Affen in meinem Kopf

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Affen in meinem Kopf
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Affen im Kopf

1  Titel/Autor

2  Widmung

3  Impressum

4  Hinweis

5  Gedankenkarussell

6  Nach jeder Lösung ein neues Problem

7  Nur nicht kirre machen lassen

8  Die Lage verschlimmbessert sich

9  Eine Runde Selbstmitleid

10  Die Suche nach Ausgeglichenheit

11  Danke

Melanie Bayer

Affen in meinem Kopf

Für

meine Oma Luise & meinen Opa Kurt

Impressum

Text: © Copyright by Melanie Bayer (alle Rechte vorbehalten)

Umschlaggestaltung/Illustration: © Copyright by Ria Raven (www.riaraven.de)

Lektorat/Korrektorat: Andrea Lehnigk

Verlag: Neopubli GmbH, Köpenicker Str. 154 a, 10997 Berlin

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engeren Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin und des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler eingeschlichen haben. Die Autorin und der Verlag sind dankbar für diesbezügliche Hinweise.

Hinweis

Dieses Buch basiert auf wahren Begebenheiten. Alle erwähnten Schauplätze und Personen sind real existent.

Um niemandem zu nahe zu treten, sind jedoch sämtliche Eigennamen geändert und die Ortsnamen nicht explizit genannt.

Gedankenkarussell

Meine Großeltern hatten einen großen Garten. Ich erinnere mich noch gut daran. Überall wuchsen prächtige Blumen, wild und doch gekonnt in Szene gesetzt. Der Weg war gesäumt von Obstbäumen, deren Äste schwer mit Früchten beladen nach unten hingen, und es roch ständig nach Pflaumen und Mirabellen. Die langen Beete waren stets üppig bepflanzt mit Kartoffeln, Karotten, Bohnen, Kohl und Erdbeeren. Die Sträucher trugen den ganzen Sommer über Johannisbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren. Als Kind war dieser Garten für mich das grüne Paradies auf Erden. Wenn ich an meine Großeltern zurückdenke, sehe ich sie genau vor mir: auf den Beeten vornübergebeugt, schwer arbeitend, braun gebrannt von der Sommersonne und stets zufrieden, bis ins hohe Alter.

Viele Jahre später wollte es der Zufall, dass ich selbst zu einem großen Garten kam. Er war zwar nicht annähernd so weitläufig wie der meiner Großeltern, aber für mich völlig ausreichend. Als ich ihn das erste Mal betrat, musste ich sofort an meine Kindheit denken. Heute sitze ich auf einer Holzbank zwischen den Beeten und höre Musik von PUR auf meinem MP3-Player. Mein Lieblingslied „Affen im Kopf“ vor mich hin summend lasse ich den Blick schweifen. Der Garten besteht zum größten Teil aus Rasen, aber ein Drittel ist Nutzfläche. Das wollte ich so. Dort lege ich mich Jahr für Jahr ins Zeug und pflanze und ziehe, damit alles ansatzweise dem grünen Paradies aus meiner Erinnerung gleicht. Und jede Minute, die ich auf dem Acker zubringe, bringt mich meinen Großeltern ein bisschen näher. Ich denke täglich an sie, an sie und meine restliche Familie. Eine Familie, zu der ich zum größten Teil keinen Kontakt mehr habe. Und ich denke darüber nach, wie und warum es dazu gekommen ist und ob ich selbst daran schuld bin. Manchmal lassen mir diese Gedanken auch nachts keine Ruhe und rauben mir den Schlaf, genau wie PUR es in „Affen im Kopf“ besingen. Dann tue ich das, was ich immer tue, wenn mich etwas beschäftigt: Ich schreibe es nieder und versuche so, es ein für alle Mal hinter mir zu lassen.

Mit 34 bin ich zwar noch einige Jahre von der klassischen Midlife-Crisis entfernt, doch bereits jetzt liegt ein chaotisches Leben voller Höhen und Tiefen hinter mir. Der Grundstein dafür wurde in meiner Kindheit gelegt. Bis ich neun Jahre alt war, arbeiteten meine Eltern beide in Vollzeit, weshalb meine Großeltern sich viel um mich kümmerten. Ich liebte meine Oma, war aber trotzdem ein typisches „Opa-Mädchen“. Mein Großvater verstand mich wortlos, sodass ich kaum zu reden brauchte. Ich wurde viel verhätschelt, was seinen Töchtern, meinen Tanten, wohl nicht gefiel. Vielleicht auch, weil er mir mehr durchgehen ließ als ihnen, als sie klein gewesen waren. Trotzdem würde ich das Verhältnis zu meinen Tanten als gut bezeichnen, zumindest habe ich nur gute Erinnerungen an sie. Gerne denke ich an rauschende Familienfeste, gemeinsames Plätzchenbacken in der Weihnachtszeit, Besuche im Planetarium oder Kino, Rumalbern im Garten und Hilfe bei den Hausaufgaben zurück. Doch obwohl ich mir immer eine engere Beziehung zu meinen Tanten wünschte, kam es mir so vor, als ob sie mich nicht näher an sich heranlassen wollten. Nur so nah, wie es unbedingt sein musste, weiter nicht. Ich hätte gerne eine oder mehrere weibliche Bezugspersonen gehabt. Meine Mutter konnte diese Position nicht einnehmen, denn sie arbeitete viel und ich konnte mich auf sie in dieser Hinsicht nicht verlassen. Da ich in meiner Familie nicht fündig wurde, erweiterte ich meinen Suchradius auf Mädchen in meinem Alter. Meine für lange Zeit einzige und somit beste Freundin war Anna, mit der ich zur Grundschule ging. Mit ihr teilte ich jahrelang meine Pferde-Vernarrtheit. Typisch für Mädchen in dem Alter. Anna und ich waren jedenfalls unzertrennlich – bis sie auf die Haupt- und ich auf die Realschule wechselte. Die Schulen befanden sich in zwei verschiedenen Städten. Unsere Freundschaft blieb jedoch bestehen. Vorerst. Irgendwann hörten wir auf, mit Barbie-Pferden zu spielen, und verbrachten die Mittage auf dem Dachboden von Annas Elternhaus, um zusammen Geschichten zu schreiben. Ich denke gerne daran zurück. Wir haben viel gelacht. Aber leider sahen wir uns in der Freizeit nicht mehr so häufig wie zu Grundschulzeiten. Mir fehlte meine beste Freundin. Dadurch intensivierte sich allerdings die Freundschaft zu Sarah, der Nichte meines Onkels. Ich kannte sie ebenfalls von klein auf, wir hatten uns aber bis dahin immer nur sporadisch auf Familienfeiern gesehen. Als Kinder spielten wir miteinander, als Teenies quatschten wir, bis uns die Ohren glühten, und irgendwann wurden wir zu besten Freundinnen. Wir telefonierten regelmäßig und trafen uns immer öfter. Auf Familienfeiern machten wir Unmengen von Selfies – ganz altmodisch mit einer Einwegkamera. Wir teilten die Leidenschaft für Mangas und schrieben uns ständig SMS oder Briefe – heute, im Zeitalter von E-Mails und WhatsApp, kaum vorstellbar, aber damals war das ganz alltäglich.

Die dritte innige Freundschaft, oder besser Leidenschaft, hegte ich zum Schreiben. Dazu gekommen bin ich durch Walt Disney: Für mich gab es als Kind, und gibt es auch heute noch, nichts Schöneres als Disney-Zeichentrickfilme. Sie heitern mich auf, machen mich glücklich und lassen mich für kurze Zeit die Realität vergessen. Basierend auf den zauberhaften Märchen begann ich, mir eigene Geschichten auszudenken. Damals war ich gerade einmal elf Jahre alt. Bis ich meine Ausbildung begann, schrieb ich, wann immer ich konnte. Manchmal ging mir sogar das Papier aus.

Mein erstes Erfolgserlebnis als angehende Schriftstellerin hatte ich, als ich auf einer Veranstaltung unserer Ortsbibliothek eine meiner Geschichten vorlesen und mir danach als Belohnung ein Buch vom Verkaufsstand aussuchen durfte. Das war zwar in einem sehr kleinen Rahmen, mit zwölf, dreizehn Jahren bedeutete es mir trotzdem unglaublich viel. Meine eigenen Worte und Ideen vorzulesen und mit anderen zu teilen, die mir anschließend sogar applaudierten, war wirklich toll. Leider teilten meine Eltern diese Freude nicht mit mir. Sie waren immer nur mit ihren Jobs beschäftigt und – so kam es mir zumindest vor – gar nicht an meiner Leidenschaft interessiert. Bei einem landesweiten Schreibwettbewerb für Jugendliche, an dem auch meine Schule teilnahm, war ich unter den Besten und bekam eine Urkunde mit Buchpreis. Meine Eltern holten mich damals lediglich von der Schule ab, mehr nicht. Sie gingen mit keiner Silbe auf meine Leistung ein. Ich glaube, dass sie mir den Erfolg überhaupt nicht zugetraut hatten. In keinerlei Hinsicht. Bis heute hat weder meine Mutter noch mein Vater je eine Zeile von mir gelesen. Auch als ich später in einer Showgruppe tanzte, kamen sie zu keiner einzigen Probe oder Aufführung. Das hat mein Selbstwertgefühl als Teenie nicht gerade gestärkt.

Aber als Kind muss man viel lernen, unter anderem mit Enttäuschungen zurechtzukommen. Die Enttäuschungen häuften sich jedoch, vor allem ab dem Zeitpunkt, als ich kein Einzelkind mehr war. Das lag allerdings nicht an meinem kleinen Bruder, sondern an meinen Eltern. Sie zeigten, wahrscheinlich ungewollt, aber eindeutig, wen sie lieber hatten. Das wollten meine Eltern allerdings natürlich nicht wahrhaben, weil es in ihren Augen nicht so war.

 

All diese Erfahrungen prägten meine Kindheit und Jugend und sorgten für Gefühlschaos pur. Ich kam mir vor, als hätte jemand in meinem Kopf eine gut versteckte und versiegelte Truhe geöffnet. Aus dieser kamen jedoch keine Dämonen wie in meinem Lieblingsmanga „Skip Beat“, sondern Dutzende kleine, freche Gedanken-Affen. Diese fabrizierten fortan regelmäßig Chaos in meinem Kopf. Durch einen weiteren Umstand kam alles noch mehr ins Schwanken. Ich bemerkte lange nichts. Erst mit 16 wurde mir immer mehr bewusst, dass ich anders war als die anderen. Wie merkt man so etwas? Zum Beispiel, dass man lesbisch ist? Vielleicht daran, dass man wie ein verdattertes Huhn in der Schulpause bei den anderen Mädchen steht und überhaupt nicht verstehen kann, warum diese die Jungs aus der Parallelklasse anschmachten? Oder daran, dass man sich unbewusst verstellt, um so zu sein wie die anderen? Während nämlich meine Klassenkameradinnen alle für Jungs schwärmten, verguckte ich mich in meine Schulfreundin Nicole. Ich selbst nahm das ziemlich cool auf. Es fühlte sich wie ganz normales Verliebtsein an, wie man es aus Filmen kennt. Nur dass ich eben in ein Mädchen verknallt war, nicht in einen Jungen. Natürlich erzählte ich das nicht herum, da zu meiner Schulzeit Homosexualität als abartig und unnormal galt. „Lesbe“ war damals sogar ein Schimpfwort. Doch irgendwann nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb einen Liebesbrief an Nicole. Das kam allerdings bei ihr, wie ich schon befürchtet hatte, nicht so gut an. Von diesem Moment an musste ich alleine zur Bushaltestelle laufen, saß alleine auf der Schulbank und Nicole sprach kaum noch ein Wort mit mir. Mein Geheimnis machte danach natürlich schnell die Runde. Verantwortlich dafür war jedoch nicht Nicole, denn ihr war es peinlich, dass ich Gefühle für sie hatte. Nein, es war ihre Freundin Katrin, die den Mund nicht halten konnte. Was daraufhin folgte, war grausam. Ich wurde von allen Seiten schikaniert. Das war im Prinzip nichts Neues für mich, denn ich war seit der Grundschulzeit wegen meiner roten Lockenmähne gehänselt worden. Die unzähligen Spitznamen, die sich meine Mitschüler deswegen für mich ausgedacht hatten, waren vielfältig und verletzend kreativ: Pumuckl, Hexe, Schamhaarkrause, Schaf, … Und es wurde immer schlimmer. Ich bin nie gerne zur Schule gegangen. Schon gar nicht auf die Realschule. Und diese Beschimpfungen gaben mir den Rest. Aufgrund meiner Haare wurde ich von den anderen auf eine Äußerlichkeit reduziert, für die ich nichts konnte. Ich war keine vollwertige Person mehr. Ich verlor meinen Namen und meine Menschlichkeit, denn ich wurde nicht mehr wie ein Mensch behandelt. Es gibt sicherlich schlimmere Bezeichnungen, mit denen man gemobbt werden kann, aber mir reichten diese. Das ist nicht übertrieben. Mobbing kann abscheuliche Formen annehmen. Einige Personen finden sich zusammen, suchen sich willkürlich ein „Opfer“ aus und beginnen, nur noch abwertend über dieses zu sprechen. Sobald es in der Nähe ist, wird getuschelt, hämisch gelacht, gestichelt und gespottet. Das hält man nicht lange aus. Ich allerdings musste es verdammte sieben Jahre mitmachen. Ich erinnere mich an einsame Pausen, an Kaugummis, die mir in die Haare gespuckt wurden, während wir im Unterricht einen Film schauten, an das beklemmende Gefühl, wenn ich im Sportunterricht als Letzte einer Mannschaft zugeteilt wurde, oder daran, mich bei Gruppenarbeiten an einen Tisch dazusetzen zu müssen, weil die anderen nicht mit mir zusammen sein wollten. Es war also nicht gerade vorteilhaft, zu all dem auch noch lesbisch zu sein. Ab dem Zeitpunkt meines Outings war ich nicht mehr nur „das rote Schaf“, sondern zudem „die Lesbe“. Fortan musste ich mir zusätzlich zu all den anderen Beschimpfungen dumme Sprüche übers Spannen in der Mädchenumkleidekabine beim Sportunterricht anhören. Ich war bei meinen Mitschülern komplett unten durch und zählte ab diesem Augenblick die Tage bis zum Abschluss. Es waren noch verdammt viele Tage! Rückblickend vergleiche ich meine Schulzeit mit einem Völkerballspiel, bei dem es alle auf den Letzten im Feld abgesehen haben. Ich wurde wegen einer belanglosen Kleinigkeit von den anderen ausgegrenzt und täglich mit Hohn und Spott überschüttet. Manchmal blieb es nicht dabei und ich wurde auch körperlich angegriffen.

Heute weiß ich, dass ich all das nicht hätte für mich behalten sollen. Egal, wie sehr man geärgert, schikaniert und gequält wird, man sollte es nicht einfach hinnehmen. Denn je länger man es stillschweigend erträgt, umso schlimmer wird es. Es macht einen psychisch fertig. Daher sollte man sich Hilfe suchen und seinen Peinigern zeigen, dass man so nicht mit sich umgehen lässt. Da ich mich meinen Eltern nicht anvertrauen konnte, suchte ich schließlich eine Beratungsstelle für homosexuelle Jugendliche auf. Danach ging ich zu einer meiner Lehrerinnen, die ebenfalls lesbisch war. Es half zudem ungemein, dass ich die neunte Stufe wiederholen musste und somit in eine neue Klasse kam. Dort fand ich endlich Freunde und konnte in Ruhe die Mittlere Reife ablegen.

In dieser schwierigen Phase half mir das Schreiben dabei, mit meinen Sorgen und Nöten klarzukommen. Als ich auf meinen Abschluss zusteuerte, verboten es mir meine Eltern, die von meinen Problemen nichts wussten, jedoch. Ich sollte mich mehr aufs Lernen konzentrieren. Ein guter Abschluss brachte schließlich mehr als ein „dummes Hobby“, von dem man später nicht leben konnte. So wenig kannten mich meine Eltern. Ich schrieb schließlich nicht, um irgendwann damit viel Geld zu verdienen, sondern weil es mich glücklich machte. Meine Eltern erwarteten immer von mir, dass ich das Richtige tat. Aber was war schon richtig? Ich wollte meinen eigenen Weg gehen – auch wenn das hieß, einem Kaninchen in seinen Bau nachzurennen und dann in ein tiefes Loch zu fallen, das in eine völlig andere Welt führte. Das fand ich sogar aufregend. Ich schrieb daher trotzdem. Heimlich, tagelang, nächtelang, ohne Unterlass. Nichts und niemand konnten mich vom Schreiben abbringen.

Dass ich anders als die anderen war und mich gegen interne Regeln auflehnte, passte nicht jedem. Es dauerte allerdings lange, bis ich begriff, dass nicht ich ein Problem hatte, sondern die anderen eines mit mir. Und als ob ich nicht schon genug Schwierigkeiten gehabt hätte, dachte sich der Neffe meines Onkels, es sei eine gute Idee meine Handynummer an einen seiner Kumpel weiterzugeben. Ich habe keine Ahnung, warum und was er ihm erzählt hatte. Er wollte uns anscheinend verkuppeln. Sein Freund Rocco schrieb mir daraufhin jedenfalls eine SMS und ich antwortete, ohne mir etwas dabei zu denken. Eines Abends aber stand Rocco dann plötzlich vor meiner Haustür. In der Folgezeit entwickelte er sich zu einem echt anstrengenden und hartnäckigen Verehrer, den es auch nicht abschreckte, dass ich ihm verkündete, dass ich gar nicht auf Männer stand. Seine Antwort darauf war ganz selbstgefällig:

„Ich weiß doch ganz genau, dass du auch Gefühle für mich hast! Wir gehören zusammen!“

Nach dieser Aussage war für mich eindeutig der Zeitpunkt gekommen, einen Schlussstrich zu ziehen. Fortan ignorierte ich all seine SMS und Anrufe.

Und da ich inzwischen Erfahrung mit dem Outen gesammelt hatte, machte ich munter weiter. Die Nächste, der ich von meiner Homosexualität erzählte, war meine Freundin Anna. Der Moment, als sie davon erfuhr, gehört zu den Augenblicken, an die ich nicht gerne zurückdenke. Sie meldete sich danach fast sechs Wochen lang nicht mehr bei mir. Mit keinem Wort. Erst bei einem Tanzkurs trafen wir uns zufällig wieder und näherten uns langsam ein wenig an. Doch so innig wie früher wurde unsere Freundschaft nicht mehr. Wir redeten wieder miteinander, aber Zeit verbrachte sie lieber mit anderen. Irgendwann brach der Kontakt ganz abrupt ab, was mir aber nicht so wehtat, wie ich es befürchtet hatte. Das lag sicherlich unter anderem daran, dass Anna sich inzwischen mit einer ihrer Mitschülerinnen angefreundet hatte: Vanessa. Diese war eine ziemlich eingebildete Tussi. Aber anscheinend mochte Anna das. Ich beobachtete, wie die beiden über so hirnlose Themen wie Make-up-Trends lachten und diskutierten. So etwas hatte Anna ein paar Monate zuvor im Gespräch mit mir noch total öde gefunden, da sie nie Make-up auflegte. Auf einmal fand sie jedoch Mädels cool, die sich stylish kleideten und schminkten, Mädels wie Vanessa. Ich merkte schnell, mit wem Anna lieber Zeit verbrachte, ich war plötzlich out wie ein Kleidungsstück, das aus der Mode gekommen war. Einmal nahm mich Anna auf eine Party mit, auf der ich niemanden kannte, außer ihr. Aber anstatt sich mit mir zu unterhalten oder mich den anderen vorzustellen, damit ich nicht wie der letzte Depp dastand, verschwand meine ehemals beste Freundin spurlos für eine volle Stunde. Als es stockdunkel geworden war, begann ich, sie zu suchen. Ich wollte nicht länger rumstehen wie bestellt und nicht abgeholt. Und ich machte mir Sorgen. Und sie? Sie stand draußen und knutschte mit einem Typen aus dem Tanzkurs. Ich suchte mir daraufhin leise vor mich hin fluchend eine ruhige Ecke in der Scheune, in der ich meinen Schlafsack ausbreiten konnte. Als ich mich endlich wie ein Sushi eingerollt hatte, wünschte ich mir nichts mehr als Ruhe und dass die Nacht endlich vorbeiging, damit ich den Feldweg nach Hause fand. Es gibt Momente, in denen man sich über sich selbst und das eigene Mitgefühl ärgert. Dies war so ein Moment. Diese Umstände machten es mir jedoch leichter, diese Freundschaft abzuhaken. Sobald die Morgendämmerung hereinbrach, packte ich meine Sachen und verdrückte mich. Zu verabschieden brauchte ich mich nicht, schließlich würde mich ohnehin niemand vermissen. Und aufräumen konnten die anderen gefälligst alleine, ich sah gar nicht ein, dabei zu helfen. Etwas Gutes hatte dieser schreckliche Abend aber dennoch: Da Vanessa in den Jungen verschossen war, mit dem Anna geknutscht hatte, waren die beiden ab diesem Zeitpunkt getrennte Leute. So wie Anna und ich. Die Schadenfreude half mir ein wenig über die Enttäuschung hinweg. Allein sein konnte ich gut ohne sie, dafür brauchte ich keine vermeintliche Freundin, die mir die kalte Schulter zeigte, um mich für ein anderes Mädchen links liegen zu lassen.

Bei Sarah verlief mein Outing völlig anders. Ich weiß noch ganz genau, dass es mir sehr schwerfiel, mich ihr anzuvertrauen. Ich hatte Angst, dass sie mich danach in einem neuen Licht betrachten und anders behandeln würde. Oder dass sie mich – wie Anna – gar nicht mehr sehen wollte. Natürlich war auch für sie mein Geständnis erst einmal gewöhnungsbedürftig, aber sie nahm es sehr viel gelassener auf, als ich gedacht hätte. Ihr war klar, dass ich mich als Mensch nicht geändert hatte, warum sollte sie mich also anders behandeln?

An dieser Stelle reißt mich lautes Vogelgezwitscher aus meinen Erinnerungen. Ich schaue um mich. Langsam, aber sicher wachsen und gedeihen Zucchini und Co. auf den Beeten. Es fasziniert mich stets auf Neue, wie die Natur voranschreitet. In diesem Moment ist alles in Ordnung. Jetzt und hier. Und das kann mir niemand nehmen. Diesen Gedanken im Hinterkopf zu haben, ist sehr beruhigend. Mir wird immer mehr bewusst wer ich wirklich bin, und vor allem wie ich zu dieser Person geworden bin. Dabei geholfen hat mir auch die Musik von PUR. Damit bin ich aufgewachsen und die Texte haben mir in vielen Situationen Trost gespendet und Halt gegeben.

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