Das Leben des Klim Samgin

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»Er ist traurig geworden.«

»Worüber weint er?«

»Er? Über . . . über die Dekabristen. Er hat Nekrassows ›Russische Frauen‹ gelesen. Hm, ja, und da habe ich ihm hier von den Dekabristen erzählt. Das hat er sich eben zu sehr zu Herzen genommen.«

Der Vater bemerkte gezwungen noch einiges über die Dekabristen, stand auf und entfernte sich pfeifend und ließ in Klim den eifersüchtigen Wunsch zurück, sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen. Unverzüglich suchte er den Bruder und fand ihn in seinem Zimmer, auf der Fensterbank kauernd. Er saß, die Beine mit den Armen umschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt, und bewegte die Backenknochen. Er hörte nicht, wie sein Bruder eintrat. Als Klim ihn um das Buch von Nekrassow bat, stellte es sich heraus, daß Dmitri es gar nicht besaß, daß aber der Vater versprochen hatte, es ihm zu schenken.

»Hast du über die ›Russischen Frauen‹ geweint?« nahm ihn Klim ins Gebet.

»Wa-as?«

»Worüber hast du geweint?«

»Ach, geh zum Teufel«, sagte kläglich Dmitri und sprang vom Fenster in den Garten. Dmitri war stark aufgeschossen, abgemagert, und auf seinem runden, dicken Gesicht traten jetzt die Backenknochen noch schärfer hervor. Wenn er nachdachte, bewegte er genau so unangenehm die Kiefer wie Großvater Akim. Er war sehr oft in Gedanken vertieft und sah scheel und mißtrauisch auf die Erwachsenen. Zwar noch ebenso häßlich wie früher, war er doch gewandter und weniger schwerfällig geworden. Jedoch zeigte sich etwas Grobes in seinem Wesen. Er hatte sich stark mit Ljuba Somow angefreundet, lehrte sie Rollschuhlaufen und fügte sich willig in ihre Launen, und als einmal Dronow Ljuba beleidigt hatte, zauste Dmitri ihm grausam, dabei ganz kaltblütig, die Haare. Klim übersah er genau so, wie Klim früher ihn übersehen hatte, und auf die Mutter sah er mit gekränkter Miene, als habe sie ihn ungerecht bestraft.

Die Schwestern Somow lebten unter der Aufsicht Tanja Kulikows bei Warawka. Warawka selbst verhandelte in Petersburg wegen des Baues einer Eisenbahn und mußte von dort ins Ausland reisen, um seine Frau zu begraben. Fast jeden Abend ging Klim hinauf, und immer traf er dort den Bruder, der mit den Mädchen spielte. Wenn sie genug vom Spielen hatten setzten die Mädchen sich auf das Sofa und verlangten, daß Dmitri ihnen etwas erzählte.

»Etwas Komisches«, bat Ljuba.

Er setzte sich zur Wand, auf die Sofalehne, und ergötzte, unsicher lächelnd, die Mädchen mit Geschichten über die Lehrer und Gymnasiasten.

Manchmal wandte Klim ein:

»Das war ja gar nicht so.«

»Und wenn schon«, gab Dmitri gleichmütig zu, und Klim schien, daß der Bruder, selbst wenn er etwas genau so erzählte, wie es sich zugetragen hatte, doch nicht daran glaubte. Er wußte eine Fülle dummer und komischer Witze, erzählte sie aber, ohne zu lachen, vielmehr beinahe verlegen. Überhaupt hatte sich in ihm eine unverständliche Sorglichkeit entwickelt, und er musterte die Leute auf der Straße mit so forschenden Blicken, als hielte er es für seine Pflicht, jeden einzelnen von den sechzigtausend Einwohnern der Stadt zu ergründen.

Dmitri besaß ein dickes Heft mit Wachstuchumschlag. Darin machte er sich Notizen oder klebte Zeitungsausschnitte hinein; heitere Kleinigkeiten, Witze und kurze Gedichte, die er dann den Mädels in seiner mißtrauisch zögernden Art vorlas:

»Auf dem städtischen Friedhof von Odojewsk lenkt folgende Inschrift auf dem Grabstein der Kaufmannsfrau Polikarpow die Aufmerksamkeit auf sich:

Der Tod fand sie allein, ohne Gatten und Sohn.

In Krapiwnja lärmte der Ball.

Niemand wußte es.

Sie erhielten das Telegramm

Und verließen schleunigst das Hochzeitsfest.

Hier ruht die Gattin und Mutter

Olga – doch was könnte man ihr sagen,

Das ihrer Seele zum Heil gereichte?

Friede ihrer Asche.«

»Was für ein Blödsinn«, regte Lida sich auf.

»Dafür ist es komisch«, meinte Ljuba. »Es gibt nichts Herrlicheres als etwas Komisches.«

In dem breiten Gesicht ihrer Schwester zerfloß langsam ein träges Lächeln.

Manchmal kam Wera Petrowna und fragte uninteressiert:

»Spielt ihr?«

Lida erhob sich sogleich vom Sofa und setzte sich ihr mit betonter Höflichkeit gegenüber, die Somows schmiegten sich geräuschvoll an sie, Dmitri schwieg verlegen und bemühte sich ungeschickt, sein Heft zu verstecken, aber Wera Petrowna fragte:

»Hast du dir etwas Neues aufgeschrieben? Lies vor!«

Dmitri las, sein Gesicht hinter dem Heft verbergend:

»Am blauen Meer steht ein Gendarm.

Das blaue Meer, das lärmt und braust,

Und der Gendarm giftet sich schwer,

Weil er den Lärm nicht verbieten kann.«

»Streich das aus«, befahl die Mutter und ging darauf hoheitsvoll von einem Zimmer ins andere, wobei sie etwas berechnete und ausmaß. Klim sah, daß Lida sie mit feindseligen Blicken verfolgte und sich die Lippen biß. Ein paarmal war er im Begriff, das Mädchen zu fragen:

»Was hast du eigentlich gegen meine Mutter?«

Doch er getraute sich nicht: seit Turobojews Abreise hatte Lida sich ihm wieder freundschaftlich genähert.

Eines Tages kam Klim von der Stunde bei Tomilin heim, als man mit dem Abendessen bereits fertig war. Das Eßzimmer war dunkel, im ganzen Haus herrschte eine so fremde Stille, daß der Knabe, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte, in dem nur von einer Wandlampe dürftig erhellten Flur stehen blieb und ängstlich in die verdächtige Stille horchte.

»Laß, ich glaube, es ist jemand gekommen«, vernahm er da das heiße Flüstern der Mutter. Jemandes schwere Füße schleiften dumpf über den Fußboden mit vertrautem Klang klirrte die Messingpforte des Kachelofens und wieder trat Stille ein, lockend, in sie hinein zu horchen. Das Flüstern der Mutter wunderte Klim, da sie niemand außer dem Vater mit du anredete, der Vater aber gestern aufs Sägewerk hinausgefahren war. Vorsichtig schlich der Junge zur Tür des Eßzimmers, und ihm entgegen seufzten die leisen, müden Worte:

»Mein Gott, wie bist du unersättlich und stürmisch.«

Klim warf einen Blick durch die Tür: vor dem viereckigen, mit roter Kohlenglut gefüllten Ofenschlund, auf dem niedrigen Lieblingssessel der Mutter räkelte sich Warawka. Er hatte den Arm um die Taille der Mutter geschlungen, und sie wippte auf seinen Knien nach vorn und nach hinten wie ein ganz kleines Mädchen. Im bärtigen Gesicht Warawkas, das vom Widerschein der Kohlen erleuchtet war, lag etwas Furchterregendes. Seine kleinen Augen glühten wie die Kohlen. Vom Kopf der Mutter aber über ihren Rücken hinab floß in wundervollen goldenen Bächen ihr mondblondes Haar.

»Ach du!« seufzte sie leise.

In dieser Stellung war etwas, was Klim verwirrte. Er schrak zurück, trat auf seine Galosche, die Galosche schnellte hoch und klatschte auf den Fußboden.

»Wer ist dort?« rief ärgerlich die Mutter und erschien mit unglaublicher Geschwindigkeit an der Tür.

»Du? Bist du durch die Küche gekommen? Warum so spät? Bist du verfroren? Willst du Tee?«

Sie sprach schnell, freundlich, scharrte aus irgendeinem Grunde mit den Füßen und ließ die Türangel kreischen. Dann faßte sie Klim um die Schulter, drängte ihn übertrieben heftig ins Eßzimmer und zündete eine Kerze an. Klim sah sich um. Im Eßzimmer war niemand und in der Tür des Nebenzimmers tiefe Dunkelheit.

»Warum siehst du hin?« fragte die Mutter und blickte ihm ins Gesicht.

Klim antwortete zögernd:

»Mir schien, hier war jemand.«

Die Mutter zog erstaunt die Brauen hoch und blickte ebenfalls in das Zimmer.

»Wer sollte denn hier gewesen sein? Vater ist fort, Lidja, Mitja und die Somows sind zur Eisbahn gegangen, Timofej Stepanowitsch ist bei sich zu Hause – hörst du?«

Tatsächlich polterten oben schwere Schritte. Die Mutter setzte sich an den Tisch, vor den Samowar, prüfte, ob er noch heiß war, goß Tee ein und fuhr dann fort, während sie ihr prachtvolles Haar aufsteckte:

»Ich habe dort am Ofen gesessen und geträumt. Bist du eben erst gekommen?«

»Ja« log Klim, da er begriff, daß es hier notwendig war, zu lügen.

Die Mutter saß schweigend, mit einem feinen Lächeln, da, spielte mit der Zuckerzange und sah in das scheue Licht der Kerze, das sich im Kupferbauch des Samowars spiegelte.

Dann legte sie die Zange aus der Hand, rückte den Spitzenausschnitt ihres Schlafrocks zurecht und erzählte unnötig laut, daß Warawka ihr Großmutters Gutshof abkaufen und dort ein großes Haus bauen wolle.

»Er ist zwar eben nach Hause gekommen, aber ich gehe doch rasch mal hinauf, um mit ihm darüber zu sprechen.«

Sie küßte Klim auf die Stirn und ging. Der Knabe stand auf, trat an den Ofen, setzte sich in den Sessel und streifte mit einer Handbewegung die Zigarrenasche von der Lehne.

»Mama will ihren Mann wechseln, aber sie schämt sich noch«, erriet er. Auf den roten Kohlen sprangen blaue Flämmchen auf und erloschen. Er hatte davon gehört, daß Frauen ihre Ehegatten und Männer ihre Frauen häufig wechselten, Warawka gefiel ihm von jeher besser als der Vater, aber es war doch peinlich und betrübend, zu erfahren, daß auch Mama, die stets ernste und würdige Mama, die alle achteten und fürchteten, die Unwahrheit sprach und sich so ungeschickt herausredete. Da er die Notwendigkeit eines Trostes empfand, wiederholte er: »Sie schämt sich noch.« Das war die einzige Erklärung, die er finden konnte. Doch da rief ihm sein Gedächtnis jene Szene mit Tomilin zurück, er verlor sich in leeres Sinnen über die Bedeutung dieser Szene und schlief ein.

Die häuslichen Ereignisse, so sehr sie Klim vom gründlichen Lernen ablenkten, erregten ihn nicht so heftig, wie das Gymnasium ihn ängstigte, wo er keinen seiner würdigen Platz finden konnte. Er unterschied drei Gruppen von Mitschülern: ein Dutzend Knaben, die musterhaft lernten und sich musterhaft betrugen, dann die bösen und unverbesserlichen Lausbuben, unter denen einige, wie Dronow, ebenfalls vorzüglich lernten. Die dritte Gruppe bestand aus kümmerlichen Knaben, matt, verängstigt und scheu, sowie aus Pechvögeln, die von der ganzen Klasse ausgelacht wurden.

 

Dronow riet Klim:

»Mit denen mußt du dich nicht anfreunden, es sind alles Feiglinge, Jammerlappen und Angeber. Dieser Rote dort ist ein Judenbengel. Jener Schielende wird bald fliegen, er ist arm und kann nicht bezahlen. Der älteste Bruder des Jungen dort hat Galoschen gestohlen und sitzt jetzt in der Verbrecherkolonie, und der dort, der aussieht wie ein Iltis, ist ein uneheliches Kind . . .«

Klim Samgin lernte fleißig, doch ohne großen Erfolg. Streiche hielt er für unter seiner Würde, war dazu übrigens auch gar nicht fähig. So merkte er bald, daß alles ihn gerade zur Gruppe der Geächteten verurteilte. Aber unter ihnen fühlte er sich noch fremder als bei der frechen Kumpanei Dronows. Er sah, er war klüger als alle in seiner Klasse, er hatte schon viele Bücher gelesen, von denen seine Alterskameraden noch keine Ahnung hatten, er fühlte, daß auch die älteren Knaben mehr Kind waren als er. Erzählte er von den Büchern, die er gelesen hatte, hörten sie ihm ungläubig und ohne Interesse zu und verstanden oft gar nicht, was er sagte. Zuweilen begriff auch er selbst nicht, weshalb ein spannendes Buch bei seiner Wiedergabe alles verlor, was ihm daran gefallen hatte.

Einmal fragte das uneheliche Kind, ein finsterer Bursche namens Inokow, Klim:

»Hast du Iwan Hoé gelesen?«

»Eiwenho«, verbesserte Klim, »von Walter Scott.«

»Dummkopf«, sagte Inokow verächtlich. »Warum mußt du alles besser wissen?« und warnte ihn mit einem schiefen Grinsen:

»Paß auf, aus dir wird bestimmt ein Pauker.«

Die Jungen lachten. Sie achteten Inokow, er war zwei Klassen älter als sie, hielt aber Freundschaft mit ihnen und führte den Indianernamen »Feuerauge«. Vielleicht imponierte er ihnen auch durch sein finsteres Wesen und seinen durchdringenden Blick.

Durch die liebevolle Beachtung, die man ihm zu Hause entgegenbrachte, verwöhnt, empfand Klim doppelt schwer die feindliche Geringschätzung von Seiten der Lehrer. Einige waren ihm auch körperlich widerwärtig: der Mathematiker litt an chronischem Schnupfen, nieste schallend und grimmig, wobei er die Schüler bespritzte, und blies hierauf pfeifend die Luft durch die Nase, wobei er das linke Auge zukniff. Der Geschichtslehrer tappte durch die Klasse wie ein Blinder und schlich mit einem Gesicht an die Bänke heran, als wolle er die Schüler der vorderen Reihen ohrfeigen. Während er sich ihnen langsam näherte, quäkte er mit feiner Stimme.

Man nannte ihn daher »Quak«.

Beinahe an jedem Lehrer entdeckte Klim einen ihm unsympathischen Zug. Alle die unordentlichen Menschen in abgetragenen Amtskleidern behandelten ihn, als sei er ihnen gegenüber schuldig, und obgleich er sich bald davon überzeugte, daß die Lehrer den meisten Schülern nicht anders begegneten, erinnerten ihre Grimassen ihn doch an den Ausdruck des Abscheus, mit dem die Mutter in der Küche die Krebse betrachtete, wenn der betrunkene Händler den Korb umstülpte und die Krebse, schmutzig und trocken raschelnd, nach allen Richtungen über den Fußboden krochen.

Doch schon im Frühjahr bemerkte Klim, daß Xaweri Rziga, der Inspektor und Lehrer der alten Sprachen, und mit ihm einige andere Lehrer ihn milder zu beurteilen begannen. Dies geschah, nachdem jemand während der großen Pause zwei Steine ins Fenster des Kabinetts des Inspektors geworfen, die Scheibe eingeschlagen und eine seltene Blume, die auf der Fensterbank stand, zerknickt hatte. Man fahndete eifrig nach dem Schuldigen, ohne ihn zu finden.

Am vierten Tage fragte Klim den allwissenden Dronow, wer die Scheibe eingeworfen habe.

»Wozu willst du das wissen?« erkundigte sich mißtrauisch Dronow.

Sie standen an der Biegung des Korridors, und Klim konnte sehen, wie der gehörnte Schatten des inspektorlichen Kopfes langsam an der weißen Wand entlang kroch. Dronow wandte dem Schatten den Rücken zu.

»Du weißt es also nicht«, reizte Klim den Kameraden. »Und rühmst dich, alles zu wissen.«

Der Schatten hörte auf, sich zu bewegen.

»Natürlich weiß ich es, – es war Inokow«, sagte leise Dronow, als Klim ihn genügend gereizt hatte.

»Er sollte es ehrlich gestehen, sonst müssen für ihn die anderen leiden«, belehrte Klim.

Dronow sah ihn an, zwinkerte, spuckte aus und sagte:

»Wenn er gesteht, fliegt er.«

Ungeduldig surrte die Glocke und rief die Schüler in die Klassen.

Andern Tags, auf dem Heimweg, teilte Dronow Klim mit:

»Weißt du, jemand hat ihn verraten.«

»Wen?« fragte Klim.

»Wen, wen – was stellst du dich dumm? Inokow.«

»Ach, ich vergaß . . .«

»Gestern gleich nach der Pause haben sie ihn geholt. Sie jagen ihn fort. Wüßt' ich nur den Lumpen, der den Angeber gespielt hat.«

Klim hatte wirklich sein Gespräch mit Dronow vergessen. Jetzt begriff er, daß er es gewesen war, der Dronow verraten hatte, und überlegte erschrocken, warum er es getan hatte. Er kam zu dem Schluß, daß das Schattenbild des Inspektors das plötzliche Verlangen in ihm geweckt habe, dem großmäuligen Dronow zu schaden.

»Du bist daran schuld, du hast geschwatzt«, sagte er wütend.

»Wann habe ich geschwatzt?« verteidigte sich Dronow.

»In der Pause, zu mir.«

»Aber du konntest ihn doch nicht angeben? Du hattest doch gar nicht die Zeit dazu. Inokow wurde ja sogleich danach aus der Klasse geholt.« Sie standen sich wie kampfbereite Hähne gegenüber. Aber Klim fühlte, daß es unklug war, sich mit Dronow zu überwerfen.

»Vielleicht wurden wir belauscht?« sagte er friedfertig, und ebenso friedfertig antwortete Dronow:

»Es war niemand da. Jemand aus Inokows Klasse muß ihn verraten haben.«

Sie gingen schweigend. Seine Schuld erkennend, dachte Klim nach, auf welche Weise er sie wieder gutmachen könne, doch da ihm nichts einfiel, verstärkte sich sein Wunsch, Dronow Ungelegenheiten zu bereiten.

In diesem Frühjahr hörte die Mutter auf, Klim mit Musikstunden zu quälen, sie spielte nun selbst eifrig. Abends besuchte sie mit seiner Geige der glatzköpfige Advokat Makow, ein unfroher Mensch mit einer schwarzen Brille im roten Gesicht. In einer knarrenden Chaise kam Xaweri Rziga mit seinem Cello angefahren, – dürr, krummbeinig, mit einem Paar Eulenaugen in der knochigen Glätte. Über seinen gelben Schläfen ragten gleich Hörnern zwei graue Wirbel, beim Spiel streckte er die Zunge heraus, die, am Oberkiefer zwei Goldzähne entblößend, auf seiner Altmännerlippe lag. Er sprach, im Diskant eines Vorsängers in der Kirche, stets etwas Denkwürdiges und immer so, daß man nicht wußte, ob er ernsthaft sprach oder scherzte.

»Will sagen, die Schüler wären viel besser, wenn ihre Eltern nicht lebten. Will sagen, Waisen sind gehorsam«, verlautbarte er, seinen Zeigefinger an die Nase führend. Er legte Klim seine dürre Hand auf den Kopf und wandte sich zu Wera Petrowna:

»In Ihrem Sohn glüht ein ritterliches, ehrliches Herz – dixi.«

Klim selbst belehrte er:

»Um die Wissenschaft zu beherrschen, bedarf es der Beobachtung und des Vergleichs. Dann entblößen wir das innerste Mark der Wirklichkeit.«

Beobachten, – das verstand Klim gut. Er glaubte, bei seinen Kameraden unbedingt Mängel suchen zu müssen, er war unruhig, wenn er keine fand, doch sich zu beunruhigen war selten Anlaß, weil er sich einen untrüglichen Maßstab geschaffen hatte: alles, was ihm mißfiel oder seinen Neid erregte, war schlecht. Er hatte es bereits gelernt, das Lächerliche und Dumme der Menschen aufzufangen, mehr: er verstand es meisterhaft, die Fehler des einen in den Augen des anderen zu unterstreichen. Als Boris Warawka und Turobojew in den Ferien nach Hause kamen, bemerkte Klim als erster, daß Boris etwas sehr Schlimmes begangen haben mußte und Furcht hatte, daß man es erfuhr. Er war zerstreut und unruhig. Wie früher im Spiel unermüdlich, erfinderisch in Streichen, war er reizbar geworden, auf seinem sommersprossigen Gesicht flammten kleine rote Flecke auf, die Augen funkelten angriffsbereit und wütend, und wenn er lächelte, zeigte er die Zähne, wie um zu beißen. In seiner wilden Unrast witterte Klim etwas Gefährliches und wich dem Spiel mit ihm aus. Auch bemerkte er, daß Igor und Lida in Boris' Geheimnis eingeweiht waren. Sie versteckten sich zu dritt in den Ecken und tuschelten besorgt miteinander.

Da – eines Abends, der Postbote hatte gerade einen Brief abgegeben –, krachte das Fenster von Warawkas Arbeitszimmer, und seine Stimme schrie zitternd vor Unwillen:

»Boris, komm einmal her!«

Boris und Lida knüpften auf der Küchentreppe aus Bindgarn ein Netz, Igor schnitzte aus einer hölzernen Schaufel einen Dreizack. Man beabsichtigte einen Gladiatorenkampf zu veranstalten. Boris stand auf, zupfte seine Bluse zurecht, zog sich den Gurt straffer und bekreuzigte sich hastig.

»Ich gehe mit dir«, sagte Turobojew.

»Ich auch?« sagte Lida in fragendem Ton, aber ihr Bruder stieß sie sanft zurück und sagte:

»Untersteh dich!«

Die Knaben gingen. Lida blieb zurück, warf das Garn aus der Hand und hob horchend den Kopf. Kurze Zeit vorher war der Garten vom Regen reichlich besprengt worden, im vom Abendrot bestrahlten Laub funkelten lustig bunte Tropfen. Lida fing an zu weinen, wischte mit dem Finger die Tränentröpfchen von den Wangen, ihre Lippen bebten, und ihr ganzes Gesicht verzog sich schmerzhaft. Klim beobachtete es vom Fenster seines Zimmers aus. Er schrak zusammen, als über ihm das wütende Geschrei Warawkas ertönte:

»Du lügst!«

Sein Sohn antwortete mit einem ebenso durchdringenden Geschrei:

»Nein! Er ist ein Schuft!«

Dann wurde die immer ruhige Stimme Igors vernehmlich:

»Erlauben Sie, lassen Sie mich erzählen.«

Das Fenster oben wurde geschlossen, Lida erhob sich und ging durch den Garten, wobei sie absichtlich die Zweige der Sträucher streifte, damit die Regentropfen ihr auf den Kopf und ins Gesicht fielen.

»Was hat Boris getan?« fragte Klim sie. Es war nicht das erste Mal, daß er in sie drang, doch Lida antwortete ihm auch dieses Mal nicht, sondern blickte ihn nur an wie einen Fremden. Ihm kam der heftige Wunsch, in den Garten hinabzuspringen und sie gehörig bei den Ohren zu nehmen. Seit Igor zurückgekehrt war, hatte Klim wieder aufgehört, für sie zu existieren.

Nach dieser Szene begannen sowohl Warawka wie die Mutter Boris zu betreuen, als habe er soeben eine gefährliche Krankheit überstanden oder eine heldenmütige und geheimnisvolle Tat vollbracht. Dies erbitterte Klim, reizte Dronows Wissensdrang und schuf im Hause eine unangenehme Atmosphäre der Heimlichkeiten.

»Zum Teufel«, brummte Dronow und kratzte sich die Nase, »einen Groschen würde ich geben, wenn ich erfahren könnte, was er ausgefressen hat. Ach, wie ich diesen Burschen nicht leiden kann . . .«

Klim schmeichelte sich bei der Mutter ein, um herauszukriegen, was mit Boris geschehen sei, doch sie wehrte ab:

»Man hat ihn schwer gekränkt.«

»Wodurch?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

Klim blickte in ihr strenges Gesicht und verstummte resigniert, fühlte jedoch, daß seine alte Abneigung gegen Boris mit verdoppelter Kraft wieder auflebte.

Eines Tages gelang es ihm zu belauschen, wie Boris, hinter dem Schuppen versteckt, lautlos weinte. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte so heftig, daß er hin und her schwankte, und seine Schultern bebten wie bei der weinerlichen Wera Somow. Klim wollte sich Warawka nähern, traute sich aber nicht, außerdem war es angenehm zu sehen, wie Boris weinte, und nützlich zu erfahren, daß die Rolle des Gekränkten nicht so beneidenswert war, wie es schien.

Plötzlich leerte sich wieder das Haus. Warawka schickte die Kinder, Turobojew und die Somows unter der Aufsicht Tanja Kulikows zu einer Dampferfahrt auf der Wolga: Klim war natürlich auch eingeladen, aber er sagte gesetzt:

»Ich muß mich doch aber fürs Examen vorbereiten?«

Er wollte mit dieser Frage nur an seine ernste Auffassung von der Schule erinnern, aber die Mutter und Warawka hatten es merkwürdig eilig, ihm darin zuzustimmen, daß er nicht mitfahren konnte. Warawka nahm ihn am Kinn und sagte sogar belobend:

 

»Brav! Aber du solltest es dir nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, daß die Wissenschaft dir sauer wird, alle begabten Menschen waren schlechte Schüler.«

Die Kinder reisten ab. Klim weinte fast die ganze Nacht vor Kummer. Einen Monat lebte er mit sich allein wie vor einem Spiegel, Dronow verschwand schon in aller Frühe, er befehligte eine Bande Straßenjungen, ging mit ihnen baden, führte sie in den Wald zum Pilzesammeln und sandte sie zu Überfällen auf Gärten und Gemüsefelder aus. Aufgeregte Leute kamen zur Amme, um über ihn Klage zu führen, doch sie war schon ganz taub und starb mählich in ihrer kleinen dämmrigen Kammer hinter der Küche dahin. Während die Leute schreiend ihre Klagen vorbrachten, wälzte sie ihren Kopf auf dem eingefetteten Kissen hin und her und murmelte, ihnen wohlwollend versprechend:

»Nun, nun, der Herr sieht alles, der Herr wird alle bestrafen . . .«

Die Leute verlangten »die gnädige Frau«. Strenge und aufrecht trat sie auf die Freitreppe hinaus, und nachdem sie die furchtsamen und wirren Reden angehört hatte, verhieß auch sie:

»Gut, ich werde ihn bestrafen.«

Doch sie bestrafte ihn nicht. Nur einmal hörte Klim, wie sie in den Hof rief:

»Iwan, wenn du Gurken stiehlst, wird man dich von der Schule jagen!«

Sie und Warawka wurden immer weniger sichtbar für Klim. Spielten sie Verstecken miteinander? Einige Male am Tage wandte man sich an ihn oder an Malascha mit der Frage:

»Wo ist die Mutter – im Garten?«

»Ist Timofej Stepanowitsch schon gekommen?«

Wenn sie sich sahen, lächelten sie einander an, Klim war das Lächeln der Mutter fremd, ja unangenehm, wenngleich ihre Augen dunkler und noch schöner geworden waren, während Warawkas schwere, wulstige Lippe gierig und mißgestaltet aus dem Bart hing. Neu und unangenehm war auch, daß die Mutter sich so stark und reichlich parfümierte, daß das Parfüm, wenn er ihr vor dem Schlafengehen die Hand küßte, seine Nüstern beizte und ihm beinahe Tränen in die Augen trieb, wie der grausam scharfe Geruch des Meerrettichs. An Abenden, an denen nicht musiziert wurde, führte Warawka die Mutter am Arm durch das Eßzimmer oder den Salon und brummte:

»O–o–o! O–o–o!«

Die Mutter lächelte ironisch dazu.

Wenn aber gespielt wurde, nahm Warawka in seinem Sessel hinter dem Flügel Platz, brannte sich eine Zigarre an und betrachtete durch die schmalen Spalten seiner zugedeckten Augen und durch den Rauch Wera Petrowna. Er saß regungslos da, es schien, ihn schläferte, er entließ Rauchwolken und schwieg.

»Schön?« fragte lächelnd Wera Petrowna.

»Ja«, antwortete er leise, als fürchte er, jemand zu wecken. »Ja.«

Und einmal sagte er:

»Dies ist das Schönste, weil es immer etwas Ewiges ist, – die Liebe.«

»Nein, nicht doch«, wandte Rziga ein, »nichts Ewiges.«

Und er hob die Hand mit dem Violinbogen hoch empor und verbreitete sich so lange über die Musik, bis der Advokat Makow ihn unterbrach:

»Meine selige Frau liebte die Musik nicht.«

Seufzend und gallig setzte er hinzu:

»Ich bin völlig außerstande, eine Frau zu begreifen, die die Musik nicht liebt, während doch selbst Hühner, Wachteln und . . . hm . . .«

Die Mutter fragte ihn:

»Sind Sie lange Witwer?«

»Neun Jahre. Ich war siebzehn Monate verheiratet. Ja.«

Alsdann begann er von neuem auf seiner Geige zu spielen.

Klim fiel in den Unterhaltungen der Erwachsenen über Gatten, Ehefrauen und Familienleben der unsichere, schuldbewußte und oft spöttische Ton dieser Gespräche auf, es war gleichsam von traurigen Irrtümern und verkehrten Handlungen die Rede. Er sah die Mutter an und fragte sich, ob auch sie so sprechen würde.

»Nein, sie wird es nicht«, antwortete er überzeugt und lächelte.

In einem freundlichen Augenblick fragte Klim sie:

»Hast du einen Roman mit ihm?«

»O Gott, es ist noch viel zu früh für dich, an solche Dinge zu denken«, sagte aufgeregt und ärgerlich die Mutter. Dann wischte sie sich mit ihrem Spitzentüchlein die purpurnen Lippen und bemerkte sanfter:

»Siehst du, er ist allein und ich auch. Wir langweilen uns. Langweilst du dich nicht auch?«

»Nein«, sagte Klim.

Aber er langweilte sich tödlich. Die Mutter kümmerte sich so wenig um ihn, daß Klim bis zum Mittagessen und bis zum Tee sich ebenso unsichtbar zu machen begann wie sie und Warawka. Er empfand ein schwaches Vergnügen, wenn er hörte, wie das Mädchen ihn im Hof und im Garten suchte.

»Wo steckst du eigentlich immer?« fragte befremdet und manchmal sogar unruhig die Mutter. Klim antwortete:

»Ich denke nach.«

»Worüber?«

»Über alles. Auch über die Stunden.«

Die Stunden bei Tomilin wurden immer öder und verworrener. Der Lehrer selbst war unnatürlich in die Breite gegangen und hatte etwas Untersetztes bekommen. Jetzt trug er ein weißes Hemd mit gesticktem Kragen. An seinen nackten, kupferbraunen Füßen glänzten Pantoffeln von grünem Saffianleder. Wenn Klim etwas nicht verstand und Tomilin darauf aufmerksam machte, blieb der, ohne Unwillen zu äußern, doch offensichtlich befremdet, mitten im Zimmer stehen und sagte fast immer dieselbe Phrase:

»Du mußt vor allen Dingen eins begreifen: das eigentliche Ziel aller Wissenschaft ist die Gewinnung einer Reihe von einfachsten, verständlichen und tröstlichen Wahrheiten . . .«

Er trommelte mit den Fingern auf seinem Kinn, überflog die Zimmerdecke mit dem Weiß seiner Augäpfel und fuhr eintönig fort:

»Eine solche Wahrheit ist Darwins Theorie vom Kampf ums Dasein, – du erinnerst dich, ich habe dir und Dronow von Darwin erzählt. Diese Theorie weist die Unvermeidlichkeit des Bösen und der Feindseligkeit auf der Erde nach. Dies, Bruder, ist der gelungenste Versuch des Menschen, sich vollkommen zu rechtfertigen. Hm, ja . . . Erinnerst du dich an Doktor Somows Frau? Sie haßte Darwin bis zum Wahnsinn. Es ist denkbar, daß eben dieser bis zum Wahnsinn gesteigerte Haß es ist, der die allumfassende Wahrheit gebiert . . .«

Stehend redete er am wirrsten und rief dadurch Verdruß hervor. Klim hörte nun dem Lehrer nicht mehr genau zu: ihn beschäftigten eigene Sorgen. Er wollte die Kinder so empfangen, daß sie sogleich sähen, er war nicht mehr der, den sie zurückgelassen hatten. Lange grübelte er, was er zu diesem Zweck unternehmen solle, und gelangte zu dem Ergebnis, durch nichts würde er sie stärker verblüffen, als wenn er eine Brille trüge. Er klagte der Mutter, die Augen würden ihm so rasch müde, man habe ihm im Gymnasium zu einer Brille geraten, und schon am nächsten Tag beschwerte er seine spitze Nase mit dem Gewicht zweier Gläser von rauchgrauer Farbe. Durch diese Gläser erschien alles auf Erden wie mit einer leichten Schicht von grauem Staub überzogen, und selbst die Luft wurde grau, ohne ihre Durchsichtigkeit zu verlieren. Der Spiegel überzeugte Klim vollends davon, daß sein feines Gesicht etwas Bezwingendes bekommen hatte und außerdem klüger aussah.

Doch kaum waren die Kinder zurückgekehrt, als Boris, der Klims Hand absichtlich nicht aus seinen starken Fingern ließ, spöttisch sagte:

»Seht doch, da habt ihr den Affen aus der Fabel!«

Ljuba Somow rief mitleidig:

»Oh, du bist ja ein Eulenkücken geworden!«

Turobojew lächelte höflich und verletzend, noch verletzender aber war die Gleichgültigkeit Lidas, die ihre Hand auf Igors Schulter legte und Klim mit einer Miene ansah, als wünsche sie, ihn nicht zu erkennen. Sie seufzte müde und fragte beiläufig:

»Sind deine Augen erkrankt? Warum tut dir eigentlich immer etwas weh?«

»Mir tut niemals etwas weh!« sagte Klim empört, er fürchtete, daß er sofort in Tränen ausbrechen würde.

Doch von diesem Tag an bemächtigte sich seiner glühender Haß gegen Boris, und dieser, der sein Gefühl rasch erraten hatte, tat alles, es zu schüren, indem er jeden Schritt und jedes Wort Klims grausam verspottete. Die Vergnügungsreise hatte sichtlich nicht vermocht, Boris zu beruhigen, er blieb so gereizt, wie er aus Moskau gekommen war, genau so argwöhnisch und sprungbereit funkelten seine dunklen Augen, und von Zeit zu Zeit überfiel ihn eine sonderbare Zerstreutheit und Müdigkeit, er hörte auf zu spielen und zog sich in einen Winkel zurück.