Klippenfall

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3

Als Sylke in vollkommener Dunkelheit zu sich kam, brauchte ihr Gehirn nur Sekunden, um sich zu erinnern: Er hatte vor ihnen gestanden. Sie hatte ihn nur aus den Augenwinkeln gesehen, keine Zeit gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen, schon war ein schrecklicher Schmerz durch ihren Körper geschossen. Und dann diese Dunkelheit. Ein ähnliches undurchdringliches Schwarz wie dieses, das sie jetzt umgab. Sie hatte ihre Tochter nicht schützen können.

»Emmi?« Sylkes Stimme klang selbst in ihren Ohren zu dünn. Das lag nicht an ihren rasenden Kopfschmerzen oder an ihren Gliedern, die sich wie Pudding anfühlten. Nein. Die Angst nahm ihr die Kraft. Wo war Emmi? Obwohl die Dunkelheit sie umgab und sie selbst mit weit aufgerissenen Augen nichts erkennen konnte, spürte sie es: Emmi war nicht da.

»Emmi?« Lauter sagte sie es, flehend. Wenn sie sich doch täuschte und ihre Tochter neben ihr lag? Vorsichtig tastete Sylke nach links und rechts. Da war niemand. Sie lag weich. Nicht auf einem festen Boden aus Stein, Lehm oder Holz. Ihre linke Hand klopfte weiter den Untergrund ab, auf dem sie lag, und schlug dann ins Leere. Erschrocken hielt Sylke inne, ließ ihren Arm baumeln, horchte. Nichts. Dunkelheit und Stille.

Langsam stützte Sylke sich auf ihren rechten Arm. Sofort explodierten Sterne in ihrem Kopf. Mit fest aufeinandergepressten Lippen schob sie sich ein Stück nach oben, beugte sich nach links, drehte sich. Unter ihr quietschte es, ein altes Lattenrost auf Metall. Das Geräusch kannte sie, sie musste auf einem Bett liegen. Sie rollte sich zurück auf den Rücken, streckte beide Arme aus. Rechts stieß sie an eine Wand. Rau. Keine Tapete.

Sylke versuchte, ihr Gehirn in Gang zu bringen. War es gut oder schlecht, dass sie hier lag? Immerhin lebte sie. Und sie lag in einem Raum, nicht irgendwo am Strand oder in dem kleinen Waldstück. Er hatte sie hierhergeschleppt und auf ein Bett gelegt. Und sie war nicht gefesselt. Oder? Mit einer plötzlichen erneut aufkommenden Panik zog sie ihre Beine zu sich, stieß erleichtert die Luft zwischen den Zähnen aus. Sie konnte sich bewegen. Wenn es doch bloß nicht so verdammt dunkel wäre!

Sylke atmete tief ein und schwang dann die Beine über den Bettrand. Sofort wurde ihr schwindelig, stöhnend presste sie die Finger gegen die Stirn. Aber sie saß. Sie griff nach ihrer Hosentasche, aber natürlich hatte er ihr das Handy abgenommen. Ihre Füße berührten den Boden und langsam stand Sylke auf, ignorierte das Pochen hinter ihren Schläfen, befahl den Beinen vergeblich, mit dem Zittern aufzuhören. Vorsichtig streckte sie sich, hob die Arme in Zeitlupe nach oben, zuckte zurück. Ihre Fingerspitzen hatten die Decke gestreift. Niedrig war sie, zu niedrig für ein normales Zimmer. Sylke streckte die Arme nach vorne, tastete sich zur nächsten Wand, fuhr an ihr entlang.

Es dauerte lange, bis sie den ganzen Raum erkundet hatte. Mehrfach war sie gestolpert, gegen Dinge gestoßen. Sie hatte alles abgetastet, jeden Winkel erforscht. Zurück bis zu dem Bett. Sylke ließ sich darauf sinken, krallte sich mit beiden Händen an der Matratze fest.

Es war ein vollmöbliertes Zimmer mit einem Tisch und einem Stuhl. Sogar einen Sessel und ein Regal hatte sie erfühlt. Und in der Ecke schräg gegenüber zwei niedrig gemauerte Wände, die ihr bis zur Brust gereicht hatten. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, dass es ein kleinerer, abgeteilter Bereich sein musste, in dem sie dann eine Toilette und ein Waschbecken entdeckt hatte.

Und natürlich gab es eine Tür. Bei ihr hatte sie besonders viel Zeit verbracht. War immer wieder mit den Fingern daran entlanggefahren. Über das kalte, glatte Metall, über die Scharniere auf der einen Seite. Doch sie hatte keine Türklinke ertastet, nur eine kleine Schlossrosette. Es hatte gedauert, bis sie die volle Bedeutung dieser Tatsache erkannte und den Gedanken zulassen konnte: Ohne Schlüssel kam sie hier nicht heraus. Sie war eingesperrt. In einem fensterlosen Zimmer mit niedriger Decke.

Aber das Wichtigste hatte sie nicht gefunden. Nirgendwo.

»Emmi!« Das Wort kam schluchzend aus ihrem Mund. Eine Welle der Verzweiflung erfasste sie so stark, dass sie schwankte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wer sie gefangen hielt. Aber das Schlimmste war die Ungewissheit, was er mit ihrer Tochter gemacht hatte.

4

Sie war so schön. Die langen Beine in den kurzen Shorts. Das T-Shirt, das an ihrem verschwitzen Körper klebte. Man konnte darunter die kleinen Brüste sehen, die sich fest gegen den Stoff drückten. Und dann ihre langen blonden Haare, flatternd im Wind. Sie stand allein in der Ecke des Schulhofes und versuchte, teilnahmslos zu wirken. Heiß war es heute, sehr heiß für einen Tag im Juni, zum Glück wehte von der See eine starke Brise.

Er richtete sich auf, straffte seine Schultern. Wenn sie doch bloß einmal herübersah! Dann würde er ihr cool zunicken, lässig den Arm heben. Aber sie schaute nicht in seine Richtung. Er war Luft für sie.

Oh nein. Da kam sein Bruder. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie immer umringt von mindestens fünf Bewunderern. Sie lachten und machten Späße. Einer der Jungen kicherte übertrieben laut. Das schien seinem Bruder nicht zu gefallen. Er blieb stehen und boxte ihn in die Seite. Der Junge stolperte, vollführte eine fast absurde Drehung, fiel hin. Sein Bruder blickte abschätzig zu ihm hinab und ging weiter. Gut. Wenn er sich hier abreagierte, dann würde er von ihm zu Hause vielleicht heute nicht mehr so gepiesackt.

Nein, bitte nicht. Sie kamen direkt auf ihn zu. Hektisch sah er sich um. Wohin konnte er flüchten? War ein Lehrer in der Nähe? Schon stand sein Bruder vor ihm.

Er schluckte, hob den Kopf. Sein Bruder haute ihm mit seiner mächtigen Hand so auf die Schulter, dass er in die Knie ging. »Na, Wicht«, grinste er hämisch, »holst du dir wieder einen runter?« Sofort lachten alle Jungen los, umringten ihn. Zitternd stand er in der Mitte. Tränen krochen herauf, bahnten sich einen Weg zu den Augen. So ein Scheiß, bloß nicht weinen, alles, nur das nicht. Doch sein Bruder hatte das Glitzern schon bemerkt. »Heulsuse«, sagte er verächtlich. »Dich wird nie ein Mädchen angucken.« Dann drehte er sich um, sofort löste der Kreis sich auf und die anderen folgten. Wie kleine Welpen.

Erleichtert atmete er auf. Schnell wischte er sich die Tränen aus den Augen. Warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber. Hatte sie seine Erniedrigung beobachtet? Nein. Sie schaute auf einen Baum. Konzentriert. Still. Was sah sie dort? Angestrengt wanderte sein Blick durch die Äste. Und dann bemerkte er ihn ebenfalls, einen imposanten, großen Vogel, gut versteckt zwischen den Blättern. Seine gelben Krallen leuchteten, die braunen Federn waren mit weißen Tupfen gesprenkelt. Aufmerksam prüften seine runden Augen die Umgebung. Und mit einem Schrei erhob er sich plötzlich in die Lüfte, kreiste wie ein Herrscher über dem Schulhof und verschwand schließlich am blauen Himmel.

Wenn er doch bloß wie dieser Vogel wäre! So überlegen, so schön, so stark. Dann würde sein Bruder ihn nie mehr ärgern, nie mehr bloßstellen vor den anderen. Und sie würde ihn endlich bewundernd ansehen.

Er war so in Gedanken versunken, dass er den Schulgong nicht hörte. Erst als es mit einem Mal still um ihn war, durchfuhr ihn ein Schreck. Der Schulhof war leer. Er stolperte los. Wenn er die Tür zur Klasse öffnete, würden alle lachen und Herr Johan eine blöde Bemerkung machen. Einen Eintrag ins Klassenbuch gab es bestimmt auch noch. Mit gesenktem Kopf stand er eine Weile im Flur. Besser war es, abzuhauen. Er drehte auf dem Absatz um, stieß die schwere Schultür auf und rannte nach draußen. Er lief und lief und blieb nicht stehen, bis er den Strand erreichte. Keuchend setzte er sich in den Sand, ließ ihn durch die Finger gleiten. Wunderbar warm war der. Langsam zog er die Schuhe aus und vergrub seine Zehen. Die Sonne glitzerte auf den Wellen, sie schien auf ihn hinab. Ein Seufzer entfuhr ihm. Hier am Meer war alles gut. Jedenfalls für einen kleinen Moment.

5

Die Zeit verstrich, wurde zu einem langen Band, das sich ausdehnte und mit jedem Herzschlag länger wurde.

Nach einigen Minuten zurück auf dem Bett, in der ihr die Angst jegliche Luft zum Atmen genommen hatte, war sie erneut aufgestanden, um sich eine Vorstellung von dem Raum zu verschaffen, in dem sie eingesperrt war. Langsamer diesmal, gründlicher. Sylke war in alle Richtungen gegangen, hatte die Schritte gezählt und trotz der Dunkelheit war ein Bild in ihrem Kopf entstanden. Das Zimmer war zwar niedrig, doch relativ groß, um die fünfzehn Quadratmeter, schätzte sie. Von der Tür aus stand rechts an der Wand das Bett, links befand sich die kleine Abgrenzung zum »Bad«, dahinter Regal, Sessel und Tisch mit Stuhl.

Sylke hatte sich gereckt und jeden Zentimeter der Wände abgefahren. An der Decke hatte sie schließlich etwas gefunden, dass sich wie eine Neonröhre angefühlt hatte. Nur der Lichtschalter dazu fehlte.

Sie hatte auch den Boden abgetastet, war auf allen vieren gekrochen. Vor dem Sessel war der Untergrund nicht glatt und trocken, sondern flauschig. Dort lag ein Teppich, ein Flokati vielleicht.

Schließlich war sie zu dem Stuhl gerobbt, hatte sich auf ihn gesetzt und versucht, ihre flatternden Gedanken zu beruhigen, die aus der schwarzen Enge fliehen wollten. Auf keinen Fall durfte sie wehrlos auf dem Bett liegen, wenn er hereinkäme.

»Denk nach«, ermahnte sie sich. »Wer ist dieser Mann? Er kommt dir bekannt vor!« Sie ging alle Kunden durch, an die sie sich erinnern konnte. Ihre Freunde, Bekannte, Emmis Mitschüler aus der Inselschule und deren Eltern. Doch so sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, es gelang ihr nicht, sein Gesicht mit einer konkreten Person in Verbindung zu bringen. Frustriert schlug Sylke mit der Faust auf den Tisch. Sie hatte absolut keine Ahnung, wer sie gefangen hielt. Und warum. Und wo zur Hölle ihre Tochter war.

 

Langsam richtete sie sich auf, drehte den Kopf in alle Richtungen. Nirgends ein Spalt, durch den ein bisschen Licht schimmern würde. »Ich weiß nicht, ob du mich hörst«, sagte sie laut. »Ich möchte nur zu meiner Tochter. Bitte lass mich zu Emilie, dann mach ich alles, was du willst. Nur bitte, lass sie aus dem Spiel!«

Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, doch beim letzten Satz wurde sie brüchig. Sylke räusperte sich. Mit einem Mal war sie froh über die Dunkelheit, denn so konnte er wenigstens die Tränen nicht sehen, die über ihre Wangen liefen. Angespannt horchte Sylke in das Schwarz. Kam von draußen eine Antwort?

Sie wartete und wartete. Saß stocksteif und gerade auf dem Stuhl. Bewegte sich nur von Zeit zu Zeit, wenn eines ihrer Beine einzuschlafen drohte. Doch irgendwann überkam sie trotz der schrecklichen Angst eine tiefe Müdigkeit. Ihr Kopf sackte auf die Brust. Anfangs wurde sie davon wach, richtete sich immer wieder auf, schließlich versank sie für ein paar Stunden in einer Welt zwischen Wachsein und Traum. Darin zogen dunkle Schatten an ihr vorbei, die an ihr zerrten.

Sie zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich hell wurde. Das grelle Licht brandete über sie wie eine Flutwelle. Reflexartig kniff sie die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, sie begannen sofort zu tränen. Vorsichtig versuchte Sylke sie wieder zu öffnen. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Die Neonröhre an der Decke tauchte den Raum in ein gnadenlos hellweißes Licht.

Jemand hatte auf den Schalter gedrückt. Jemand außerhalb ihres Gefängnisses.

6

Ratlos stand Levke vor Sylkes Laden. Fehmarn und Meer prangte auf einem großen blauen Schild über der Tür, die Schaufensterscheiben reflektierten die Mittagssonne. Sylkes Geschäft befand sich im Zentrum von Burg, ein Stück hinter dem Rathaus am Kaufhaus Scholz vorbei die Straße hinunter, in der Nähe des Filmtheaters Fehmarn. Wie oft hatten sie früher, als Sylke noch nicht so beschäftigt war, in dem gemütlichen Kino spannende Filmabende verbracht. Levke liebte das urige Ambiente, denn jeder Platz im Saal war mit einem kleinen Tisch und einem Lämpchen ausgestattet.

Auf der Straße herrschte reges Treiben, vor allem Touristen flanierten gutgelaunt durch die Stadt. Doch in dem Laden, dessen Türglocke in der Hauptsaison fast unermüdlich klingelte, war niemand. Stirnrunzelnd drückte Levke die Klinke herunter, rüttelte daran, doch die Tür öffnete sich nicht.

»Sylke?«

Was, verdammt, war mit ihrer Freundin los? Sie hatte gestern lange auf Sylke und Emmi gewartet und war letztendlich verwundert von Katharinenhof nach Landkirchen gefahren, wo sie sich in einer kleinen, gemütlichen Einliegerwohnung ihr eigenes Reich geschaffen hatte. Mehrfach hatte sie versucht, Sylke auf dem Handy zu erreichen. »Es gibt bestimmt eine ganz plausible Erklärung«, hatte sie sich eingeredet, als sie schließlich nach Mitternacht todmüde ins Bett gefallen war. Sie musste am nächsten Tag wieder früh raus. Der Bäcker, bei dem sie in Burg arbeitete, öffnete wochentags um sieben, Sylkes Laden hingegen erst um zehn Uhr.

Den ganzen Vormittag hatte sie an Sylke gedacht und sich sofort in der Mittagspause auf den Weg zu dem Laden gemacht, der nur wenige Hundert Meter von der Bäckerei entfernt lag. In ihren Gedanken sah sie Sylke lachend in der Tür stehen. »Wir haben doch bloß die Zeit vergessen, das kennst du doch!« Sie hörte die Stimme ihrer Freundin so nah an ihrem Ohr, dass sie erschrak, als der Laden in ihr Blickfeld kam und dieser verlassen dalag.

Das war noch nie vorgekommen. Selbst als Sylke vor einem Jahr eine schwere Grippe bekommen hatte. Mit Fieber hatte sie hinter dem Tresen gestanden und ihre Mattheit weggelächelt. Im Weglächeln war sie gut.

Levke schaute auf ihre Uhr, sie hatte nur noch fünfundzwanzig Minuten. Ein letztes Mal klopfte sie energisch gegen die Scheibe, jedoch mehr aus Pflichtbewusstsein. Sylke war nicht da, sie ging nicht an ihr Handy. Und Emmi ...

Levke schlug sich gegen die Stirn. Natürlich, Emmi! Sie musste doch in der Schule sein. Da war Sylke streng, da kannte sie keine Gnade. Die Inselschule lag mitten in Burg, wenn sie schnell ging, konnte sie in weniger als fünf Minuten dort sein. Sie wollte gerade loslaufen, als sie innehielt. Mist, es waren doch Ferien! Das vergaß sie manchmal, da sie keine Kinder hatte.

Seufzend fuhr sich Levke über die Stirn. Sie hatte um vier Feierabend. Dann würde sie noch einmal zum Laden gehen. Bestimmt war das alles nur ein großes Missverständnis, sicher hatte Sylke irgendetwas gesagt, das ihr entgangen war.

Levke nickte energisch. So musste es sein. Sie ging mit festen Schritten, einem Lächeln auf dem Gesicht, tat alles, um sich selbst zu überzeugen. Um zu verhindern, dass sich die Angst in ihrem Inneren weiter ausbreitete wie ein Geschwür. Nein, verdammt noch mal, sie wollte nicht darüber nachdenken, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

7

Langsam gewöhnten sich Sylkes Augen an die Helligkeit. Sie schaute sich um, eilig, wer wusste schon, wann das Licht wieder ausging. Sie hatte gründliche Arbeit geleistet, das Bild in ihrem Kopf stimmte. Nur wurde es jetzt mit Farben gefüllt: Der Sessel war aus einem tiefen Bordeauxrot und sah ein wenig so aus, als könnte eine Oma gut in ihm vorlesen. Das Regal war groß und dunkel und mit allerhand Büchern und Spielen bestückt. Auf dem Bett lag eine bezogene Bettdecke. Die hatte sie gar nicht wahrgenommen.

Und in einem weiteren Punkt hatte sie Recht gehabt: Es gab kein Fenster. Die Decken waren niedrig. Die Tür bestand aus massivem, glänzendem Metall. Keine Klinke. Kein Entkommen.

Sylkes Müdigkeit war schlagartig verschwunden, stattdessen breitete sich die Angst erneut in ihr aus. Sie zwang sich, den Blick abermals durch den Raum wandern zu lassen. Gab es irgendwo eine Kamera? Beobachtete sie jemand? Doch so sehr sie sich anstrengte, sie konnte nichts entdecken.

Vorsichtig stand sie auf. Ihr Rücken schmerzte und knackte, als sie sich kurz streckte, ihre Beine fühlten sich wackelig an. Sie ging auf das Regal zu und betrachtete es eingehend. War dort irgendwo eine Kamera versteckt?

Ihre Finger fuhren über die vielen Bücher, zogen nacheinander einige heraus, schlugen sie auf. Warrior Cats, verschiedene Bände. War das nicht eine Reihe, die schon länger bei Jugendlichen beliebt war? Sie meinte, sich zu erinnern, dass Emmi einmal davon erzählt hatte.

Als ihre Augen über die Bücher eine Regalreihe darunter wanderten, begann ihre Hand zu zittern. Astrid Lindgren: Mio, mein Mio. Die Brüder Löwenherz. Ronja Räubertochter, das sie Emmi im vergangenen Winter vorgelesen hatte. In der Ferienzeit hatte sie noch nie Urlaub nehmen und den Laden schließen können, denn da war auf der Insel natürlich am meisten los; für eine Aushilfe war der Umsatz nicht groß genug. Der reichte zwar, aber nur, wenn sie allein dort schuftete. Doch in den kalten Monaten war immer weniger Trubel als im Frühjahr und Sommer. Da hatte sie mehr Zeit für Emmi, und die hatte sie angebettelt, ihr das Buch vorlesen. Eigentlich fand sie, dass Emmi schon zu groß dafür sei und Bücher selbst lesen konnte und sollte. Doch ihre Tochter hatte nicht lockergelassen, und so hatten sie an den langen Winterabenden zusammen auf dem Sofa gesessen und waren in Gedanken mit Ronja und Birk durch den Wald gezogen.

Mit einem Mal war dieser Geruch in ihrer Nase: Emilies Haar, direkt auf ihrer Schulter. Wenn sie sich nur ein klein wenig drehte, versank ihre Nase darin – in dem blonden Haar, das über sie floss wie ein sich wogendes Weizenfeld im Sonnenschein und genauso duftete. Nach frischem Brot. Nach Sommer. Nach Leben.

Sylke schluckte. Behutsam nahm sie das Buch in die Hand, streichelte darüber. Dann drückte sie es fest gegen ihre Brust. Konnte jemand, der Lindgren-Bücher besaß, böse sein? Das war schier unmöglich, oder?

Regungslos stand sie dort. Doch der Griff um das Buch wurde härter, so hart, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihr Blick war auf das gegenüberliegende Bett gerichtet. Auf die Decke, die ihr zuerst nicht aufgefallen war. Rosa war die. Kleine grüne Feen mit Zauberstäben in den Händen flogen darauf umher.

Langsam drehte sie sich zurück zu dem Regal. Mehrere Bände von den Fünf Freunden und von TKKG standen dort ebenfalls. Sie sahen im Gegensatz zu den anderen Exemplaren alt und abgegriffen aus. Daneben ein Mikado-Spiel, ein weißer Block, Filzstifte.

Plötzlich war Sylke so schwindelig, dass sie sich auf den Teppich sinken ließ. Das Zimmer drehte sich. Sie atmete tief ein und aus, stützte sich auf dem Boden ab. Dieser Raum war ein Gefängnis, das nicht für sie errichtet worden war.

»Emilie!« Das Wort entfuhr ihr mit geballter Wucht, sie schrie es hinaus mit ihrer Angst. Wo zur Hölle war sie? Und warum war sie statt ihrer Tochter hier, in diesem verfluchten Kellerraum, der eindeutig nicht für sie bestimmt war?

Mit den Fingern trommelte sie gegen ihre Stirn, dann mit der Faust, immer heftiger. »Denk nach! Denk, verdammt noch mal, nach! Wer ist dieser Typ und wo könnte Emmi sein?«

Doch ihr Kopf war leer, nur die Angst pulsierte hindurch, verdrängte alles andere. Und mit einem Mal wünschte sich Sylke die gnädige Schwärze zurück.

8

Die Erschütterung darüber, dass sie den Laden immer noch geschlossen vorfand, ließ Levke erstarren. Auf dem Weg von der Bäckerei die Straße hinunter hatte sie sich vorgestellt, dass die Tür inzwischen offen stand und sie Sylke ordentlich die Leviten lesen würde. Wie hatte sie ihr nur solche Angst einjagen können!

Doch niemand stand lachend in der Tür, keine Sylke weit und breit, die sie beruhigte. Levke presste die Lippen aufeinander, schüttelte sich und lief dann die Straße zurück, vorbei am Rathaus, an den flanierenden Menschen auf dem Marktplatz weiter Richtung Pfannkuchenhaus. Das befand sich fast gegenüber der Burger Polizeistation, auf die Levke mit immer eiligeren Schritten zusteuerte.

Vollkommen atemlos blieb sie vor dem verschlossenen Eingang stehen und drückte gleich mehrmals hintereinander auf die kleine Klingel, bis ein Summen ertönte. Erleichtert stieß Levke die Tür auf. Links entdeckte sie einen kleinen Schalter mit einer runden Öffnung im Fenster, doch dort saß niemand. Deshalb stürmte sie gleich weiter zu einem Durchgang. In dem Raum dahinter standen zwei Schreibtische Rücken an Rücken, an denen sich ein älterer und ein jüngerer Polizist gegenübersaßen, beide in Uniform. Über dem Gürtel des älteren spannte sich ein beachtlicher Bauch. Er sah auf, als Levke hereintrat und betrachtete sie aus gutmütigen, lebhaften Augen. Der jüngere, schlank, mit einem ordentlich gekämmten Seitenscheitel und Brille, las etwas am Computer und nahm kaum Notiz von ihr.

Der Ältere rollte mit seinem Stuhl näher heran und musterte die verschwitzte Levke. »Goden Dach oog«, sagte er. »Is alles in Ordnung?«

»Nein!« Levke schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Locken in alle Richtungen flogen. »Nichts ist in Ordnung. Meine Freundin ist verschwunden. Und ihre Tochter.«

Jetzt schaute auch der Jüngere auf, Interesse in seinem Blick.

»Verschwunden?« Furchen legten sich auf die Stirn des Älteren. Er deutete auf einen Stuhl, der vor den zusammengestellten Schreibtischen stand. Levke war allerdings zu aufgeregt, um sich zu setzen. Unruhig lief sie durch den Raum. »Wir waren gestern verabredet«, sprudelte sie los, »aber die beiden waren nicht zu Hause. Sie sind auch nicht zurückgekommen. Und jetzt ist Sylkes Laden zu, Sie kennen ihn bestimmt, Fehmarn und Meer.«

»Klaar.« Der Polizist nickte. »Wer kennt den nicht?« Er zog ein Blatt Papier zu sich heran. »Jetzt noch mal von vorne. Wie heißen die beiden und was genau ist passiert?«

Er machte sich Notizen, während Levke erzählte. Als sie geendet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an. Es war allerdings der Junge, der sprach, sein Blick betont gelangweilt: »Die kommen sicher bald wieder.«

»Was?« Levke traute ihren Ohren kaum. »Haben Sie mir nicht zugehört?«

»Doch, habe ich.« Der junge Polizist war aufgestanden und kam lässig herübergeschlendert. Levke sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

 

»Ich fasse mal zusammen«, fuhr er fort. »Eine Mutter und ihre Tochter sind seit einem Tag nicht da. Es sind Schulferien, die Mutter ist überarbeitet. Vermutlich«, er schnaubte, »haben sie sich einfach entschlossen, mal Urlaub zu machen.«

Levkes Fingernägel gruben sich in ihre Hand. Sie beschloss, den Jüngeren zu ignorieren, und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Älteren. »Ich bin ihre beste Freundin. Sie hätte mir gesagt, dass sie verreisen würde.« Sie sprach mit eindringlicher Stimme. »Und sie würde nie ihren Laden einfach so schließen, mitten in der Hauptsaison. Ohne ein Wort an ihre Kunden, wann sie wieder da ist. Niemals.«

Der Polizist wiegte den Kopf. »Trotz allem kann sie sich spontan entschlossen haben. Das passiert immer wieder. Nachts geht es ihr nicht gut, und sie überlegt sich, am nächsten Tag endlich einmal die lang ersehnte Auszeit zu nehmen. Und dann ist ihr Akku im Handy leer und Frau Harmsen kann Sie nicht erreichen. Haben Sie schon mal mit ihren Eltern gesprochen? Vielleicht hat sie sich bei denen gemeldet.«

»Ihre Eltern sind tot. Sie ist nicht verheiratet. Ich bin ihre engste Bezugsperson.«

Der Jüngere grinste. »Hört sich so an, als könnte sie ’n bisschen Spaß gebrauchen. Kein Wunder, dass sie abgehauen ist.«

Fassungslos rang Levke nach Worten. Was erlaubte sich dieser Grünschnabel? Auch sein Kollege zog die Augenbrauen zusammen. »Nu hol dien Snuut!«, fuhr er ihn an.

»Sie hat eine Tochter, verdammt noch mal«, fauchte Levke, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Sylke und Emmi verschwinden nicht einfach so. Ihnen ist etwas zugestoßen, das ist klar.«

»Ach, und was? Eine Entführung von zwei Frauen gleichzeitig?« Die Stimme des jungen Polizisten klang inzwischen genervt. »So was passiert auf Fehmarn nicht.« Fast sah es so aus, als wollte er noch »leider« hinzufügen, doch er schwieg.

»Ach nein?« Levke reckte ihr Kinn nach oben. »Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Junge entführt, erinnern Sie sich nicht? Das war eine ganz unheimliche Geschichte.« Sie trat einen Schritt nach vorne. »Eine Geschichte, die, wenn ich mich recht erinnere, nicht die Polizei aufgeklärt hat. Sondern ein junges Mädchen, das nach ihrem verschollenen Bruder gesucht hat. Der auch hier auf Fehmarn verschwunden war.«

Der ältere Polizist war aufgestanden, stand nun zwischen Levke und seinem Kollegen. »Jümmers langsam mit den jungen Peer.« Er bedeutete dem Jungen, sich zu setzen, was dieser widerwillig tat. »Eine schreckliche Sache war das«, sagte er dann und strich sich über das Gesicht. »Ich erinnere mich natürlich. Allerdings«, er sah Levke gutmütig an, »nicht zu vergleichen mit dieser hier. Es ist was ganz anderes, ob ein kleines Kind verschwindet oder ob eine Mutter mit ihrer Tochter für ein paar Stunden nicht zu erreichen ist.« Er hob beschwichtigend die Hand, als Levke erneut Einspruch erheben wollte. »Wissen Sie was«, sagte er, »wir fahren gleich einmal bei Frau Harmsen vorbei und schauen, ob wir an ihrem Haus etwas Verdächtiges feststellen. Und Sie melden sich wieder, wenn die beiden in den nächsten Tagen auch nicht auftauchen, in Ordnung?«

»Nein.« Levke wusste, dass sie trotzig klang, aber die Angst legte sich erneut um ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer. Wenn die Polizei nichts tat, wer sollte dann den beiden helfen?

In dem Moment klingelte das Telefon und der Ältere nahm ab. Er sprach leise und schnell und wandte Levke den Rücken zu. Auch der Jüngere würdigte Levke keines Blickes mehr. Ein paar Minuten stand sie zitternd am Tresen. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und lief nach draußen.

»Emmi, Sylke, ich lass euch nicht im Stich«, murmelte sie, während sie zum Parkplatz der Inselschule eilte, auf dem sie morgens vor Arbeitsbeginn ihren kleinen Fiat abgestellt hatte. »Egal wo ihr seid, ich werde euch finden.«

Obwohl ihr niemand zuhörte, legte sie alle Zuversicht in ihre Stimme, die sie aufbringen konnte. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, in ihrem Gedächtnis kramte: Sie hatte absolut keinen Anhaltspunkt, was mit Sylke und Emmi passiert sein könnte und wo sie jetzt waren.

Wie in Gottes Namen sollte sie die beiden jemals finden?