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1988 - Marlies

Ach, wie toll war das denn! Sie konnte es noch immer kaum glauben.

Ihr Chef hatte ihr gerade angeboten sich für eine freie Stelle in der Filiale New York zu bewerben, die genau ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Er hatte ihr augenzwinkernd signalisiert, dass ihre Chancen nahezu bei neunzig Prozent ständen, dass sie den Job wohl bekommen würde, sollte sie sich entschließen ihren Hut in den Ring zu werfen. Die Stelle war wie für sie gemacht. Die meisten ihrer potentiellen neuen Kollegen kannte sie auch schon von ihren täglichen Telefonaten mit derjenigen Abteilung, in der sie als Kundenbetreuerin für deutschstämmige globale Firmenkunden einsteigen würde.

Endlich würden sich ihr anstrengendes Studium und die letzten Jahre extremer Arbeitsbelastung in der Röber Bank wirklich bezahlt machen. Was für eine Karriere: Von Haselünne nach New York! Alles aus eigener Kraft. Das war schon etwas Besonderes. Marlies musste lachen; wer hätte das gedacht, damals, als sie als verstoßener Bastard eines unzüchtigen Mädchens jahrelang um Anerkennung ringen musste.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie sah die Skyline von New York vor ihrem geistigen Auge und sich selbst mitten darin, wie sie eilig die Fifth Avenue entlang lief in ihrem neuen dunkelblauen Kostüm, der weißen Bluse und den hochhackigen Schuhen, deren Beherrschung sie durch viel Übung perfektioniert haben würde. Sie malte sich Geschäftstermine aus, in denen sie ihre Gesprächspartner mit einem einwandfreien, fast akzentfreien Englisch von ihrem Angebot überzeugte und dann den Deal mit einem festen Händedruck zum Abschluss brachte.

Beschwingt ging sie zurück an ihren Schreibtisch. Auf einmal sah der Stapel von unerledigten Vorgängen darauf nicht mehr so bedrohlich aus. Sie konnte sich allerdings in diesem Moment überhaupt nicht auf die Arbeit konzentrieren, sah sich außerstande auch nur eine der Mappen in die Hand zu nehmen. Sie starrte auf die Vielzahl der gelben Zettel, die an den Trennwänden um ihren Arbeitsplatz herum angeheftet waren, ohne auch nur ein Wort zu lesen. Zumindest gab sie ihren ahnungslosen Kollegen den Anschein, als würde sie gerade überlegen, was als nächstes zu tun sei.

Das Wichtigste war nun, ihren Freund Klaus davon zu überzeugen, mit ihr in den Big Apple zu ziehen. Allein wollte sie das große Abenteuer lieber nicht wagen. Außerdem waren sie seit fast zehn Jahren ein Paar und waren bisher gemeinsam unschlagbar gewesen. Er war ihr zuliebe sogar mit nach Frankfurt gezogen, obwohl er eingeschworener Westfale und konservativer Beamtensohn war. Eigentlich hatte er seine Heimat nie verlassen wollen, aber nun war er glücklich in Hessen.

Sie hatte Klaus als Studentin in Münster kennengelernt, als sie ihm auf der Promenade ins Fahrrad gelaufen war, weil sie auf dem Weg zur Klausur ihre tags zuvor gemachten Spickzettel zum letzten Mal durchlas, um sich den Inhalt einzutrichtern. Er hatte versucht auszuweichen, aber vier nebeneinander fahrende Radfahrer im Gegenverkehr ließen das nicht zu. Wären diese nur zehn Sekunden später an der besagten Stelle angekommen, wäre sie Klaus nie begegnet, denn er hätte sie wahrscheinlich geschickt umkurvt. So waren sie zur Kommunikation gezwungen; es hatte gleich gefunkt. Er zeigte großes Verständnis für ihre Zerstreutheit und bot ihr an sie auf dem Gepäckträger zur Uni zu bringen, damit sie dort gefahrlos ihre Klausurvorbereitungen abschließen konnte.

Danach hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht, sie hatte ihre Klausur geschrieben und trotz der ständig zu ihm wandernder Gedanken sogar ordentlich bestanden. Klaus war angehender Lehrer und bereits im Referendariat, damit ein viel beschäftigter Mann. Dennoch rief er bereits nach zwei Tagen an und sie verabredeten sich für den gleichen Abend im Kleinen Kiepenkerl auf eine Altbierbowle. Seither waren sie zusammen, ein ungleiches Paar, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.

Die beiden hatten schon beim ersten Treffen stundenlang geredet, ohne Anstrengung und künstliche Pausen. Marlies hatte sich gleich sicher gefühlt in seiner Gegenwart, gut aufgehoben und geborgen. Er wusste so genau, was er vom Leben erwartete und wie er seine Ziele zu erreichen gedachte. Er hatte bereits seinen Traumberuf gefunden und gab ihr mit leuchtenden Augen zu verstehen, dass er heute vielleicht sogar seiner Traumfrau begegnet war.

Marlies imponierte seine Selbstsicherheit, von der sie noch weit entfernt war. Sie hatte BWL studiert, weil ihr nichts Besseres eingefallen war und es Raum ließ für die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten später im Beruf. Das Hauptfach Bankbetriebslehre wählte sie, da die Vorlesungen und Seminare nicht so überfüllt waren und sie sich dort nicht so verloren vorkam. Das Interesse am Thema kam erst im Laufe der Zeit. Getreu dem alten Motto: „Appetit kommt beim Essen.“ Das hatte die Mutter ihr als Kind schon immer eingebläut, wenn sie lustlos auf ihren Teller geschaut hatte.

Jetzt war sie glücklich über ihre Entscheidung. Auch sie hatte ihren Platz in der Welt der aufstrebenden Karrieristen gefunden, wenngleich es etwas länger gedauert hatte. Zumindest hatte sie Durchhaltevermögen bewiesen und die Fähigkeit, sich in komplexe neue Sachverhalte einzuarbeiten. Daher hatte sie auch keine Angst mehr vor neuen Herausforderungen, eher einen stillen Hunger, ihre Grenzen auszuloten.

Marlies war der Weg zum Studium nicht schon in der Wiege vorgezeichnet worden. Sie hatte sich alles hart erarbeiten müssen. Ihre Mutter war unverheiratet und alleinerziehend, denn Marlieses Erzeuger hatte sich nach Bekanntwerden der Schwangerschaft schleunigst aus dem Staub gemacht. Da war ihre Mutter erst achtzehn Jahre alt gewesen, fast noch ein Kind und sehr naiv. Ende der fünfziger Jahre waren die moralischen Maßstäbe jedoch unerbittlich und die Schande riesengroß.

Die junge Frau hatte sich Hals über Kopf in einen verheirateten Handelsvertreter verliebt, der regelmäßig bei ihnen zuhause einkehrte, um dem Herrn des Hauses, Marlieses Großvater, die neue Hutmode nahezubringen. Der über Land fahrende Verkäufer war zuvorkommend und redegewandt, machte gern Komplimente an alle Frauen, sehr wohl wissend, dass im Regelfall sie diejenigen waren, die letztendlich die Kaufentscheidung fällten. Eines Tages war Marlieses Mutter allein zuhause gewesen, denn ihre Eltern waren nach Holland ans Meer gefahren. Sie machte den Fehler, den smarten Charmeur ins Haus zu lassen, der sie mit geübter Finesse bezirzte und noch am gleichen Abend an seiner Liebeskunst teilhaben ließ.

Ihre kurze Glückseligkeit war nicht ohne Folgen geblieben, und Marlieses Mutter hatte für ihre Unbedarftheit schwer büßen müssen. Die Eltern schämten sich ihrer, zumal der Kindsvater nicht als Ehemann zur Verfügung stand. Es dauerte Jahre, bis der Tratsch um die „verdorbene“ junge Frau und ihren kleinen Bastard verebbte. In der Kleinstadt Haselünne im Emsland passierte eben nicht viel, da hielt man sich auch schon mal längere Zeit an einem Thema auf, besonders wenn es etwas schlüpfrig war und von einem großen Geheimnis umgeben. Marlieses Mutter hatte außer ihren Eltern niemandem je den Namen des Verführers preisgegeben, der sich mit einer einmaligen Zahlung von eintausend D-Mark das Schweigen der Familie erkaufte und nie mehr blicken ließ.

Marlies war trotz des schwierigen Starts in ihr Leben nicht ohne Liebe aufgewachsen. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großeltern konnten sich weder ihrer Unbekümmertheit noch ihrem starken Willen entziehen. Sie lernte schnell die Erwachsenen für sich zu gewinnen, sie ein wenig zu manipulieren und, sobald es opportun erschien, gegeneinander auszuspielen. Die Eloquenz hatte sie definitiv von ihrem Vater geerbt. So hatte sie während ihrer Kindheit und Jugend drei liebende Personen um sich gehabt, die ihr das notwendige Urvertrauen gaben, wenn sie auch schon mal ein größeres Risiko einging.

Ihr unglückliches, folgenschweres Liebesabenteuer hatte Marlieses Mutter für die Männerwelt unerreichbar gemacht. Sie hatte ihre Lektion mehr als gründlich gelernt. Sie konzentrierte sich zunächst auf ihre Ausbildung zur Sekretärin, lernte Stenografie und Schreibmaschine und arbeitete seit vielen Jahren in der lokalen Allgemeinen Ortskrankenkasse. Einen festen Partner hatte sie nie mehr in ihr Bett gelassen. Sie lebte weiterhin im Haus ihrer Eltern in einer kleinen ausgebauten Einliegerwohnung. Auf diese Weise hatte sie das notwendige Geld sparen können, um ihre auffallend intelligente Tochter auf das Ursulinen-Gymnasium zu schicken.

Marlies war von Beginn an eine sehr gute Schülerin, obwohl es ihr die Klassenkameradinnen und der Lehrkörper nicht leichtmachten. In den ersten Jahren wurde sie aufgrund ihrer bescheidenen Herkunft und des „unmoralischen“ Eintritts in diese Welt oft verhöhnt oder von Gemeinschaftsaktivitäten ausgeschlossen. Auch die Nonnen, die die Klosterschule leiteten und große Teile des Unterrichts bestritten, ließen sie spüren, dass sie eine große Schande in sich trug, die sie durch nichts auslöschen konnte, auch nicht durch wohlfeiles Verhalten. Also beschloss Marlies, es mit dem Gegenteil zu probieren und alle ihr entgegengeschleuderten Vorurteile zu bestätigen. Sie gebärdete sich aufsässig und besserwisserisch, brachte auch schon mal ein Lexikon von zuhause mit, um zu beweisen, dass sie Recht hatte. Zudem scheute sie sich nicht vor körperlichen Auseinandersetzungen, wenn es ihr notwendig erschien. Irgendwann waren es die anderen Schülerinnen leid, auf ihr herumzuhacken und sie bekam nach und nach den ihr gebührenden Respekt.

Eine einzige Freundin hatte sie während der gesamten ersten sechs Jahre auf dem Mädchengymnasium an ihrer Seite gehabt. Auf sie konnte sie sich noch heute ohne Wenn und Aber verlassen. Iris war eine Außenseiterin gewesen, so wie sie. Auch sie kam aus schwierigen Verhältnissen und musste sich gegen Klassenkameradinnen und Nonnen durchboxen. Da tat es gut, dass sie zu zweit waren.

 

Nicht völlig unerwartet reagierte Klaus anders als Marlies es sich gewünscht hätte. Er war von der Idee New York wenig begeistert.

„Was soll ich denn da machen? Ich sitze dann den ganzen Tag zuhause und warte darauf, dass meine liebe Frau am Abend heimkommt. Außerdem ist mir Frankfurt wirklich schon groß genug.“

„Du kannst dort sicher auch eine sinnvolle Beschäftigung finden. Lehrer werden immer und überall gebraucht und sei es für Nachhilfe. Manhattan ist übrigens gar nicht so groß und sehr übersichtlich angeordnet. Da findest du dich ganz schnell zurecht.“

„Ich fühle mich wohl an meiner Schule und die Schüler mögen mich. Und ich mag meine Klasse, endlich mal interessierte und intelligente Kinder, die was lernen wollen. Das gebe ich nur ungern auf.“ Klaus räusperte sich hörbar und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen.

Marlies bemerkte, wie erregt er innerlich war. Sie sah es an seinem zackigen Gang und den hochgezogenen Schultern. Auch sie ließ die Diskussion nicht kalt. Auf keinen Fall wollte sie ihren Traum aus den Händen gleiten lassen. Missmutig ließ er sich auf das Sofa plumpsen. Er trank die Flasche fast in einem Zug leer und schaute an ihr vorbei aus dem Fenster.

„Denk doch mal daran, wie spannend es ist. Ein neues Land, eine völlig andere Kultur und die vielen Leute, die man kennenlernt. Hier sind wir doch schon fest eingefahren. Immer die gleichen Gesichter, auf der Arbeit, an den Wochenenden, bei den Geburtsfeiern und so weiter und so fort.“, wagte sie einen neuen Anlauf.

„Ich liebe meine Freunde. Und ja, ich möchte ihre Gesichter regelmäßig sehen. Ich fühle mich wohl in unseren angestammten Kreisen. Wieso irgendwo anders ein Unbekannter sein, lästigen Smalltalk machen und mit allem wieder von vorn anfangen? Das ist mir zu anstrengend.“; gab er patzig zurück.

Marlies sah ihre Felle schwimmen. Er war wirklich ein harter Knochen. Stets fokussierte er sich erst einmal auf die Nachteile, bevor er über Chancen nachdachte. So war es auch gewesen, als sie nach Frankfurt gezogen waren, und jetzt fühlte er sich hier so wohl. Sie erinnerte ihn daran.

„Du wolltest damals auch nicht hierherkommen. Und sieh, es ist doch gut gelaufen. Man kann eine Sache aus mehreren Winkeln betrachten, wenn man das nur will.“ Sie konnte einen leichten vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme nicht vermeiden.

Klaus ging nicht weiter auf ihr Argument ein, sondern setzte zum nächsten Gegenschlag an, einem Punkt, der in den vergangenen Monaten bereits mehrmals ein heißes Eisen in ihren Auseinandersetzungen gewesen war.

„Was ist eigentlich aus unserer Familienplanung geworden. Du bist jetzt dreißig. Ist es nicht langsam mal an der Zeit, das Thema Kinder anzugehen? Ich verdiene genug, dass wir es uns leisten könnten, ein Häuschen im Grünen anzumieten und mit der Rasselbande loszulegen.“

Marlies hatte befürchtet, dass er die Diskussion in diese Richtung lenken würde. Sie war noch völlig mit sich selbst im Unreinen, was ihre Position zur Kinderfrage war. Selbstverständlich hatte sie ihm zugestimmt, als er ihr von seinem unbedingten Kinderwunsch erzählt hatte, schon ganz am Anfang ihrer Beziehung. Damals, als junge Studentin, war das Ganze für sie noch so weit weg gewesen, dass sie nicht wirklich eine dezidierte Meinung hatte. Gehörten Kinder nicht irgendwie automatisch zu einer langfristigen Partnerschaft? Aber zu dieser Zeit hatte sie sich auch nicht vorstellen können, dass es ihr so viel Spaß machen würde, arbeiten zu gehen und eigenes Geld zu haben.

Mehr als sie es sich je erträumt hatte genoss sie es, nicht über jede Ausgabe dreimal nachdenken zu müssen. Sie verdiente als Bankerin im Kundenbereich ein tolles Gehalt, von dem sie auch zu zweit leben könnten, ohne sich einschränken zu müssen. In der Zwischenzeit brachte sie sogar mehr Geld nach Hause als Klaus, ein Umstand, der ihm schwer zu schaffen machte. Sein männliches Ego war schon ein bisschen angekratzt gewesen, als sie die letzte Gehaltserhöhung bekommen hatte und ihn fortan beim Einkommen überflügelte.

Für Klaus war es auch absolut klar, dass Marlies als Mutter zuhause bliebe, wenn sie Kinder hätten. Er würde sicherlich seinen Beitrag zur Hausarbeit leisten, so dass Marlies sich irgendeinem Hobby würde widmen können, aber er wollte auf keinen Fall, dass eine fremde Person den Nachwuchs in der Hauptsache betreute. An Berufstätigkeit würde sie erst wieder denken können, wenn die kleinen Bengel aus dem Gröbsten raus wären, vorher war ihre Anwesenheit zuhause unabdingbar. Marlies hatte einmal leise anklingen lassen, dass vielleicht auch er die Vollzeit-Elternrolle übernehmen könnte und war auf große Empörung gestoßen. Das kam für ihn nicht in Frage. Er brauchte seinen Beruf und die Kinder ihre Mutter. Basta!

Das Thema war also äußerst heikel und würde sich an diesem Abend nicht lösen lassen. Marlies machte noch mehrere zaghafte Versuche, Klaus das Leben in der Weltstadt New York schmackhaft zu machen, aber er ließ sich nicht erweichen. Er versprach ihr jedoch, in den nächsten Tagen ernsthaft und ergebnisoffen darüber nachzudenken. Dann erlag er gern ihren beschwichtigenden, körperlichen Annäherungsversuchen und schlief zufrieden ein.

Sie lag noch lange wach und fragte sich, was die Zukunft wohl für sie parat hielt.

1988 - Iris

Der Tag war lang gewesen. Heute hatte sie fast zwei volle Schichten gearbeitet. Eine Kollegin war angeblich plötzlich krank geworden, vielleicht hatte sie auch einfach tags zuvor nur zu lange gefeiert. Das kam in der Belegschaft häufiger vor. Mallorca brachte das so mit sich.

Iris ging in den Raum hinter der Rezeption und zog sich um. Welch eine Wohltat. Raus aus dem kurzen schwarzen Rock, der hellen Bluse mit der zugeknöpften schwarzen Weste und vor allem aus der blickdichten Strumpfhose, die sie bei der Arbeit in dem hochklassigen Hotel tragen musste. Endlich Shorts und T-Shirt, die Einheitskleidung auf den Straßen der Insel, die zu dieser frühen Abendzeit gefüllt waren mit Touristen, die an den Geschäften und Verkaufsständen vorbeischlenderten und sich seelisch auf die lange Party vorbereiteten, die in wenigen Stunden, wie in jeder Nacht, steigen würde.

Morgen hatte sie frei. Also würde auch sie sich ins Getümmel stürzen und bis in die Morgenstunden tanzen. Das war ihre große Leidenschaft. Wenn sie sich im Takt der Musik bewegte, vergaß sie alles um sich herum und konnte sich einfach gehen lassen. Dazu brauchte sie auch keinen festen Tanzpartner, obwohl sich für die langsamen Stücke und den Schmuseblues stets jemand fand, an dem sie sich festhalten konnte.

An Verehrern mangelte es ihr nicht. Sie sah gut aus; hübsches, etwas kantiges Gesicht, typisch norddeutsch eben, mit einer hellblonden Mähne und langen wohlgeformten Beinen, die ihre Wirkung nie verfehlten. Gelegentlich brezelte sie sich gern auch mal richtig auf, wenn sie Lust darauf verspürte, sich auf den Markt für unverbindliche sexuelle Vergnügen zu begeben, und zog dann todsicher die Blicke aller Männer auf sich, wenn sie ihre Reize auf der Tanzfläche zur Schau stellte. Sie liebte die Bestätigung, die sie regelmäßig vom anderen Geschlecht erfuhr, aber das Gefühl, begehrenswert zu sein, hielt nie lange an. Danach begannen ihre Selbstzweifel von Neuem und in festen Beziehungen damit auch die Probleme, denn ihre ungefilterte Eifersucht sprengte den Rahmen des Erträglichen.

Sie hatte sich vorgenommen, nun erst einmal ihre Freiheit zu genießen, bevor sie es erneut wagte, sich einem Menschen ganz und gar anzuvertrauen. Zu tief saß der Stachel des letzten Liebesaus, das sie noch immer nicht verwunden hatte.

Iris hatte schon einige längere Beziehungen hinter sich und alle hatten schlecht geendet. Sie hatte gleich den erstbesten Mann geheiratet, der ihr über den Weg gelaufen war, da brauchte sie noch die Zustimmung ihrer Eltern, die sich gegen ihren Dickkopf nicht durchsetzen konnten. So sehr hatte sie aus diesem unwirtlichen Zuhause weggewollt; ihr war jedes Mittel recht gewesen.

Die beiden Menschen, die sie Mama und Papa nannte, waren eigentlich ihre Tante und ihr Onkel. Sie waren in der Zwischenzeit auch ihre Adoptiveltern, hatten aber sechzehn Jahre gebraucht, um sie als ihre Tochter anzuerkennen. In ihrer Kindheit und frühen Jugend hatte Iris nicht wirklich gewusst, wo sie hingehörte. Das Damoklesschwert der Rückführung an ihre biologischen Eltern, die mit ihren fremdgewordenen Geschwistern weit weg in Süddeutschland lebten, schwebte die gesamte Zeit über ihr. Es wurde auch durchaus öfters geschwungen, wenn ihre Tante mit dem Verhalten ihres Pflegekindes nicht einverstanden war oder es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Elternpaaren kam, die zwar mit einander verwandt, aber doch sehr unterschiedlich waren.

Iris wurde in eine Familie hineingeboren, in der es noch nie rundgelaufen war. Der Vater war ein eher arbeitsscheues Subjekt, dem der Krieg und die nachfolgende Gefangenschaft in Russland seine letzte Motivation geraubt hatten. Seine Dämonen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, die grausamen Bilder in seinem Kopf wollten nicht weichen. Er wurde nie von der Aufbruchsstimmung der fünfziger Jahre erfasst, ließ sich treiben und ertränkte seine ständige Traurigkeit im Alkohol. Seine junge Frau versuchte anfangs ihn und die drei Kinder aufzufangen, bis die finanziellen Probleme sie an ihre Grenzen brachten und sie sich seiner Methode der Kummerbewältigung anschloss.

Das Jugendamt schritt ein, holte die stark vernachlässigten Kleinen mit Polizei und Blaulicht aus der Familie und brachte sie in ein Pflegeheim. Diese drastische Maßnahme ließ die Mutter erst einmal zur Vernunft kommen. Sie schwor dem Alkohol ab und schaffte es fortan als Kassiererin in einem Supermarkt so viel Geld zu verdienen, dass sie ihre Kinder nach Hause holen konnte. Aber für alle hungrigen Mäuler reichte das Einkommen nicht. Sie kontaktierte ihre ältere, kinderlose Schwester in Haselünne und überredete sie dazu, zumindest einen ihrer Sprösslinge bei sich aufzunehmen und zu versorgen.

Die Wahl war auf Iris gefallen. Sie war das unbeachtete Mittelkind, zwei Jahre alt, als sie erneut entwurzelt und einer unbekannten Umgebung zugeführt wurde. Ihre Tante und neue Pflegemutter stimmte der Übersiedlung der Kleinen erst nach langer Bedenkzeit zu. Sie mochte ihren Schwager nicht und fürchtete den schlechten Einfluss seiner Gene auf das Wesen des Mädchens. So brachte sie ihrer Nichte erst einmal wenig Zuneigung entgegen, beäugte sie mit kontrollierendem Blick und suchte nach Anzeichen der Bestätigung ihrer Befürchtungen, die sie reichlich ausfindig machte.

Schon im Vorschulalter konnte Iris wenig richtigmachen. Lob und Anerkennung blieben ihr zuhause verwehrt. Selbst wenn sie nur aus Versehen etwas anstellte oder sich nach den strengen Maßstäben der neuen Mutter danebenbenahm, bekam sie zu hören,

„Ist ja auch kein Wunder, dass du so missraten bist. Bei dem Vater konnte ja nichts Besseres herauskommen.“

Gelang ihr allerdings etwas Unerwartetes oder fremde Menschen bemerkten ihre Aufgewecktheit, dann war es der guten Erziehung der Pflegeeltern geschuldet. In den Arm genommen wurde sie dafür nicht, man wollte das Kind auf keinen Fall verwöhnen. Das war nicht Teil der Abmachung gewesen.

Iris war schon früh viel allein. Ihr Onkel führte im kombinierten Wohn- und Geschäftshaus den größten Textilladen am Ort, in dem auch die Tante den ganzen Tag lang eingespannt war. Das Mädchen lernte bald, sich um sich selbst zu kümmern und schärfte seine Sinne, damit es Missstimmungen schon frühzeitig erkennen und durch erfolgreiches Unsichtbarmachen den Folgen entgehen konnte. Der Stress, den das Geschäft mit sich brachte, wurde ungemindert in die Privaträume hinübertransportiert. Es gab viele Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten um die richtige Kollektion, Ärger mit den Angestellten, fällige Kreditraten und vieles mehr. Da blieb wenig Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse des ungewollten Kindes, das zu schweigen und zu funktionieren hatte.

Was Liebe und Vertrauen bedeuten, lernte Iris in dieser unterkühlten Umgebung nicht. Sie träumte von einem Leben mit ihrer richtigen Mutter, die sie aus der Ferne über alles liebte, und Geschwistern, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Die Wirklichkeit sah anders aus. Das wurde ihr auch wiederholt deutlich gesagt. Sie hatte das große Los gezogen, auch wenn es sich nicht so anfühlte.

Ihre Geburtsfamilie kam aus der Armut nie heraus. Der Vater vertrank den Großteil des Einkommens seiner Frau, die mit der alleinigen Verantwortung für die Familie überfordert war. Die Kinder wurden weiterhin vom Jugendamt überwacht und waren schon früh verhaltensauffällig in der Schule. Ihr Weg in ein geordnetes Leben war steinig. Ob sie ihn dennoch erfolgreich gegangen waren, wusste Iris nicht. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen.

 

Ihre erste tiefe Beziehung knüpfte Iris mit ihrer Freundin Marlies. Die beiden Außenseiterinnen in der Sexta des Ursulinen-Gymnasiums fanden notgedrungen zueinander. Sie wurden gleichermaßen von den Klassenkameradinnen gemieden, die sämtlich aus sogenanntem „guten Hause“ stammten. Bastarde und Pflegekinder passten nicht ins feine Milieu. Das diskriminierende Verhalten der Schülerinnen wurde von den Nonnen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, in dem sie die beiden Mädchen herablassend behandelten, höhere Maßstäbe an ihr Aussehen und Tun anlegten und drastischere Strafen für kleine und große Vergehen verhängten als gemeinhin üblich.

So trieben sie alle zusammen die beiden Mädchen in eine Ecke, in der die zwei sich dann komfortabel einrichteten. Als unzertrennliches Team begegneten sie allen schulischen Herausforderungen gemeinsam, machten jeden Gegner fertig, mit Worten oder fester Entschlossenheit zum Kampf. Wie verletzlich sie tief im Innern waren, zeigten sie nur der besten Freundin und ausschließlich hinter verschlossenen Türen. Offiziell passte kein Blatt Papier zwischen sie, auch wenn sie nicht in jedem Falle einer Meinung waren oder Iris ihre aus der Unsicherheit geborene Eifersucht nicht im Zaum hielt.

Als pubertierende Teenager waren sie beide nicht leicht zu handhaben gewesen, aber Marlies hatte sich schneller gefangen und konnte an ihre guten Leistungen der ersten Schuljahre anknüpfen. Sie hatte den unbedingten Ehrgeiz, das Abitur zu schaffen, um dann zu studieren.

Iris hingegen verlor den Anschluss. Sie träumte im Unterricht, machte die Hausaufgaben nicht mehr und verlagerte ihr Interesse ganz und gar auf das Aussehen. Ihre Zensuren brachen ein, und es wurde klar, dass sie nicht in die Oberstufe versetzt werden würde.

Ihre Pflegeeltern waren nicht einmal unglücklich über diesen Umstand, so konnte Iris schneller ins Arbeitsleben einsteigen und finanziell auf eigenen Füssen stehen. Sie besorgten ihr bei einem befreundeten Unternehmen in der Kreisstadt Meppen eine Ausbildungsstelle als Bürokauffrau, verbunden mit der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal das Textilhaus weiterführen würde. Auch aus diesem Grund entschlossen sie sich nun endlich zur Adoption ihrer Nichte, die seit Jahren ihre „richtige“ Tochter hatte sein wollen.

Dem Freiheitsdrang von Iris, der sich in langen Partynächten und Alkoholexzessen am Wochenende äußerte, begegneten die nun auch rechtlich verantwortlichen Eltern mit viel Geschrei und strengen Verboten. Sie erreichten nur das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigten. Iris lebte ihre gesamte angestaute Wut aus, suchte sich Freunde, die ebenfalls verlorene Seelen waren und auch schon mal ihrer zerstörerischen Kraft Ausdruck verliehen. Mehr als einmal wurde sie von der Polizei verhört, entging aber, wie durch ein Wunder, einer Vorstrafe. Schließlich verliebte sie sich in Tom, einen angehenden Installateur, und sie zog für eine Weile das Kuscheln zu zweit den lauten Partys vor.

Tom war ein typischer Kleinstadtteenager, er liebte Fußball, seine Kumpel und jedes Wochenende das gleiche Ritual: Gemeinsames Besäufnis bei Schützenfesten oder Discoabenden in der Gegend. Je schmerzhafter der Kater am nächsten Morgen, umso toller der Abend. In der Phase der ersten Verliebtheit hatte er, sehr zum Ärger seiner Freunde, die Zweisamkeit gesucht und mit Iris viele Abende auf seinem Zimmer verbracht. Seine Eltern hatten eine Kneipe und waren nie zuhause. Außerdem hatten sie es aufgegeben, ihrem Jungen Vorschriften zu machen, seit er seine Lehre begonnen hatte.

Iris hatte die Aufmerksamkeit sehr genossen und dachte, es würde immer so weitergehen. Sie ließ Tom nicht aus den Augen, wenn sie sich in Gesellschaft befanden und konnte es nicht ertragen, sprach er mit anderen Mädchen, geschweige denn, er lachte mit ihnen. Sie machte ihm unberechtigte Vorwürfe, denen er lediglich mit Erstaunen begegnete, denn er war sich keiner Schuld bewusst und sah keinen Grund, sich zu verteidigen.

Tom fand ihre Unsicherheit eher lästig und wollte nach und nach sein altes Leben mit den Freunden zurück, eben aber mit einer Frau zuhause, die ihm am Morgen ein Aspirin brachte, wenn er es zu toll getrieben hatte. In seiner jugendlichen Naivität nahm er an, ihre Eifersucht würde verschwinden, wenn sie erst einmal verheiratet wären. Schon nach sechs Monaten machte er ihr einen Antrag, den sie glücklich akzeptierte. Sie waren beide achtzehn Jahre alt und noch in der Ausbildung.

Iris zog zuhause aus und zu Tom in seine kleine Kemenate. Er erlaubte ihr nur ungern, dass sie seine Fußballidole von den dunklen Wänden entfernte, den Raum hell anstrich und den Schrank mir ihrer bunten Kleidung dominierte. Aber er wollte nicht schon von Beginn an Ärger und vertraute darauf, dass sich schon alles richten würde, wäre sie erst einmal richtig angekommen in ihrem neuen Leben. Nach ein paar Wochen wandte er sich seinen gewohnten Aktivitäten zu; arbeiten, ausgehen, mit den Kumpel Fußball schauen.

Bald fühlte sich Iris vernachlässigt, vermisste seine Liebesschwüre aus der Anfangszeit und vermutete reflexartig eine andere Frau hinter seinen Männerverabredungen, die mit der Zeit zunahmen. Tom konnte ihre an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe einfach nicht mehr ertragen. Zudem wollte er vor seinen Freunden nicht als Pantoffelheld dastehen und nahm seine Frau, die unversehens zur Furie werden konnte, lieber nicht mit, wenn sie eine richtige Sause planten.

Kurz vor Ende ihrer Ausbildung fasste Iris den Entschluss, Toms Lotterleben endgültig ein Ende zu bereiten und setzte heimlich die Pille ab. Drei Monate später war sie schwanger. Sie freute sich diebisch, während Tom zu Recht seine Freiheit endgültig in Gefahr wähnte. Trotzdem unterstützte er sie, auch emotional, so gut er es eben konnte.

Im vierten Monat traten unerklärliche Bauchschmerzen auf. Die Ärzte im kleinen Ortskrankenhaus brauchten ewig, bis sie die Ursache, eine Entzündung mit Gonorrhoe-Erregern, feststellten. Da hatte Iris ihr Baby schon verloren und ihre Fruchtbarkeit auch. Sie war lange untröstlich, konnte und wollte sich mit der Wahrheit nicht abfinden. Schnell hatte sie einen Schuldigen ausgemacht. Tom musste ihr die verheerenden Erreger übertragen haben, wahrscheinlich als Ergebnis seiner Untreue, die sie ihm jeden Tag aufs Neue unterstellte.

Irgendwann hielt Tom es nicht mehr aus. Er schmiss Iris aus dem Haus. Er wollte nur noch sein Junggesellenleben zurück und endlich zuhause seine Ruhe haben. Iris war zwar zutiefst verletzt, hatte aber ebenfalls bereits für sich entschieden, dass Tom nicht ihr Mann fürs Leben war. Zu sehr erinnerte sein Anblick sie an den Verlust, den sie erlitten hatte. Sie wollte ihm nicht mehr begegnen, auch nicht zufällig, und beschloss, Haselünne für immer den Rücken zu kehren.

Die Scheidung wurde weniger als zwei Jahre nach der Trauung ausgesprochen. Die beiden hatten sich tatsächlich seither nie wiedergesehen.

Zuerst ging Iris nach Bremen, um dort in einem Steuerbüro zu arbeiten, dann nach Hannover und schließlich nach Hamburg. Ihr gefiel das internationale Flair der Stadt mit dem riesigen Hafen, der sie von fernen Zielen träumen ließ. Sie wollte mehr von der Welt sehen. Eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin schien ihr der beste erste Schritt in diese Richtung.