Klippenfall

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

9

Die nackte Neonröhre strahlte unerbittlich und tauchte den Raum in ein geradezu klinisches Licht. Seit Stunden, so kam es ihr vor, saß Sylke angespannt auf dem Stuhl, den sie so positioniert hatte, dass sie die Tür sehen konnte. Erst hatte sie überlegt, sich in den Sessel zu setzen, doch sie wollte auf keinen Fall wieder einschlafen. Stattdessen hatte sie darüber nachgedacht, ob sich irgendetwas in dem Raum als Waffe benutzen ließ. Sollte sie das dickste Buch nehmen und ihn damit auf den Kopf schlagen? Schnell verwarf sie die Idee wieder. Sie wollte erst wissen, wo Emilie war, bevor sie versuchte, zu kämpfen. Wenn sie ihm unterlag, würde er sie vielleicht töten und ihre Tochter bliebe allein zurück in seiner Hand. Nach einigem Zögern hatte sie jedoch einen Filzstift genommen und ihn unter ihren Pullover an der rechten Hand geschoben. Ein Stift war eine gute Sache, wenn es ihr gelingen würde, ihn direkt in sein Auge zu stechen.

Nun saß sie hier, den Stift fest umklammert und mit einem laut knurrenden Magen. Doch noch schlimmer war der Durst. Was würde sie jetzt für ein Glas Wasser geben! Und danach einen großen Becher Kaffee. Der würde wenigstens helfen, wieder klar zu denken.

Dann schlug sie sich vor den Kopf. Natürlich, es gab doch ein Waschbecken in dem Raum. Mit wackeligen Schritten ging sie zu der Waschecke hinüber und drehte am Wasserhahn. Sofort sprudelte klares, kaltes Wasser heraus. Sylke trank es gierig aus ihrer Hand. Dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war! Sie schimpfte im Stillen mit sich selbst. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, sie brauchte mehr denn je all ihre Sinne. Als ihr Blick auf die Toilette fiel, zögerte sie. Sie musste dringend. Doch was, wenn es hier eine Kamera gab, die sie nicht entdeckt hatte? Oder er genau in dem Moment zur Tür hereinkam, wenn sie mit heruntergelassener Hose dastand? Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Doch sie hielt es nicht mehr aus, setze sich schnell und sprang genauso hektisch wieder auf, sobald sie fertig war. Jetzt schnell zurück zum Stuhl. Vorbereitet sein.

Sylke setzte sich kerzengerade hin und starrte auf die Tür. Die Minuten verstrichen, wurden zu Stunden, jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Sie wurde müde, ihr Kopf rutschte immer wieder nach vorne und dann schreckte sie jedes Mal hoch. Deshalb wusste sie im ersten Moment auch nicht, ob sie träumte, als sie ein kratzendes Geräusch vernahm. Sofort richtete sie sich auf, konzentrierte sich. Ja, es kam eindeutig von der Tür.

Sylkes Herz begann zu rasen, Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie sprang auf, stellte sich hinter den Stuhl, den rechten Fuß nach vorne, Arme angewinkelt. Die Tür öffnete sich. Langsam. Wie hypnotisiert folgten Sylkes Augen der schweren Metallplatte, die sich Zentimeter für Zentimeter in den Raum fraß. Die Spitze eines schwarzen Turnschuhs folgte, dann ein Bein, schließlich der ganze Körper. Direkt danach fiel die Tür krachend zu.

Sylke blinzelte. Ihre Augen tränten und mit einer schnellen Bewegung wischte sie darüber. Das konnte nicht sein ... das war nicht er ... aber ...

»Mama!« Emilie war mit drei Schritten bei ihr, umarmte Sylke so heftig, dass sie schwankte. Sie versuchte, ihren Halt wiederzufinden, sog gierig den Geruch ein, der sie traf, Emmis Geruch, der Geruch ihrer Tochter. Vorsichtig, als könnte sich Emmi als eine Fata Morgana erweisen, hob sie ihre Hand, strich über das blonde Haar.

Emilie umklammerte sie. So standen sie da, regungslos. Schließlich löste sich Emmi von ihr. Sylke legte ihre Hand auf die Wange ihrer Tochter, schaute sie an. »Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie. »Hat er dir irgendetwas getan?«

Emilie schüttelte stumm den Kopf.

Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie schob Emilie zum Bett, setzte sich direkt daneben, Bein an Bein. Emilie blickte mit großen Augen in das Zimmer.

Sylke nahm ihre Hand. »Wo warst du? Was ist passiert?«

Doch Emilie antwortete nicht. Sie starrte weiterhin wie gelähmt in den Raum, anscheinend ohne etwas wahrzunehmen. Sylkes Erleichterung löste sich auf, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das hier war nicht ihre Emilie. Dieses Mädchen hatte Angst und stand eindeutig unter Schock.

»Schon gut. Schon gut, meine Süße!« Sie rückte an ihre Tochter heran, umfasste sie mit beiden Armen. Erst da fiel ihr auf, dass Emmi einen Rucksack trug. Vorsichtig löste sie die Schulterriemen. Emilie ließ das teilnahmslos geschehen, jegliche Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Die Tasche war schwer, Sylke stellte sie auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Sie war voll mit Essen. Zuerst holte Sylke eingepackte Brote heraus, dann Äpfel und Bananen. Zum Schluss zwei Tafeln Schokolade, Alpenmilch und Haselnuss. Außerdem befand sich noch eine Flasche Eistee darin und zu guter Letzt beförderte sie Cola ans Tageslicht. Obwohl sie es nicht wollte, knurrte ihr Magen laut auf.

»Hast du Hunger?«, fragte sie. Emilie schüttelte den Kopf. Bis auf »Mama« ganz zu Beginn hatte sie noch kein Wort gesprochen, stellte Sylke beunruhigt fest.

Sie schob das Essen zur Seite und nahm ihre Tochter erneut in den Arm. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, vergrub sich in Emilies Haaren und sog den vertrauten Geruch in sich auf. »Wir sind zusammen, jetzt kann uns nichts mehr passieren, ich verspreche es dir.« Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Sie wollte alles wissen: Wo Emilie gewesen war, was er mit ihr gemacht hatte, ob er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, das darauf hinwies, warum sie beide hier waren. Doch Emilie würde jetzt nicht reden. Sie musste ihr Zeit lassen, Sicherheit geben. Eine Sicherheit, die sie selbst nicht verspürte. Sylke drückte sie fest an sich, hielt sie umschlungen. Sie merkte, wie Emilie sich langsam entspannte, sich in sie hineinkuschelte, als wollte sie in ihr verschwinden.

Alles wird gut. Immer wieder wiederholte Sylke das Mantra in ihrem Kopf. Sie hielt ihre Tochter im Arm, das war das Einzige, das zählte. Jetzt musste sie nur noch herausbekommen, wo sie waren, und es schaffen, zu flüchten. Irgendwann würde dieser Mistkerl ja mal auftauchen. Sylke hielt die Augen weit geöffnet. Sie würde über Emilie wachen und bereit sein, sobald er den Raum betrat.

10

Nicht nur ihre Schönheit hatte er bemerkt. Seit einigen Wochen beobachtete er sie nun schon. Jede Pause. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass sie zwei Jahrgänge über ihm war. Er bewunderte nicht nur ihre langen Haare, die ihn an hellglitzerndes, goldenes Meer im Sonnenschein erinnerten, nicht nur ihre kleinen Brüste, auf die er, selbst wenn er es nicht wollte, immer wieder schauen musste. Aber da waren auch ihre langen, schmalen Beine, die aussahen, als sei sie ein Reh, jederzeit bereit, davonzulaufen und im Dickicht zu verschwinden. Ihre blauen Augen, die er noch nie lachend gesehen hatte. Sie schauten nachdenklich, manchmal traurig. Ihre Haltung. Sie stand ein wenig vornübergebeugt, als wollte sie sich an etwas anlehnen, Halt suchen.

Und sie war allein. Genau wie er. In der Pause ging sie immer in eine bestimmte Ecke, sogar, wenn es regnete und die anderen die Regenpause im Schulgebäude genossen. Sie hingegen ging hinaus, egal ob ein Sturm peitschte oder die Sonne vom Himmel stach. Wie unbeteiligt stand sie am selben Fleck.

Aber je länger er sie beobachtete, desto mehr merkte er, dass sie nicht so teilnahmslos war, wie sie wirkte. Sie sah alles. Inzwischen glaubte er, dass sie auch ihn bemerkt hatte. Seitdem hoffte er inständig auf ein Zeichen. Schließlich ging es ihnen doch beiden gleich – die anderen mieden sie, machten einen Bogen um sie, als wären sie Aussätzige. Sie allerdings sah nie in seine Richtung.

Er versuchte herauszubekommen, warum sie so allein war. Bei ihm, ja, das konnte er verstehen, klein und unscheinbar wie er war. Alle verehrten seinen großen Bruder, jedenfalls die Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen allerdings konnten ihn nicht leiden, doch wen interessierten schon die Alten.

Aber sie? Sie war schön, und klug war sie bestimmt auch. Warum nur hatte sie keine Freundinnen? Je mehr Tage ins Land gingen, desto mehr reifte in ihm eine Einsicht: Es musste so sein, weil sie es wollte. Sie hatte sich entschieden, allein zu sein. Sein Respekt vor ihr wuchs. Im Gegensatz zu ihm, der gesehen werden wollte, der sich nichts sehnlicher als einen Freund – noch besser, eine Freundin – an seiner Seite wünschte, hatte sie sich bewusst dagegen entschlossen.

Seitdem sah er sie mit anderen Augen. Das war keine Trauer in ihrem Blick, sondern Desinteresse an der Welt. Bestimmt suchte sie niemanden zum Anlehnen, sondern war nach vorne gelehnt, weil sie bereit war, zu kämpfen. Ein Boxer im Ring unter Hochspannung.

Er versuchte, so zu werden wie sie. Beherrscht und unnahbar. Wer sagte schon, dass man zum Glück mehr als sich selbst brauchte? Ihm gelang es nicht, noch nicht? Aber sie schien zufrieden zu sein, glaubte er.

Bis zu jenem Tag kurz vor den Sommerferien. Der Tag, an dem er begriff, dass sie noch viel schlimmer dran war als er. Viel, viel schlimmer.

11

Irgendwann war Emilies Atem langsamer und gleichmäßiger geworden. Voller Erleichterung darüber, dass ihre Tochter eingeschlafen war und so der Hölle wenigstens für kurze Zeit entkommen konnte, murmelte Sylke ein Danke in den Raum, ohne zu wissen, an wen sie es eigentlich richtete. Behutsam bewegte sie ihr rechtes Bein, gefühlte tausend Ameisen krabbelten darin herum. Dann griff sie zur Cola-Flasche, Koffein war jetzt genau das Richtige. Und weil sich ihr Magen erneut meldete, öffnete sie ebenfalls eine Packung der Brote. Es waren sechs Stück, da würde genug für ihre Tochter bleiben.

 

Sie hatte das erste Brot gerade aufgegessen, als das Licht erlosch. Sylke zuckte zusammen und streichelte dann schnell über Emilies Haar, weil die ihren Kopf unruhig hin und her warf. »Schhh«, wisperte sie. Angestrengt versuchte sie, sich an die Dunkelheit anzupassen, etwas zu erkennen. Aber wie auch schon zuvor sah sie die Hand vor Augen nicht. »Ob es Nacht ist?«, überlegte sie. Ohne Uhr und völlig übermüdet war es ihr nicht mehr möglich, nur ansatzweise zu sagen, wie spät es war. Er hatte sie und Emilie am Sonntagabend gefangen genommen. Als sie in dem Raum aufgewacht war, war es stockdunkel gewesen. Angenommen, er ahmte die natürliche Zeit nach, hatte sie die Nacht, dann den Montag hier verbracht und Emilie musste am frühen Montagabend zu ihr gekommen sein. Sylke beschloss, sobald das Licht anging, den Block zu nehmen und die Daten darauf zu notieren. Morgen wäre also Dienstag und sicherlich suchte man bereits nach ihnen. Bestimmt hatte Levke Alarm geschlagen. Bei dem Gedanken beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig.

Eine drückende Müdigkeit legte sich auf ihren Körper. Jetzt, wo sie einigermaßen satt war und Emilies regelmäßigen Atem hörte, konnte auch die Cola die furchtbare Mattheit nicht vertreiben. Krampfhaft versuchte sie, ihre Lider nicht zu schließen, dem Schlaf zu trotzen, falls er kommen und sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben würde. Was aber, wenn er sich gar nicht blicken ließ? Erst in mehreren Tagen kam? Sie konnte nicht tagelang die Augen offen halten. Dann würde sie so erschöpft sein, wenn er erschien, dass sie nicht klar denken konnte, geschweige denn fliehen. Vorsichtig legte sie Emilies Kopf von ihren Beinen auf das Bett und schob das Kissen darunter. Emilie seufzte, wachte aber nicht auf. Hoffentlich träumt sie vom Meer, dachte Sylke, stand langsam auf und streckte ihren verkrampften Körper. Sie tastete sich bis zu dem Regal, nahm einen Stapel Bücher heraus und kroch mit ihnen unter dem Arm an der Wand entlang zur Tür. Sorgsam stapelte sie einen hohen Turm direkt an das Metall. Sollte er die Tür auch nur einen Spalt öffnen, würden die Bücher mit einem lauten Getöse umfallen und sie wecken. So konnte er sie wenigstens nicht im Schlaf überraschen.

Sie tastete sich zum Bett zurück, erfühlte die Decke und zog sie sanft bis zu Emilies Schultern hoch. Plötzlich sah sie die rosa Feen darauf vor sich. Ihr wurde übel, sie würgte, ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie versuchte, die dunklen Gedanken zu verdrängen, die sich erneut in ihrem Kopf breitmachten. So vorsichtig wie möglich kletterte sie über ihre Tochter, legte sich hin und schmiegte sich eng an sie. Das Bett war schmal, ein Bett für eine Person. Egal. »Schlaf jetzt«, ermahnte sie sich selbst. Aber sobald sie lag, war sie mit einem Mal hellwach. Ein dunkler Raum. Ein Bett. Zwei Frauen. Und irgendwo ihr Entführer. Was wollte er von ihnen? Warum gerade sie? Und wieso kam er ihr bloß so bekannt vor?

Erneut ging Sylke alle Männer durch, die eine Rolle in ihrem Leben spielten. Gespielt hatten. Viele waren das nicht gewesen und jetzt war sie schon länger allein. Irgendwie schaffte sie es nie, eine intensive Bindung aufzubauen. Sie war schnell genervt von enger Zweisamkeit, vermisste es, alles selbst entscheiden und bestimmen zu können, kompromisslos. Wahrscheinlich, weil sie es nicht anders gewohnt war, dachte sie manchmal bitter. Sie und Emmi waren sich ähnlicher, als sie zugeben wollte. Einzelgängerinnen. Dass sie seit der Schulzeit in Levke so eine gute Freundin gefunden hatte, die zu ihr hielt mit all ihren Macken, das war wirklich ein Geschenk.

Kai war einer ihrer wenigen männlichen Freunde. Obwohl »Freund« schon zu viel war, eher ein guter Bekannter. Kai, sein bester Kumpel Udo, Levke und sie gingen manchmal zusammen ein Bier trinken. Na ja, sehr selten. Denn Sylke hatte kaum Zeit. Der Laden, Emilie – da fiel sie am Wochenende meist einfach nur erschöpft aufs Sofa und freute sich, wenn sie es schaffte, nicht vor zehn Uhr abends einzuschlafen. Kai und Udo waren echte Nordlichter, rau im Ton, aber das Herz am rechten Fleck. Manchmal glaubte sie, dass Kai auf sie stand, jedoch wusste, dass seine Zuneigung von ihr nicht erwidert wurde. Er war nie verheiratet gewesen, überhaupt konnte sich Sylke nicht daran erinnern, dass er jemals eine Freundin gehabt hatte. Zwar redete er mal hier und da von einer Bekanntschaft, aber Sylke hatte das Gefühl, dass er das mehr aus Prahlerei tat und er ihr imponieren wollte. Er hatte allerdings verstanden, dass es mit ihnen niemals etwas werden würde.

Was für eine Truppe ... Eine beziehungsunfähige Frau, ein Mann, der vielleicht noch Jungfrau war – wer wusste das schon? Ein gutmütiger Nordbär und eine lebenslustige Levke, die irgendwie nicht hineinpasste und gerade deshalb den Laden zusammenhielt. Nein, unmöglich, dass Udo und Kai etwas mit der Sache zu tun hatten.

Sylke versuchte, sich an all die Touristen zu erinnern, die in den letzten Wochen in ihrem Laden gestöbert hatten. So viele hatten sich dort umgesehen. Obwohl sich eigentlich mehr Frauen zu ihr verirrten. Welche Männer hatten bei ihr eingekauft? Da war einer gewesen, der gleich zehn Taschen gewollt hatte. Und ein anderer, der sich stundenlang nicht für einen Schal entscheiden konnte. Und der, der sie fast einen ganzen Vormittag auf Trab gehalten hatte, sich alles zeigen ließ, um zum Schluss nur mit einer Taschentuchhülle für fünf Euro zu gehen. Keiner von denen hatte auch nur annähernd so ausgesehen wie der Mann, der sie verschleppt hatte.

»Du musst dich erinnern!« Sie presste eine Faust an ihre Schläfe. Aber so sehr sie in ihrem Gedächtnis kramte, sie fand sein Gesicht nirgendwo.

12

Sylke erwachte, weil sie nicht genügend Luft bekam. Erschrocken keuchte sie auf, setzte sich ruckartig hin. Emilies Arm rutschte von ihr herunter. Puhh, es war bloß Emmi gewesen, sie hatte im Schlaf nach ihr gegriffen, zu fest, wie eine Klammer. Sie hörte, wie ihre Tochter sich bewegte. Dann ihre zögerliche Stimme: »Mama?«

»Ich bin hier.« Sofort tastete sie nach Emilies Hand, drückte sie. Es war noch immer stockdunkel. »Ich bin hier«, wiederholte sie, schmiegte sich an ihre Tochter und umfasste sie, hielt sie.

»Ich dachte für einen Moment, ich hätte all das nur geträumt.« Emmis Stimme klang dünn, ein Papier, kurz davor zu zerreißen.

»Es ist alles gut. Wir sind zusammen.« Sylke versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als sie war.

Emilie durchschaute sie sofort. »Nichts ist gut. Irgendjemand hält uns hier gefangen.«

Sylke drückte Emmi an sich. Sie war froh, dass ihre Tochter endlich wieder sprach. »Kennst du ihn?«, fragte sie schnell. »Ich glaube, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Ich erinnere mich nur nicht, wo.« Als Emilie nicht antwortete, musste Sylke schlucken. Bitte, lass sie nicht wieder schweigen, dachte sie.

»Ich ... ich ... bin mir nicht sicher.« Emilie flüsterte.

»Okay. Das macht nichts. Wir finden es heraus!« Sylke streichelte über Emilies Hand, dankbar dafür, dass ihre Tochter überhaupt etwas sagte. »Ich habe ihn schon mal gesehen, glaub ich, und du vielleicht auch«, sinnierte sie, »dann kommt er bestimmt aus deinem Umfeld. Schule, wahrscheinlich. Kann es ein Vater sein? Ein Lehrer?«

Diesmal wartete sie länger auf Emilies Antwort. Sie schien krampfhaft nachzudenken. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Ein Lehrer auf keinen Fall, die kenne ich alle mehr oder weniger. Ein Vater? Vielleicht. Ich hab ja nicht so viel Kontakt zu den anderen.«

Das war untertrieben. Emmi hatte keine Freundin, niemanden, mit dem sie sich nachmittags verabredete. Immer nur das Meer. Das Meer und die Bücher. Wie oft hatte Sylke versucht, Kontakte herzustellen, Emilie dazu zu bewegen, sich mit einer Klassenkameradin zu treffen. Aber Emmi wollte nicht. Absolut gar nicht. Ihre Tochter war ihr zu ähnlich. Inzwischen hatte Sylke längst aufgegeben. Emmi kam jetzt in die 7. Klasse, da konnte sie nicht mehr über ihre Freundinnen bestimmen. Oder Nicht-Freundinnen, wies sie sich selbst zurecht.

Sie verdrängte die Gedanken. »Emmi?« Vorsicht in ihrer Stimme.

»Hmm?«

»Wir waren getrennt. Kannst du mir sagen ...« Sie stockte, hatte selbst Angst vor der Antwort.

»Er hat mir nichts getan.« Emilie nuschelte in das Kissen.

Sylke schloss für einen Moment die Augen. »Wo ... wo hat er dich denn hingebracht?«

»Keine Ahnung.« Jetzt war Emilie besser zu verstehen, sie hatte den Kopf zu ihrer Mutter gedreht. »Ich bin in einem Raum aufgewacht. Auf einer Matratze.«

»Was für ein Raum?« Warum musste sie ihr bloß alles aus der Nase ziehen? Mühsam versuchte Sylke, ihre Ungeduld zu unterdrücken, sie nicht in ihre Stimme zu lassen.

»Es war ein kleines Zimmer, viel kleiner als dies hier. Ein Abstellraum, oder so was.« Endlich schienen Emilie die Wörter leichter über die Lippen zu kommen. Ermutigend drückte Sylke Emmis Hand. Die sprach auch gleich weiter: »Außer der Matratze passte nicht viel rein. Kein Fenster. Ich hab da gelegen, stundenlang. Und irgendwann kam er.«

Sylke hielt die Luft an. »Und dann?«, presste sie heraus, als Emilie nicht weiterredete.

»Er, er ...«

»Ja?« Sylke erstarrte innerlich, wappnete sich für die Antwort, hatte er versucht … »Bitte, Emmi, sag es mir.«

»Er hatte eine Waffe.« Emilie schoss die Wörter heraus, abgehackt.

Sylke stockte der Atem. »Er hat dich mit einer Waffe bedroht?«

Sie spürte Emilie nicken. »Es war eine Pistole, glaube ich, genau wie in den Krimis im Fernsehen. Er hat gesagt, dass ich tun soll, was er sagt, sonst ...«

»Oh Emmi!« Sylke drückte ihre Tochter fester an sich.

»Dann musste ich mir ein Tuch um die Augen binden. Er hat mich am Arm gepackt und wir sind hierhingelaufen.«

»Okay.« Sylke schloss erneut die Augen, versuchte, das Gehörte einzuordnen. »Wie weit war es von dem Raum hierher?«

Emilie zuckte mit den Schultern. »Nicht so weit. Ich bin ein paar Schritte gegangen, dann hat er mich angehalten. Er machte etwas, es hörte sich an, als würde er eine Tür aufschließen. Anschließend mussten wir eine Treppe runtergehen. Links war eine Wand. An der hatte ich meine Hand, um nicht zu fallen. Rechts hielt er mich fest.«

»Gut, Emmi. Dann sind wir, wie ich schon vermutet habe, wohl in einem Keller. Und wenn du oben in einem Raum warst, dann ist das hier bestimmt ein Haus. Ein Haus, in dem er mit einer Waffe ein Mädchen mit Augenbinde herumführen kann. Ein Einzelhaus.« Sylke hatte immer schneller geredet. Viel war das nicht, aber besser als nichts. Ein Mann, ein Haus, eine Waffe.

»Mama?« Emmis Stimme hörte sich auf einmal wieder dünn an.

»Ja?«

»Warum sind wir hier?«

Sylke atmete tief ein. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. Den Rest wollte sie nicht laut aussprechen: Der Grund, warum ein Mann allein in einem Haus zwei Frauen gefangen nahm. In einem Keller. Man musste kein Genie sein, um sich vorzustellen, was er im Schilde führte. Doch bisher hatte er ihnen noch nichts getan. Eine Schonfrist. Und in dem Moment fasste Sylke einen Entschluss. Sobald er kam, würde sie ihm einen Deal anbieten. Was immer er auch wollte, was immer er verlangte, sie würde sich dem nicht verschließen. Sie würde alles tun, wenn es sein musste, bis sie starb. Aber er musste ihre Tochter gehen lassen.

Sylke umfasste Emilie fester. »Schlaf noch ein bisschen«, flüsterte sie.

Emilie kuschelte sich enger an sie. Und Sylke hielt sie. Sie war froh, dass Emmi ihre Augen nicht sehen konnte, die weitaufgerissen in die Dunkelheit starrten.