von allen Unsterblichen, die ich bis jetzt gesehen und kennengelernt hatte, waren die Engel, rein optisch betrachtet, die äußerlich unscheinbarsten. Mit Sicherheit war das einst anders gewesen, damals, als sie – als wir – ein Paar beeindruckender Flügel vorzuweisen gehabt hatten. Da dies jedoch nicht mehr der Fall war, sahen die meisten Engel zwar interessant, aber weitestgehend normal aus. Eine fiese Täuschung. Narcos hingegen glich einem Wesen aus einem Märchenbuch. Oder einem Horrorfilm.

 

Ich sammelte mich einen Moment und trat vor.

»Narcos!«, begrüßte ich den halbnackten Mann vor mir übertrieben fröhlich. Immerhin hatte ich eine Mission.

»Eure Hoheit«, erwiderte dieser meine Begrüßung, trotz des irren Glitzerns seiner Augen, förmlich. »Was führt Euch in mein bescheidenes Reich?«

»Sag du es mir«, konterte ich und inspizierte die Fingernägel meiner rechten Hand. Ob ich meine Nägel das nächste Mal rot lackieren sollte? Narcos lehnte sich in seinem Thron nach vorn und musterte mich aus gierigen, jetzt milchig gelben Augen. Ich hatte mich vorab dafür entschieden, auf jegliche Formalität zu verzichten. Erstens, weil Narcos keinerlei Respekt von mir verdient hatte, und zweitens, weil ich ihm direkt klar machen wollte, wer hier vor ihm stand. Ich würde mich nicht von ihm einschüchtern lassen, ganz gewiss nicht.

»Ich hörte von Vesteria, einem Magister Namens Scio und Eurer neuen Freundin Odile, Königin der Harpyien.«

Fragend hob ich eine Augenbraue. »Schreibst du ein Buch?«

Die Männer hinter mir schwiegen, aber ich spürte ihre irritierten Blicke in meinem Rücken deutlich.

Was wird das, Prinzessin? Geduld, Lucan.

»Humor, welch … erfrischende Eigenschaft, Eure Hoheit.«

»Sag mir, Narcos«, drehte ich den Spieß um, »wie geht es Cassiopeia und Lavender?«

Die Augen des falschen Königs weiteten sich, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.

»Jetzt seid Ihr es, Hoheit, die eine Geschichte erzählt.«

»Vielleicht«, gab ich zu, »vielleicht aber auch nicht.«

Dann wandte ich mich ab und begegnete den neugierigen und vor allem verständnislosen Blicken meiner Männer. Ich zwinkerte ihnen kurz zu und zog Nick schwungvoll neben mich.

»Mein Bruder«, stellte ich Nick vor, »Nickolas Marcus Callahan, Prinz von Alliandoan.«

Danach stellte ich meine Begleiter einen nach dem anderen vor. Auch die Männer meiner Königsgarde, die mich überrascht ansahen. Aber Narcos sollte sehen, mit wem ich hier unterwegs war. Ich allein war mittlerweile nicht mehr zu unterschätzen, aber ich war in Begleitung von einem Dutzend tödlicher Männer. Vier davon waren die tödlichsten Krieger der Anderswelt und ich war die Gefährtin ihres Anführers.

Welches Spiel spielst du, Liebes?

»Es ist mir eine Ehre, Euch in Crinaee begrüßen zu dürfen.«

»Ah, wie charmant«, bemerkte ich beiläufig. »Charmant, charmant«, ich seufzte, »aber unnötig.«

Narcos Augen fixierten mich reptilienhaft und die Wachen neben und hinter ihm versteiften sich. »Unnötig inwiefern?«

»Deine Schmeicheleien sind nett, Narcos, aber wie, frage ich mich, soll ich einem Mann glauben, der sein Königreich durch Mord gewonnen hat?«

Ein Raunen ging durch den Thronsaal und ich ließ meine Worte kurz wirken. Ich spielte in der Tat ein gefährliches Spiel, aber ich hatte mich sorgfältig auf diesen Besuch vorbereitet.

»Aber«, fügte ich hinzu, bevor Narcos etwas erwidern konnte, »ich bin bereit, mich umstimmen zu lassen. Ich werde dir eine Chance geben, mich von deiner Treue zu überzeugen, Narcos Lagrima, Herrscher von Crinaee.«

Offensichtlich überrascht von meinen ehrlichen Worten, musterte Narcos mich.

Was genau sah er, fragte ich mich. Eine junge, hübsche Frau mit ungewöhnlichen Haaren und stechenden Augen, die Prinzessin spielte? Oder eine Königin, bereit, alles dafür zu tun, um die Anderswelt zu verändern? Mein Kinn hob sich wie von selbst ein paar Zentimeter an und Narcos schenkte mir ein grausam schönes Lächeln, das mich spontan an einen Piranha erinnerte. Einen wirklich großen und wirklich gefährlichen Piranha.

»Meine Königin.« Er verneigte sich leicht und seine Wachen taten es ihm gleich.

»Ihr müsst müde sein. Curio wird Euch in meinen Salon führen, dort könnt Ihr und Eure Männer einen Moment ausruhen, während wir ein für Euch angemessenes … Mahl vorbereiten.«

Gespielt dankbar nickte ich ihm zu. Müde wovon? Einer Portalreise und einem zwanzigminütigen Marsch durch den Dschungel? Als ich zuletzt nachgeguckt hatte, waren wir alle noch unsterblich gewesen. Zumindest die Männer um mich herum.

Einer der Wachen, es war der, der auf Malik geschossen hatte, trat vor und bedeutete uns, ihm zu folgen. Nick griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. Aber ich hatte keine Zeit mich zu erklären, also schenkte ich meinem Bruder ein aufmunterndes Lächeln. Sie alle konnten mir die Hölle heiß machen, wenn wir wieder zurück waren. Mein Instinkt jedoch sagte mir, dass wir nicht lange hier blieben würden, denn mit Sicherheit war es kein Mittagsessen, das Narcos für uns zubereiten ließ. Also folgten wir Curio stumm, bis wir einen völlig übertriebenen, prunkvollen Salon betraten und sich die Tür mit einem leisen Klicken hinter uns schloss. Aufmerksam sah ich mich in dem hauptsächlich in blau gehaltenen Raum um. Shabby chic traf es wohl am ehesten. Keine Fenster. Ich sah mich weiter um. Nur eine Tür. Dies war kein Salon, sondern die perfekte Falle.

»Keine Fenster«, bemerkte Duncan hinter mir.

»Wir werden nicht lange hier sein«, beruhigte ich ihn und drehte mich zu den Männern um. Sie alle beobachteten mich neugierig.

»Was in Abbadons Namen geht hier vor, Lilly?« Nick fuhr sich durch die kurzen blonden Haare.

Ich brauchte nur einen Moment. Einen passenden, ungestörten Moment. Unter den aufmerksamen Blicken der Männer ging ich zur Tür und riss sie auf. Zumindest war sie nicht verschlossen.

»Wachen!«, rief ich und prompt erschien Curio in meinem Sichtfeld. Wenig begeistert musterte er mich.

»Eure Hoheit?«

»Ich möchte mich gern frisch machen«, verkündete ich hoheitsvoll, »schickt mir eine Dienstmagd, um mir dabei zu helfen.«

»Sehr wohl, Hoheit. Einen Augenblick, bitte.« Curio eilte davon und ich schloss die Tür.

»Hat hier noch jemand das Gefühl, im falschen Film zu sein?« Duncan fixierte mich. »Was hast du vor?«

»Mich frisch machen.«

»Erzähl uns keinen Scheiß, Mädchen.«

»Lilly …«

Lucan, vertrau mir. Bitte.

Er wandte sich grummelnd ab.

Wenn dir etwas passiert, bringe ich dich um.

Ich belohnte ihn mit einem raschen Lächeln.

»Vertraut mir einfach, okay? Ich weiß, es ist viel verlangt, aber spielt mit.« Ich fixierte Malik beinahe flehend. »Bitte.«

»Was bleibt uns auch anderes übrig?« Nick zuckte ungewohnt lässig mit den Schultern, aber ich sah die Sorge in den Augen meines Bruders. »Langsam gewöhnen wir uns an deine Eskapaden.«

»Ich nicht«, fügte Malik hinzu und erwiderte meinen Blick gereizt. Die Wachen hinter ihm warfen ihrem General einen mitfühlenden Blick zu. Augenrollend wandte ich mich ab. Als ob ich so schlimm war …

Es klopfte an der Tür und ein junges Mädchen trat ein. Den strahlend blauen Haaren nach zu urteilen eine gebürtige Najade.

Zumindest behauptete das die Enzyklopädie der Wasserwesen, in der ich zuletzt gelesen hatte. Schüchtern, wenn nicht sogar ängstlich, musterte sie unsere bis an die Zähne bewaffnete Gruppe. Ihr Blick wanderte über die furchteinflößenden Krieger, die wie eine stoische Wand aus Waffen und Muskeln hinter mir Stellung bezogen hatten, ehe er an mir hängen blieb.

»Eure Hoheit«, verneigte sie sich artig, »Ihr habt nach mir verlangt.«

»Bring mich in ein Gemach, in dem ich mich frisch machen kann.«

»Natürlich, Hoheit.«

Malik wollte sich bewegen, aber ich schüttelte energisch den Kopf.

»Ich gehe alleine.«

»Einen Scheiß wirst du!«

»Kommt nicht in Frage!«

»Ich gehe alleine«, wiederholte ich betont ruhig und warf Lucan einen eindeutigen Blick zu.

Wiederwillig nickte er.

»Geh nicht zu weit, Prinzessin, und wenn etwas ist, weißt du, wie du mich erreichst.«

Nick und Malik wirbelten gleichzeitig zu Lucan herum. Ungläubig starrten sie ihn an.

»Du lässt sie alleine gehen?«

»Sie kann auf sich aufpassen«, antwortete Lucan und setzte sich breitbeinig auf einen der winzigen Stühle. Eines seiner Katana lag dabei bedrohlich auf seinen Oberschenkeln, während das andere in der Halterung auf seinem Rücken ruhte. Alles in allem sah der Assassine, ganz in schwarz gekleidet und voller Waffen, angsteinflößend und tödlich aus.

»Lasst sie gehen.«

Danke.

Sei vorsichtig. Immer.


KAPITEL 9

Ich schlüpfte aus dem Raum und folgte der anderen Frau in den Korridor hinaus. Sie führte mich ein paar Türen weiter in einen ebenso renovierungsbedürftigen Raum, wie den, in dem die anderen auf mich warteten. Wahrscheinlich ein Gästezimmer, dachte ich, und inspizierte meine neue Umgebung beiläufig. Dann drehte ich mich zu der Dienstmagd um. Jetzt wurde es interessant. Scio hatte mir Hilfe versprochen, allerdings war er in seiner Ausführung äußerst vage geblieben. Da ich jedoch nicht hier rumlaufen und aktiv nach Hilfe suchen konnte – was sollte ich auch sagen? Hallo, hat einer von euch Lust euren König zu verraten? – musste ich es so probieren.

»Wie lautet dein Name?«

»Maeve, Hoheit.«

»Maeve«, wiederholte ich ihren Namen. Hübsch. »Bist du loyal gegenüber Narcos?«, kam ich direkt zum Punkt.

»Wa-as?« Schockiert sah sie mich an. Die hellgrauen Augen dabei ein starker Kontrast zu ihren blauen Haaren. »Ich verstehe nicht, Hoheit …«

Während die Najade sichtlich um Fassung rang, erinnerte ich mich an Scios Worte, die Olli mir mit auf den Weg gegeben hatte. Da die Gelehrten einen Hang dazu hatten, sich äußerst dramatisch auszudrücken, hatte ich mir nur die wichtigsten Details abgespeichert: Najade. Palast. Kreisförmige Narbe. Grimmoire. Abhauen.

Die ersten zwei Punkte konnte ich bereits abhaken.

»Hast du irgendwelche Narben am Körper?« Auch diese Frage schien sie zu überraschen.

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Narben«, wiederholte ich und verbannte die Ungeduld aus meiner Stimme.

Maeve räusperte sich leise. »Ja, ich … es gab einen Zwischenfall vor etwa zehn Jahren. König Narcos war unzufrieden mit mir. Als Bestrafung hielt er meine Hände über die blauen Flammen der Chrona.«

Ihre Geschichte lenkte mich für einen kurzen Augenblick von meiner eigentlichen Mission ab. Scio hatte zwar vorhergesehen, dass ich auf eine verbündete Najade treffen würde, aber sollte das Schicksal mir so wohlgesonnen sein, dass es sich dabei direkt um Maeve handelte?

»Die Flammen der Chrona?«

»Die heiligen Quellen tief in den Sümpfen«, erklärte sie. »Ganze Seen und Wasserfälle aus flüssigem Feuer. Die Flammen der Chrona sind mächtig und dienen unserem Volk seit Jahrhunderten als Wegweiser. Früher waren sie ein beliebtes Ziel bei Pilgern aller Welten, die Antworten auf Fragen suchten, oder Antworten auf Fragen hatten, die noch nicht gestellt worden waren. Die Flammen boten Wissen und Geleit.« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich als sie ihre Handflächen nach oben drehte und mir die wulstigen Narben darauf präsentierte. »Narcos infiziert nicht nur Thalos mit seiner Machtgier und seinem Hass, er hat auch einen Weg gefunden, die Flammen der Chrona gegen uns zu verwenden.«

Wie gebannt starrte ich für einen Moment auf Maeves Handflächen. Sie war es. Heilige Balance … und danke, Scio!

»Ich habe nicht viel Zeit, Maeve«, begann ich und griff nach dem Arm der Najade. Wer wusste schon, wie lange Narcos brauchte, um uns anzugreifen? »Bist du loyal gegenüber deinem Herrscher?«, fragte ich sie erneut.

»Ich weiß nicht, was Ihr meint, Hoheit …«

»Dann sage ich dir, was ich vorhabe«, erwiderte ich leise und setzte damit alles auf eine Karte. Wieder einmal. Aber Maeve besaß die passenden Narben und ihre Geschichte hatte mich tief berührt. Ich musste Scio und dem Schicksal vertrauen. Mit großen Augen hörte Maeve mir zu, als ich ihr meinen Plan erklärte. Nachdem ich geendet hatte, ließ sich die Najade sichtlich schockiert auf einem der halb zerfledderten, plüschigen Sofas nieder.

»Ihr … meint Ihr das ernst?«

»Absolut.«

Für einen kurzen Moment dachte ich, sie würde wegrennen oder gar in Ohnmacht fallen, dann aber riss sie sich sichtlich zusammen und stand auf. In einer entschlossenen Geste strich sich Maeve die blauen Haare aus der Stirn und atmete tief durch.

 

»Meine Loyalität liegt bei Crinaee und meinem Volk. Nicht bei Narcos.«

Genau das hatte ich gehofft zu hören. Und es erleichterte mich ungemein. Ich hätte die Najade nur ungern verletzt oder gar Schlimmeres. Maeve schien auf den ersten Blick eine aufrichtige Person zu sein. Davon gab es in Thalos laut meiner Begleiter nicht mehr viele.

Danke, Scio.

»Was kann ich tun, um zu helfen?«

»Bring mich in die Bibliothek, den Rest mache ich.«

Ich erläuterte ihr meinen Plan ein weiteres Mal im Detail. Maeve nickte und ihre Augenfarbe wechselte von Hellgrau zu Weiß. Es war das erste Mal, dass ich eine geborene Najade sah und jetzt wusste ich, warum Duncan sie als ätherisch schön, aber gruselig beschrieben hatte. Obwohl Maeve eine durchaus attraktive Frau war, waren die weißen, leeren Augen mehr als gewöhnungsbedürftig.

»Falls du einen Platz suchst, an dem du in Sicherheit bist, bis all das hier vorbei ist, dann komm nach Arcadia«, wies ich sie an, als wir uns auf den Weg machten. »Frag nach Oliver, Cora oder Alina. In meinem Zuhause wird stets ein Platz für dich sein.«

Beinahe feierlich nickte sie.

»Ich werde mich daran erinnern«, sagte sie, »aber mein Zuhause ist hier. Ich möchte bleiben. Insbesondere jetzt, da es Hoffnung gibt.«

Hoffnung, erkannte ich, war für uns alle die treibende Kraft. Für mich, Olli, Alina, Scio … wir alle hofften auf eine bessere Zukunft. Und genau deswegen war ich hier.

Gemeinsam mit Maeve schlich ich mich den erstaunlich leeren Korridor entlang, bis der Weg sich vor uns gabelte.

»Wieso sind hier keine Wachen?«, flüsterte ich und sah mich nach allen Seiten um. Seit ich den sogenannten Salon verlassen hatte, hatte ich keine einzige Wache mehr gesehen. Oder andere Bedienstete. Der Palast war wie ausgestorben.

»Narcos ist äußerst paranoid«, erklärte Maeve mir flüsternd. »Er duldet nur eine Handvoll Wachen und Bedienstete um sich herum und in ganz Thalos. Die meisten Unsterblichen haben Thalos kurz nach Narcos Eroberung verlassen und sich in Crinaee verstreut oder Zuflucht in einer der anderen Welten gesucht.«

»Wieso du nicht?«

»Ich kenne nichts anderes, Hoheit. Dieser Palast ist mein Zuhause, ich bin hier geboren und diene dem Herrscher von Crinaee, seit ich denken kann.«

»Sah es schon immer so … heruntergekommen aus?«

Alles in allem wirkte der Palast absolut verwahrlost. Wahrscheinlich, weil niemand mehr hier war, der sich darum kümmerte. Oder um Thalos generell. Ich hatte die berühmte Hauptstadt Crinaees noch nicht gesehen, da sie hinter dem Palast – und nicht unter der Erde – lag, aber ich bezweifelte sehr, dass Narcos uns passieren lassen würde. Ich vermutete stark, dass es in ganz Thalos ebenso traurig aussah, wie hier.

»Oh nein.« Maeve schenkte mir ein rasches Lächeln und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir bogen nach links ab und eilten einen weiteren, nur schwach beleuchteten Korridor entlang. Auch hier schlängelte sich ein kleiner Bach über den Boden, bis er hinter einer der zahlreichen Türen verschwand.

»Thalos und sein Palast waren einst berühmt für ihre Einzigartigkeit und Schönheit. Es gibt viele Geschichten über uns Najaden oder die Nymphen, die hier hauptsächlich lebten, aber Hoheit, wir sind nicht alle hinterhältig und voller List. Geboren mit wenig bis gar keiner Magie, waren die Unsterblichen in Crinaee stets stolz auf ihren Intellekt sowie ihre Heimat und den Ertrag, den sie uns zum Handeln schenkte.«

Oh, ich wusste, dass viele beliebte Rohstoffe und Handelswaren aus Crinaee kamen. Drake war ihr bester Abnehmer. Aber einst hatte Crinaee mit mehr gehandelt als nur mit Lebensmitteln, Palmenblättern oder dem wertvollen Holz der cruja Bäume. In den Büchern, die Olli und ich gewälzt hatten, war von heilenden Quellen und besonderen Pflanzen die Rede, die tief in den Sümpfen von Crinaee wuchsen und bei den anderen Welten für seltene Zauber äußerst beliebt gewesen waren.

»Wir sind da«, flüsterte Maeve und riss mich damit aus meinen Gedanken. Der Weg hatte nur wenige Minuten gedauert und ich war dankbar für ihre Effizienz. Denn auch wenn die Männer mich alleine hatten gehen lassen, bezweifelte ich nicht, dass sie mir ein gewisses Zeitfenster einräumten, ehe sie es nicht mehr aushielten und mich holen kamen.

Maeve öffnete die Tür vor uns. Sie quietschte leise und unbemerkt schlüpften wir in jenen Raum, den ich gesucht hatte. Die Bibliothek. Anders als im Rest des Palasts war das Klima hier nicht feucht und heiß, sondern staubig und trocken. Der Raum war dunkel und vor den großen Fensterfronten, die einst einen tollen Ausblick geboten haben mussten, waren Erde, Dreck und Dschungel zu erkennen. Es war offensichtlich, dass schon lange niemand mehr zum Studieren hier gewesen war.

»Wo ist es?«

»Versteckt«, antwortete Maeve grinsend, »aber keine Sorge, Hoheit. Ich kenne diesen Palast besser als Narcos selbst.«

Auf Zehenspitzen trat sie vor und betätigte einen kleinen schalterartigen Gegenstand. Magisches Feuer erhellte die zahlreichen Fackeln der Bibliothek und bestätigte meinen ersten Eindruck. Düster, staubig und verlassen. In Narcos Thronsaal war es mir nicht allzu sehr aufgefallen, aber hier, in der Bibliothek, konnte man wahrhaftig erkennen, dass der Palast versunken war. Unter der Erde und versteckt vom dichten Blätterkleid des Dschungels. Schutt und Dreck bedeckten den Boden und Maeve blickte mich entschuldigend an.

»Ihr hättet es einst sehen sollen. Es war wunderschön.« Dass sie das Bedürfnis verspürte, sich mir gegenüber zu rechtfertigen, schmerzte mich, aber dafür hatten wir keine Zeit.

»Das vesti rammat«, flüsterte ich. »Wo ist es, Maeve?« Ich durfte mich nicht ablenken lassen. Ich brauchte das Grimoire und dann mussten wir hier verschwinden. Schnell.

»Natürlich, Hoheit.« Maeve schloss die Augen und tastete sich blind an einer der endlosen Bücherwände entlang, bis … Klack. Mit einem triumphierenden Lächeln öffnete sie die im Bücherregal versteckte Tür.

Ein kleiner Wasserfall, den ich bis jetzt nicht einmal gehört hatte, floss an der nackten Steinwand der kleinen, geheimen Kammer herunter. Und dort, inmitten des Wassers, schwebte es. Das Grimoire. Das heiligste Buch Crinaees, das alle Geheimnisse dieser Welt und seiner Bewohner beinhaltete. Insbesondere deren Blutlinien, die durch uralte Magie wie ein Stammbaum bei jeder Geburt und jedem Tod in Crinaee ergänzt wurden. Auch die königlichen Blutlinien. Grinsend trat ich näher.

»Können wir es einfach herausnehmen?«

»Ihr nicht«, erwiderte Maeve ruhig, »aber ich. Mit ein wenig … List.« Maeve grinste und zeigte mir die gleiche Reihe spitzer Zähne, die ich auch bei Narcos bemerkt hatte. Ohne zu zögern, griff sie in das Regal neben sich und zog ein ähnlich großes Buch heraus. Ihre Augen begannen weiß zu glühen, als sie ihre Hand auf den dicken Lederumschlag des Buches legte und zu murmeln begann. Das Grimoire hinter ihr begann zu leuchten und kleine, weiße Blitze ließen den Buchschnitt und den Lederumschlag pulsieren, als wäre es lebendig. Neugierig beobachtete ich sowohl das Grimoire als auch die Najade.

»Kommen die von dir?«, fragte ich und Maeve wandte sich zum Wasserfall um.

»Die Blitze? Oh, nein, Hoheit. Das ist das Grimoire. Während wir uns unterhalten, wird in Crinaee Leben genommen und gegeben. Das Grimoire erfasst alles, es weiß alles«, ergänzte Maeve und hob ihre Hand. »Haltet das.« Sie drückte mir das schwere Buch in die Hand. Dann sah sie auf. »Das vesti rammat ist an diesen Wasserfall gebunden. Das Wasser versorgt es mit allen Informationen unserer Welt. Wasser ist Leben. Es ist in allem«, erklärte sie mir. »Im Boden, den Pflanzen, den Sümpfen und der Luft. Ohne dieses Wasser, könnt Ihr das Grimoire nicht bewegen, es würde zu Staub zerfallen und nutzlos werden.«

Danke, Scio, für diese fehlende Information.

»Aber du kannst es dennoch herausnehmen?«

Maeve nickte. »Ich werde ein wenig des Wassers an das Grimoire binden. Ein einfacher Fluch«, murmelte sie. »Wenn ich jetzt sage, dann reicht Ihr mir das andere Buch.« Sie musterte mein Outfit. Die enge Hose, meine Lederjacke und die Waffen an meinen Oberschenkeln sowie an meinem Rücken. »Wie wollt Ihr es transportieren?«