Erinnerungen

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Ich gestehe, diese neue Welt, in welche mein Lehrer mich einführte, bewirkte eine Umwälzung in allen meinen Ideen, aber bald brach das Licht hervor, kleine Unsicherheit schwand. Dieser ersten Unterweisung welche eigenes Studium hernach berichtigt hat, danke ich den Samen zu meinen unwandelbaren Ansichten. Herr Hérivaux bemerkte den tiefen Eindruck, den sein Enthusiasmus in meinem Geiste zurückgelassen hatte; er freute sich darüber und gab mir im Scherze den Beinamen des Römers.

Später mußte ich mich herabstimmen; mein Lehrer in der Philosophie verstand keinen Spaß bei diesen Gegenständen, ich mußte meine republikanischen Ideen in mich verschließen. Dieser Lehrer war der berüchtigte Abbé Royou, der kürzlich (im Juni 1792) in dem Verstecke gestorben ist, in welchem er sich vor dem Haftbefehl verborgen hielt, den die Versammlung gegen ihn erlassen hatte. Royou, der frömmelnde Abbé, der Schwiegersohn Frérons, Professor der Philosophie, war der Mann nicht, meine Ausfälle gegen den Despotismus, meine Verehrung der Freiheit zu dulden. Royou hatte sich, mit bedeutenden schriftstellerischen Talenten begabt, zum Kämpen einer Idee aufgeworfen, die gegenwärtig nur noch bei Narren oder unredlichen Leuten in Ansehen stehen kann. Zuerst mit Fréron für die Redaktion des literarischen Jahrbuches verbunden, gründete er später das Journal de Monsieur und durfte es ohne große Unannehmlichkeit versuchen, die Literatur zum Rückwärtsgehen zu zwingen; das Unnütze seines Versuches hätte ihm wenigstens über das Vorschreiten des menschlichen Geistes die Augen Öffnen sollen, aber die Erfahrung trägt denen, die nicht sehen wollen, keine Früchte! Royou hat sich auf die Politik geworfen, und sein „Freund des Königs“ wird ein unwiderleglicher Beweis für die Armseligkeit unserer Natur, für die Verirrungen sein, zu denen sie sich hinreißen lassen kann.

Der Abbé Proyart, Untervorsteher des Kollegiums, war mein Landsmann; als solcher wurde ich mit Liebe von ihm behandelt; denn im Grunde ist es ein vortrefflicher Mensch, den nur die Vorurteile seines Rockes und ein für kräftige Entschlüsse nicht sehr empfänglicher Charakter zur Hofpartei geworfen haben.

Auch in meinem Professor der Rhetorik, Herrn von Fousseux, hatte ich einen Landsmann und Freund gefunden. Ich habe ihn später in einem andern Kreise wieder angetroffen und erst dann die Vaterlandsliebe erkannt, die in seinem Herzen lebte.

ZWEITES KAPITEL

Ich werde mich hier nicht über die Fortschritte auslassen, die ich während meiner Studien machte; das Gedächtnis meiner Mitschüler und Lehrer, die Akten der Preisbewerbungen bezeugen sie zur Genüge. Mit einer leichten Fassungsgabe, besonders mit einer Ausdauer bei der Arbeit ausgestattet, wie man sie nur sehen bei der Jugend antrifft, wußte ich mir den ersten Platz in meiner Klasse zu erringen und mich darauf zu behaupten. Welch süße Genugtuung war es für mich, vor einer riesigen Versammlung von Gelehrten, Schriftstellern und Hofleuten den Siegespreis zu erringen, nicht nur über meine Mitschüler, sondern über die besten Zöglinge aller Pariser Kollegien. Lange erfüllte die Erinnerung jenes Triumphs mich mit Stolz, und selbst jetzt noch denke ich freudig daran zurück, weil ich durch sie an Selbstvertrauen gewonnen, mich zu würdigen gelernt habe und in das Leben wie ein Mann eingegangen bin, der seines Weges gewiß ist, dem es nie fehlen würde. Im Grunde jedoch sind diese Bewerbungen eine regelrechte Irreführung, und auf einen Schüler, der wie ich die Hoffnungen rechtfertigt, die seine frühen Erfolge zeitigten, kommen wer weiß wie viele, die unproduktiv bleiben und zu deren Mittelmäßigkeit sich nur der ganze Hochmut und törichte Ehrgeiz gesellt, den die Lobpreisungen ihrer Lehrer in ihnen erweckt haben; wie viele, die vortreffliche Finanzmänner und ertragliche Sachwalter geworden wären, verlegen sich dadurch auf Schöngeisterei und halten sich für einen neuen Montesquieu10) oder Voltaire, weil sie die Anrede des Regulus an seine Krieger ziemlich artig übertragen haben.

Ich habe mich ausgenommen; es wäre Torheit, falsche Bescheidenheit gewesen, wenn ich es nicht getan hätte; gewiß, der von zwei Akademien Preisgekrönte, der Advokat, der sich die Achtung, den Beifall seiner Mitbürger erworben, der Abgeordnete des Volkes, dessen Stimme nicht immer machtlos war, der öffentliche Ankläger des Tribunals der Seine, der Redner, der Schriftsteller, der Journalist, der sich die allgemeine Gunst errungen hat, ist dem gekrönten Zögling des Kollegiums von 1775 nichts schuldig geblieben, und wenn dieser etwas versprach, sind die Versprechungen gehalten worden.

In den letzten Augenblicken meines Aufenthaltes im Kollegium wurde ich noch bei einem ziemlich bemerkenswerten Ereignis ausgezeichnet. Es war im Monat Juni 1775, als Ludwig XVI. in Reims gesalbt worden war und bei seiner Rückkehr seinen Einzug in Paris feiern sollte. Alle gesetzlichen Behörden hielten eine Anrede an ihn. Auch die Universität gehörte dazu. Es war der Gebrauch, daß außer der gewöhnlichen Rede des Rektors, welcher den Lehrkörper repräsentierte, auch die Studenten sich vorstellen ließen, und daß einer derselben, der von allen seinen Kameraden gewählt worden war, zum Könige sprach. Ich wurde dazu bestimmt und führte das Wort. Ich habe durchaus nichts von der Rede behalten, die ich gesprochen habe; ich erinnere mich nur, daß die, welche ich entworfen hatte, dem Abbé Proyart vorgelegt wurde, der bei jeder Zeile, die er las, ununterbrochen ausrief: Da seh einer! Der kleine Tollkopf! Es ist unglaublich! Darauf strich er, verbesserte, strich wieder; alles mußte über die Klinge springen, und dabei zankte der Abbé! Als er fertig war, gab er mir mein unglückliches, von einem Ende zum andern durchstrichenes Manuskript zurück und sagte: „Das ist recht schön, mein Herr Römer, recht schön für den Tribun Tiberius Gracchus11), der den zum Konsul ernannten Nascia anredet. Oh! Oh! Junger Mann, was für ein Republikaner würden Sie sein! Aber Sie hätten Ihre Zeit besser wählen sollen: warten Sie es ab. Diesmal werde ich die Rede selbst machen!“ Ich folgte dem Rate des Abbés, ich wartete.

Seine Rede wurde vom Könige beifällig aufgenommen; mit der Freundlichkeit, welche ihn charakterisiert, sagte er uns einiges Schmeichelhafte; der Pater Proyart brüstete sich damit und nahm den größten Teil der Lobeserhebung ohne Umstände für sich in Beschlag. Ich hätte sie ihm gern samt und sonders abgetreten. Damals begriff ich, wie es den Menschen demütigt und verächtlich macht, wenn er mit gekrümmtem Rücken herablassenden Worten lauscht, die ihm zugeworfen werden wie Almosen. Für den guten Abbé freilich war es höfisches Weihwasser.

Bald darauf verließ ich das Kollegium: mein Bruder Augustin kam von Arras an und nahm die Freistelle ein, die durch mich ledig wurde. Um ihm diese Begünstigung zu verschaffen, stellte ich mich dem Kardinal von Rohan12) vor, der als Abbé von St. Vast darüber verfügte. Der Prälat empfing mich freundlich. Der glückliche Erfolg, der meine Studien gekrönt hatte, schmeichelte seiner Eigenliebe; „er schätze sich glücklich“ sagte er, „Ludwig dem Großen ein neues Geschenk machen zu können.“ Er fragte nach meinen Plänen, ich teilte ihm den Wunsch meiner Familie mit, daß ich mich den Rechten widmen möge. Er versicherte mich seines Schutzes und lud mich ein, ihn wieder zu besuchen. Ich habe ihn in der Tat öfters gesehen und werde Gelegenheit haben, dies zu berühren. Er ist ein Mann von schönem Wüchse und angenehmen Zügen; großmütig aus Prahlerei; vergnügungssüchtig; Sklave der Gunst; stets bereit, alles zu opfern, um einen Blick vom Throne zu erhaschen. Man weiß, daß er in dieser Beziehung unglücklich gespielt hat; übrigens ist er ein Mann von Geist und Welt und mehr dazu geschaffen, ein Schwert umzugürten, als seinen jetzigen Rock zu tragen.

Endlich ward ich Mann; Herr meiner selbst, konnte ich mich in meiner bescheidenen Studierstube frei den Arbeiten hingeben, die mir einen Rang in der Welt verleihen und die Keime entwickeln sollten, die ich in dem Unterrichte des Kollegiums und in meinen eigenen Betrachtungen geschöpft hatte. Ich hatte einen entschiedenen Sinn für die Wissenschaften und besonders liebte ich ernste, gewichtige Gegenstände, welche die ersten Interessen des Menschen und ihre Beziehung auf die Gottheit und auf diejenigen berühren, welche herrschen. Die Aufmerksamkeit war wieder auf diese wichtigen Fragen gerichtet; dank dem philosophischen Geiste, es hatte sich in Frankreich eine öffentliche Meinung gebildet. Die armen Bürger, welche unter Ludwig XIV. kaum den Intendanten ihrer Provinz bei Namen kannten, und von der Macht nichts kannten als den Unterbeamten, der sie aussog, machten nach und nach die Beobachtung, daß sie für den Staat von Bedeutung wären; sie lasen Montesquieu und J. J. Rousseau13), besprachen sich über die öffentlichen Angelegenheiten, beunruhigten sich über die Wahl der Minister und bezeichneten die, welche ihnen die Würdigsten schienen. Der Hof stellte sich taub; überdies sprach man noch so leise, daß man nicht klagen konnte, er vernachlässige und übergehe die Warnungen; allein man sprach doch, und auch das war schon ein Fortschritt.

Bei meiner geistigen Eigenart war es mir unmöglich, dieser Bewegung nicht zu folgen, ja ihr nicht vorauszueilen. Gierig verschlang ich alle philosophischen und politischen Werke. Bald konnte ich mir von dem Eindrucke Rechenschaft ablegen, den diese Bücher auf mich machten; ich hielt dafür, daß, wenn die politischen Arbeiten unserer Enzyklopädisten, Verbesserer der Staatswirtschaft und anderer, mit Ausnahme Rousseaus, der für sich allein dasteht, sehr schwach, sehr matt, sehr weit vom Wahren entfernt sind, ihre philosophischen Schriften dagegen (auch hier mit Ausnahme jenes großen Mannes) über das Ziel hinausgegangen wären, das Wahre mit dem Falschen niedergerissen und dem Bewußtsein des Menschen nichts als eine traurige Absonderung und der Gesellschaft nichts gelassen hätten als den schlechtesten Führer: die Vernunft ohne Religion und Glauben.

 

Meine Zeit teilte sich in diese Studien und meine juristischen Arbeiten ein. Mit Eifer ergab ich mich dieser trocknen Wissenschaft; ich wollte mein Leben vor Not und fremder Unterstützung sichern. Dieser Grund hätte hingereicht, meinen Mut aufrechtzuerhalten, aber ich hatte einen noch wichtigeren: das Krachen unserer alten Regierungsmaschine kündigte eine nahe Auflösung an; schon sprach man unter gebildeteren Leuten das Wort: Generalstaaten aus. Ich hatte es zuerst von Gerbier gehört, als dieser sich eines Tages mit Ferrieré in dem Kabinett dieses letztern unterhielt; plötzlich flammte in meinem Geiste eine Idee auf. Der feste Wille, an diesen großen Volksversammlungen teilzunehmen, bemächtigte sich meiner; um dahin zu gelangen, mußte ich mich unter meinen Mitbürgern bemerklich machen: in einem Lande, das der Pressefreiheit beraubt ist, blieb aber nur ein Rednerstuhl — die Schranken des Gerichtshofes. Ich begriff sogleich, daß man von dem Augenblicke an, wo die Nation mit denen, die am Ruder saßen, Abrechnung halten werde, alles durch eine neue Gesetzgebung umgestalten würde; um aber würdig bei diesem großen Werke mitwirken zu können, war es nötig, mit vollendeten Studien, mit zuverlässiger Kenntnis der Lage der Dinge, die man umstoßen mußte, in die Versammlung zu treten. In der Laufbahn aber, der ich mich gewidmet hatte, mußte ich das Mittel finden, den höchsten Beweis von Zutrauen zu erhalten, der einem Bürger nur erteilt werden kann, und das Mittel, mich auch dessen würdig zu machen. Man glaube nicht, daß ich auf diese Schlüsse erst hinterher gekommen bin. Man fasse eine bessere Meinung: mein ganzes Leben bezeugt meine Voraussicht; erstaune wer will: Robespierre konnte in seinem achtzehnten Jahre erraten, wovon sich der alte Maurepas14) nichts träumen ließ.

Von meinen vielen Beschäftigungen eingenommen, hatte ich weder Zeit noch Lust, meine Jugend durch Zerstreuungen und Vergnügungen zu zersplittern, wie sie das Leben in Paris den jungen Leuten bietet. Die mäßige Unterstützung die ich von meiner Familie erhielt, genügte meinen eingeschränkten Wünschen; mein Stäbchen im fünften Stock der Straße St. Jaques verließ ich nur, wenn ich zu Ferrieré ging, dem ich empfohlen war, oder wenn ich der Sitzung des Gerichts beiwohnte. Einmal wöchentlich nahm ich an den Verhandlungen teil, welche zu dieser Zeit der Abbé Rattier, geistlicher Rat im Parlament, eingeführt hatte. Mit derselben Sorge, womit andere danach streben, vermied ich jedes nähere Verhältnis mit Frauen. Die Verführungen, welche Gattinnen von ihrer Pflicht abziehen, habe ich immer für verbrecherisch, eines rechtlichen Mannes unwürdig gehalten; weniger streng urteile ich über Verhältnisse, die sich zwischen Personen, welche frei von allen Verbindlichkeiten sind, anknüpfen; aber kaum aus dem Kollegium geschlüpft, ohne Vermögen, ohne wirkliches Auskommen, hätte ich keine Frau an mein Schicksal fesseln mögen. Von den jungen Leuten meines Alters sah ich nur wenige, und diese selten; bis zur Zeit, wo Camille das Kollegium verließ, schloß ich mich an keinen meiner Kameraden an.

Ich war häufig in den Gerichtssälen und suchte dort Vorbilder, die ich einst vor Augen haben wollte, wenn auch mir sich die Schranken öffnen würden. Ferriére war ein vortrefflicher Jurist, von geradem Verstand und gelehrt; aber er hatte sich, wie sein Oheim beratenden Andenkens, auf seine Stubenarbeit beschränkt und nie öffentlich vor Gericht gesprochen. Zwei Männer machten sich damals in Paris den ersten Rang als Sachwalter streitig; ich spreche von Gerbier und Linguet. Beide haben Aufsehen gemacht, und wenn ich nicht irre, in umgekehrtem Verhältnisse zu ihren Verdiensten; der unruhige, streitsüchtige, aufhetzerische Linguet, dessen groben Verstoß gegen die Volksvertreter wir später gesehen haben, hat abwechselnd bald boshafte Pamphlets, bald gerichtliche Verteidigungen geliefert, die eines Pamphletschreibers würdig waren. Dieser Mensch hat nie etwas mit der Würde und der Haltung, die der Toga ziemt, weder tun noch reden können; und hat es dahin gebracht, daß er, von seinen Kollegen mehr noch verabscheut als gefürchtet, von der Liste ausgestrichen wurde. Als ich ihn zuerst sah, war er in offenem Kriege mit Gerbier und schob ihm die ärgsten Plackereien zu. Das Parlament, das bis jetzt Gerbier geliebt und bewundert hatte, war gerade gegen ihn gestimmt und bot dem eifersüchtigen Hasse Linguets die Hand. Der Grund dieser Veränderung war schon einige Jahre alt: als der Kanzler Maupeou das Parlament verbannt hatte, ernannte er eine Kommission, die Gerichtspflege zu verwalten; der größte Teil der Advokaten weigerte sich, vor diesem aus dem Stegreif eingerichteten Hofe zu plädieren; aber Gerbier, der vom Kanzler gewonnen war und ohne Zweifel glaubte, daß sein würdiger Stand ihm jederzeit die Pflicht auflege, mit seinem schönen Talente Mitbürgern beizustehen, führte seine Prozesse vor diesen eingedrungenen Richtern und zog sich dadurch die Feindschaft der alten Parlamentsglieder zu. Gerbier war ein wahrhaft bewunderungswürdiger Mann! Niemals hat die Macht der Rede so gewaltig auf mich gewirkt! Er starb für seinen, für Frankreichs Ruhm einige Jahre zu früh. Unsere beratende Beredsamkeit hätte einen Meister mehr gehabt. Es war nicht dieser heftige, plötzliche Schwung, den wir bei Mirabeau15) bewunderten; es war mehr der Attizismus, die Feinheit des gebildeten Vortrages, der Reichtum an Bildern und Abwechslung, wie er sich in den unvorbereiteten Reden des jungen Advokaten von Bordeaux Vergniaud widerspiegelt; aber es war außerdem noch eine würdevolle, eindringliche Sprache, eine edle, sich mitteilende Wärme in seiner Darstellung und ein Gebärdenspiel, wie es nie ein Redner besessen hat. Hätte ich jemals wünschen können, etwas anderes zu sein als ich selbst, so war Gerbier der Mann, dem ich am liebsten gleichen mochte: er war rechtlich, uneigennützig, voller Ehrgefühl; die Eigenschaften des Herzens vereinigten sich in ihm mit allen Gaben der Natur. Linguet ist weit entfernt, dies Lob zu verdienen, und wenn man dem Genius im Gefolge der Tugend Altäre errichten muß, so soll man das Talent, das Genie selbst mit heilsamem Tadel strafen, wenn es nicht in der Tugend wurzelt.

Diese juristischen Kapazitäten, denen der künftige Advokat hohe Wichtigkeit beimaß, waren beim Publikum weniger angesehen. Hier wandten sich aller Blicke auf zwei Männer, die den größten Glanz auf die Wissenschaften geworfen, ihren Namen an das Jahrhundert geknüpft haben. Voltaire und Rousseau waren damals ihrem Ende nah; der Neid und der Haß, der sie im Leben verfolgt hatte, verschonte auch ihre letzten Stunden nicht. Aber ein allgemeiner Ruf des Lobes und der Bewunderung erstickten das unziemliche Geschrei ihrer Feinde. Es war ihnen vergönnt, noch lebend ihres Ruhmes zu genießen: der eine in der Zurückgezogenheit, im Frieden des Landlebens; der andere im Geräusch, in Festen, unter Akademikern, großen Herrn, Schauspielern und Hofdamen. Beide genossen, mit einem Fuße fast schon im Grabe, zum letzten Male noch die Freuden, die sie während ihrer ruhmvollen Laufbahn am meisten berauscht hatten. Der Eigenliebe Voltaires blieb nichts mehr zu wünschen, Rousseaus Seele war befriedigt. Beide schienen sich nach einem wechselreichen, irrenden Leben, das sich durch Achtungen und Triumphe, durch mächtigen Haß und erhabene Freundschaften auszeichnet, verabredet zu haben, den letzten Atemzug an dem Orte auszuhauchen, der die Fackel ihrer Unsterblichkeit entzündet hatte.

Ganz Paris beschäftigte sich mit diesen beiden berühmten Männern; besonders war Voltaire der Gegenstand der staunenden Bewunderung der Bürger geworden. Seit 27 Jahren durch ein Gutdünken des Königs aus der Hauptstadt verbannt, kam er nicht wie ein großer Mann zurück, gegen den man sein Unrecht wieder gutmacht, sondern bloß geduldet, wie ein Schuldiger, zu dessen Gegenwart man ein Auge zudrückt. Der Hof sah in ihm nur den achtzigjährigen Greis, dessen Kräfte zu erlöschen begannen, und darum schien sein Aufenthalt nicht gefährlich mehr: als ob die Menge eines neuen Trauerspiels, wie Mahomet, nötig gehabt hatte, um den Fanatismus zu hassen, eines neuen Versuches über die Sitten, um die von der Macht geheiligten Mißbräuche zu bemerken. Voltaire brauchte sich nur zu zeigen, um elektrisierend auf die Masse zu wirken; sein Name war ein Banner, um welches sich freiwillig die Anhänger der neuen Philosophie scharten. Atheisten, Deisten, Protestanten, politische Neuerer und Verbesserer der Staatswirtschaft, alles, was sich regte, alles, was dem freigewordenen Denken einen Schwung gab, erkannte in ihm den Führer; denn bei der unversiegbaren Fruchtbarkeit seiner Feder, bei der Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse, der Biegsamkeit seines Geistes dürfte schwerlich ein Streitsatz zu prüfen sein, der nicht in dem Arsenal seiner Werke mehr oder minder gestählte Waffen fände.

Es war ein schöner Tag für Voltaire, als er seiner eigenen Apotheose beiwohnte und von den Schauspielern der Comedie francaise, in Gegenwart eines zahllosen Publikums, das die Hallen des Hauses durch seinen Beifallssturm erschütterte, gekrönt wurde. Niemals ward der Eigenliebe eines Mannes eine so köstliche Huldigung; niemals zahlte ein schönerer Lohn mit größerem Wucher die Last eines ganzen Lebens. Was war jetzt für ihn das Andenken an Friedrichs Liebkosungen, an Katharinens Schmeicheleien? Welcher Fürst kann je eine Ehre erzeigen, die der vom Volke zuerkannten gleicht? Ich werde diesen herrlichen Auftritt nicht beschreiben; so viele andere haben es bereits getan, die so wie ich zugegen waren und die, von den äußern Gegenständen mehr eingenommen, die Einzelheiten besser behalten haben. In mir hatte dieses Schauspiel alle Kräfte meiner Seele erweckt, und das Nachdenken, welches mich abzog, ließ für mich von allem, was mich umgab, nichts übrig, als ein dumpfes Geräusch, welches vor meinen Ohren erstarb, einen Lichtglanz, der mich die Augen schließen ließ. Wie!, sagte ich, das sind also die Kronen, welche das Volk erteilt? Das Volk! Und wo ist es denn in dieser Versammlung? Diese von Diamanten, Jugend und Schönheit strahlenden Frauen, diese jungen, mit goldenen Ketten beladenen Männer, dieses ausgewählte, aufgeklärte, geist- und kenntnisreiche, talentvolle Publikum soll das Volk sein? Ist das nicht ein aus einer ungeheuren Ernte zufällig ausgelesener Haufen Körner? Ist es nicht die ganze Aristokratie? Die Aristokratie des Namens, des Vermögens, der Bildung? Ja. So ist es; für diese bevorrechtigten Geschöpfe allein, für diesen kleinen Bruchteil der großen Gesellschaft hat also Voltaire seine Meisterstücke geschaffen! Und welche Triumphe weiht man ihm? Wie berauscht man ihn mit Ruhm?

Doch man muß gerecht sein: Voltaires Schriften haben, vielleicht ohne sein Wissen, ungemein zur Mündigsprechung des Volkes beigetragen. Er wendete sich nicht an das Volk, weil es noch nicht reif war, ihn zu verstehen; aber er hatte in den höheren Sphären die Umwälzung begonnen, die später in die tieferen hinabgestiegen ist; er mußte sich den unveränderlichen Naturgesetzen unterwerfen und sein Publikum so hinnehmen, wie es ihm die früheren Jahrhunderte hinterlassen haben. Man muß seine Täuschungen, seine Verirrungen, seine unselige Leichtfertigkeit verzeihen, er war ein Werkzeug der Vorsehung und hat die Vollziehung ihrer Beschlüsse vorbereitet.

Im Jahre 1778 hatten meine Ideen noch nicht durch die Zeit, durch die Betrachtungen meines Studiums jene weisen Verbesserungen erfahren. Ich hatte, anfangs mit der Glut eines jungen, lernbegierigen Kopfs, später mit dem Widerwillen eines Gemütes, das des Glaubens bedarf, die Werke Voltaires gelesen. Seine entsetzliche Zweifelsucht, seine Wut, mit allem sein Spiel zu treiben, nichts mit seinem Witze zu verschonen, seine niedrige Anbetung der Fürsten, sein hochmütiger Ton, die Unsittlichkeit einiger seiner Produkte hatten mich empört und verblendeten mich für alles Erhabene und dem Volke Nützliche, das seine Schriften enthielten. Was ich ihm jedoch am wenigsten verzieh, und was mir heute noch der unauslöschlichste Flecken in seinem Andenken erscheint, war sein eifersüchtiger Haß gegen Rousseau, die niedrigen Angriffe, mit denen er diesen großen Mann verfolgt hat.

Der Verfasser des „Gesellschaftsvertrages“ war damals, wie jetzt, der Gegenstand meiner ganzen Bewunderung. Ich hatte beim Lesen jene Übereinstimmung der Gefühle und Gedanken empfunden, vermöge der man vertrauensvoll jede Handlung hinnimmt, die sich noch sehr zu einer Prüfung eignet. Ich bewunderte sein Genie und liebte seinen Charakter. Ihm danke ich die ersten festen Begriffe, die in mir Eingang fanden. Trotz der Mühe meiner Erzieher verließ ich das Kollegium als schlechter Katholik, und mit geringer Neigung, sogar nur an eine Offenbarung zu glauben. Rousseau bekehrte mich nicht; aber wenn die verwirrten Stimmen des Gewissens nicht laut genug sprachen, um für sich meiner Vernunft das Dasein eines höchsten Geistes zu beweisen, so kräftigte doch das mächtige, religiöse Wort dieses großen Schriftstellers diese früheren Spuren, und ich verdanke ihm meinen festen Glauben an eine belohnende Vorsicht, einen Glauben, der mich in einer mit Prüfungen erfüllten Laufbahn erhalten und getröstet hat, durch den ich dem Widerwillen wie den Gefahren getrotzt, den Verführungen widerstanden habe, die mich von dem Wege ablenken konnten, den mein Gewissen mir vorgezeichnet hatte.

 

Wenn ich die Vorliebe der Pariser für Voltaire nicht teilte, so überstieg dafür die Bewunderung, die ich für den Einsiedler von Ermenonville16) gefaßt hatte, die seiner eifrigsten Anhänger. Das Verlangen, den berühmten Mann zu sehen, hatte sich meiner bemächtigt und ging bald in eine förmliche Leidenschaft über. Durch meinen Enthusiasmus ermutigt, beschloß ich, mich nach seiner Einsiedelei zu begeben, auf den Fall hin, nur seine Stimme zu hören, nur seine geliebten Züge zu sehen. Ich teilte niemandem mein Vorhaben mit, man hätte es närrisch genannt, und reiste an einem schönen Junimorgen allein nach Ermenonville. Ich machte den Weg zu Fuß; die Betrachtungen, die mich beschäftigt hatten, ließen mich ihn nicht lang finden; überdies kommt man, wenn man, 19 Jahre alt, von einer Idee beherrscht ist, eine offene Straße vor sich, seine Zukunft im Kopfe hat, immer schnell an sein Ziel. Ein Jüngling meines Alters hätte, um in die Augen einer Frau zu sehen, denselben Weg gemacht, den ich einschlug, einen Philosophen zu sehen.

Das Herz schlug mir bei meiner Ankunft; je näher man dem gewünschten Gegenstande ist, je furchtsamer wird man. Aber jetzt konnte ich nicht mehr umkehren, und ich wäre vor Ärger gestorben, wenn ich aus einer unwürdigen Schwäche mich selbst des Glückes beraubt hätte, das ich aufgesucht hatte. Ich trat in den schönen Park von Ermenonville ein und irrte einige Zeit umher, ohne daß mir etwas aufstieß. Jemand vom Schlosse, dem ich begegnete, fragte mich, wen ich suche; ich stammelte den Namen J. J. Rousseau. Der Mann lächelte, indem er mich musterte: „Ich zweifle“, sagte er, „daß es Ihnen gelingen wird, Herrn Rousseau zu sehen, er liebt die Besuche nicht und würde Ihnen seine Tür verschließen, indessen, wenn es Ihnen nicht darauf ankommt, einige Stunden zu opfern, so wenden Sie sich dort nach dem kleinen Hügel, den Sie rechts von den Pappeln bemerken: dort ist die Einsiedlei; Herr Rousseau begibt sich täglich dahin, um zu botanisieren; vielleicht begegnen Sie ihm“

Ich wendete mich um so schneller nach jener Seite, da mir die Schamröte in das Gesicht stieg und ich das freche Gelächter der Bedienten zu vernehmen glaubte, die über den unbärtigen Schüler des Philosophen spotteten. Ich wartete lange in der Gegend der Einsiedlei, bald auf einem künstlichen Felsblock sitzend, bald mit kurzen Schritten auf- und abgehend und wieder stillstehend, um besser nachzudenken. Endlich sah ich am Füße des Hügels einen Mann erscheinen, der, das Auge zur Erde gerichtet, eine große Krauterkapsel unter dem Arme, jeden Augenblick stehenblieb, rasch eine Blume, eine Pflanze pflückte und sie sorgfältig aufbewahrte. Ich hätte ihm entgegen gehen sollen, aber eine heilige Ehrfurcht ergriff mich, ich blieb auf meiner Stelle. Indessen näherte er sich mir, von seinen Gegenständen so eingenommen, daß er bald nur wenige Schritte noch von mir entfernt war. Ich konnte ihn, da er mich durchaus nicht bemerkte, nunmehr ruhig betrachten: er war von mittlerer Größe, seine Augen lebhaft und melancholisch; seine Stirn bezeichnete zugleich Nachdenken und Leiden, sein Gang verkündete deutlich den von einem Übel und von dem Bewußtsein des Übels mitgenommenen Mann. Ein Blitz der Freude erhellte für Augenblicke sein Gesicht; es geschah, wenn er einen neuen Schatz für seine Kräutersammlung entdeckte.

Er war dicht neben mir; ich hatte mich nicht gerührt, er mich nicht bemerkt. Ich sah, wie er sich bückte, um eine Primel zu pflücken; schnell stürzte ich hin, griff nach der Blume und überreichte sie ihm; er nahm sie und sah mich an; „Das ist Stanislaus nicht“, sagte er. „Nein“, antwortete ich, „es ist ein junger Mensch, der jetzt, da er das Glück gehabt hat, Sie zu sehen, nichts mehr vom Schicksal zu wünschen hat.“ Er sah mich aufmerksamer an. „Sie verstehen schon zu schmeicheln, junger Mann; schlimm genug für Sie.“ „In meinem Alter schmeichelt man nicht, aber man empfindet in meinem Alter die volle Glut des Enthusiasmus, und gern geht man zehn Stunden zu Fuß.“ — „Wirklich? Zehn Stunden zu Fuß! Sie haben gute Füße, junger Mann; das muß man im Merkur17) von Frankreich angeben. Zehn Stunden! Sie wissen, ich verstehe mich auch darauf, und eine Fußreise schüchtert mich nicht ein.“ — Ich errötete und biß mich auf die Lippen. — „Nun, nun, lieber Freund, Sie müssen nicht bös sein; Sie wollten mich sehen, nicht wahr? Ich bin das Wundertier von ganz Paris: von den großen Herren bin ich auf die Stadt übergegangen, und man redet sich gar nicht mehr anders an als: Haben Sie schon den verrückten Jean Jacques gesehen? Sind Sie schon in Ermenonville gewesen? Besonders seit Voltaire tot ist, muß ich auch für diesen herhalten; es ist ein Zustand, der nicht auszuhalten ist. Doch gilt das Ihrem Besuche nicht; die Gesichtsbildung der Menschen hat mich oft getäuscht, aber ich glaube in der Ihrigen eine höhere Richtung, eine wahrhafte Offenheit zu entdecken.“ — Ich beteuerte ihm die Reinheit meiner Ergebenheit und wies jeden Gedanken einer kindischen, unrechten Neugierde weit von mir ab. „Ich glaube Ihnen“, sagte der große Mann, „und schätze Sie deshalb noch höher. Wissen Sie, was man mit dieser wilden Neugierde bewirken wird? Umbringen wird man mich.

Nachdem sie mich verfolgt, gejagt wie ein Wild, ersticken sie mich jetzt mit ihren Umarmungen! Wollen sie mich zwingen, auch diesen Zufluchtsort zu verlassen? Ich könnte hier so glücklich sein! Er ist so reizend, er gleicht allem, was ich mir geträumt habe, und da Sie meine Werke kennen, so wissen Sie, was das sagen will. O nein, solange ich lebe, verlasse ich ihn nicht; ich habe mir meine Ruhestätte schon erwählt.“ — „Wenn ich mich mit der ganzen Freimütigkeit meines Alters ausdrücken dürfte, würde ich Sie anflehen, diese düstern Gedanken zu verbannen. Ein Mann wie Sie darf ein Leben, das seinen Nebenmenschen nützlich ist, so nicht hingeben; nie vielleicht bedurfte unser Vaterland so sehr Ihrer beredten Lehren.“ — „Ja“, sagte er, „der Horizont Frankreichs umzieht sich, ich hoffe (denn ich liebe es wie mein eigenes Vaterland), ich hoffe, daß der nahende Sturm nicht von langer Dauer sein, daß die Sonne milder und heller wieder strahlen wird. Aber das ist meine Sache nicht, andere werden kommen, die Vollendung des großen Werks zu beschleunigen; ihre Aufgabe wird herrlich sein. Die meine ist geschlossen; ich habe das Feld bereitet, ich habe das Korn gesäet, das wachsen und gedeihen soll.“ — Ich wollte antworten, er unterbrach mich. — „Nichts mehr, junger Mann. Sehen Sie, wie schön, wie geschmückt die Erde ist! Lassen wir die Kämpfe der Menschen, freuen uns mit der Natur, sie ist eine Geliebte, die oft lächelt, die nie treulos ist, die man gütig wiederfindet, wenn man sie verlassen hat. Wollen Sie mich auf meinem Spaziergange begleiten? Nehmen Sie meine Pflanzenkapsel, bleiben Sie mir zur Seite und sprechen Sie von nichts als von den schönen Blumen, die wir treffe, ich werde Ihnen eine Stunde in der liebenswürdigsten aller Wissenschaften geben.“