Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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Bei Tage roch die Luft nach Weite, nach Schlamm und nach Fisch. Nur an den Koppeln stach der bekannte Duft nach frischem Gras heraus. Dennoch waren ihr die fremden Dünste nicht unangenehm, wie sie fremde Dünste in der Stadt gewöhnlich empfindet.

Jetzt hat sich etwas verändert. Wind heult ums Haus und es scheint sogar, dass Regen an die Fenster peitscht. Unter diesem dicken Dach kann sie die Geräusche nicht so gut ausmachen wie zuhause in ihrer Wohnung, wo sie jeden Mucks vom anderen unterscheidet. Zudem liegen die Fenster hier oben so weit hinter der vorspringenden Wulst aus Reet, dass es die Regentropfen schwerhaben könnten.

Ida kann jetzt kein Auge zumachen. Sie lauscht in die Nacht. Dabei geht ihr merkwürdigerweise durch den Kopf, dass sie den Namen der Leute gar nicht kennen würde, wäre er nicht auf den Stein geritzt worden. Von der wortkargen Frau haben sie ihn schließlich nicht erfahren, und in ihrem Glückwunschschreiben stand nur der Name der Insel. Sie denkt an den Anruf von gestern: Fritsch oder ähnlich hatte der Anrufer gesagt. Aber ein F stand nicht auf dem Stein, nur M. und H. Peterson.

Fast schläft sie darüber ein. Nicht lange, und sie hat das Gefühl, sie liege auf schwankenden Schiffsplanken. Das kann kein Wind mehr sein, denkt sie, und greift behutsam nach Ben. Der aber schläft tief und befriedigt, wie Männer danach wohl alle sind.

Auf nackten Füßen schleicht sie zum Fenster. Der Regen verhindert jede Sicht in die Ferne. Gerade noch kann sie schleierhaft erkennen, wie sich der Busch hinterm Haus und der Baum daneben gespenstisch biegen. Wenn sie jetzt Ben wach macht, lacht er sie aus.

Irgendetwas schlägt hart auf. Immer wieder. Sie schleicht die schmale Treppe hinunter. Irgendwo muss ein Fenster offenstehen, sie spürt den stürmischen Atem der See. Und sie fröstelt sogar, ob vor Angst oder ob es wirklich so kühl geworden ist, kann sie nicht sagen.

Im Halbdunkel stolpert sie über einen Gummistiefel, der, wer weiß woher herausgefallen sein muss. Am Abend stand da keiner. Irgendwann weckt sie Ben, versucht es jedenfalls. Noch im Halbschlaf nimmt er sie in seine Arme, zieht sie unter seine Decke und presst seinen Körper, der noch nicht wieder bekleidet ist, an ihre Seite.

»Schlaf jetzt«, murmelt sein Mund, der nur ganz flüchtig einen Kuss auf ihre Schläfe drückt. »Da hat doch jemand von Sturm geredet«, hört sie ihn lallen, und sie fühlt, wie er sie fester an sich drückt, dass sie seine Männlichkeit spürt: »Ich habe alles niet- und nagelfest gemacht.« Kaum sind seine Worte vom Kissen verschluckt, wird seine Arm auf ihrer Lende schwerer und sein Atem in ihrem Nacken noch tiefer, noch stärker als zuvor. Seit Langem liegen sie wieder wie früher zusammen in einem Bett. Sie rundgerollt wie ein Baby, er mit seinem Bauch an ihrem Rücken, was für beide etwas Erotisches hätte, wäre Ben nicht zu erschöpft von der Liebe.

Sie ergibt sich seinem Wunsch, still zu halten, und sie hofft, schnell einschlafen zu können. Diese Bauernhäuser stehen seit ewiger Zeit und trotzen den Unbilden der Natur. Warum sollte heute etwas passieren, ausgerechnet jetzt, wenn sie hier sind. Das wäre in der Tat nicht logisch, und logisch war sie noch immer.

Bevor sie langsam hinüber driftet, taucht eine Erinnerung aus längst vergessener Kinderzeit nebelhaft in ihr Gedächtnis. Es waren ähnliche Worte, wie sie ihre Mutter gebrauchte, wenn die kleine Ida bei einem Gewitter ins Bett der Mama gekrochen kam und sich fest an sie kuschelte: Dir kann gar nichts passieren. Ich bin ja bei dir. Als ob ein Blitz nur dort einschlägt, wo es einsame Kinder gibt. Als ob man einen Donner weniger hört, wenn die Mama neben einem liegt.

Merkwürdig, dass sie sich gerade jetzt wieder wie ein Kind fühlt, das in Zärtlichkeit gehüllt von allen Sorgen enthoben werden soll. Wann gab es das zuletzt? Nicht von Ben, seit Langem nicht mehr.

DIE STURMFLUT

Ida glaubt, das Unterbewusstsein hat sie geweckt. Sie zwingt sich, die Augen zu öffnen und miteinander zu verbinden, was die Ohren längst hören aber der Kopf nicht wahr haben will. Mit großem Getöse rüttelt der Sturm am Haus. Sie stemmt sich gegen ihre Angst, weil sie stark sein will. Ben würde anderenfalls wieder in seine Art des Kleinredens verfallen, oder sie der Panikmache schelten, und weg wäre die gerade zurückgewonnene Harmonie.

Noch wehrt sie sich gegen klares Denken, das nur bedrohlich sein würde. Im Dämmerzustand so nah bei Ben lässt es sich in der Tat leichter verharren. Wenn er doch nur bald aufwachen würde. Sie muss sich der Lage stellen, in der sie ist.

Der Wind scheint ein Vielfaches stärker zu sein als am Abend. Sie lauscht in den Morgen zwischen Bens ziehendem Atem und dem heulenden Sturm. Ein heftiger Schlag, ein Poltern irgendwo im Haus treibt sie in die Höhe. Ben spürt ihre Bewegung, aber er grunzt nur undeutlich und möchte sie mit einem kurzen Griff dazu bewegen, noch eine Stunde zu schlafen. Das kann sie nicht. Sie schleicht zum Fenster, das viel weniger dicht zu sein scheint, als behauptet, weil die Vorhänge sich bewegen. Der blaue Himmel des Vortages ist unsichtbar und tief ergraut. Der würzige Duft der Wiese nach Schafgarbe, das Wogen wippend-rosa Köpfe der Grasnelken und das Zittern der feinen gelben Blüten vom Hornklee sind weggespült vom vielen Regen. Alles versinkt im diffusen Dunst einer Macht, die sich ihrer Erwartung an einen Tag voller Innigkeit mit Ben, wenigstens aber voller Eintracht, entgegenstemmt.

Beim Anblick der Bilder um sie herum pfeift sie auf Ben und seine Müdigkeit, sie muss hinunter, schauen, was los ist. Völlig unverständlich für eine Frau aus der Stadt, denkt sie in diesem Moment an die Tiere fremder Leute, die ihr als einzige Pflicht anvertraut wurden. Ob sie trocken geblieben sind in ihrem Holzverschlag? Gestern hat sie bemerkt, wie der Wind durch die Ritze weht. Und gestern war er nicht halb so heftig. Bei diesen Dingen, in denen Verantwortung zu tragen ist, war sie das ganze Leben der Vorreiter, ehe Ben überhaupt eine Notwendigkeit für sich erkannt hat. Zumeist hatte er ihrem Drängen nur nachgegeben und lustlos Vorkehrungen getroffen, die nur sie für nötig erachte, wie er zu sagen pflegt.

Sie schlüpft in Jeans und Pullover und steigt die schmale Treppe hinunter. Es knackt im alten Gebälk, aber das kennt sie noch aus der Kinderzeit. Immer wenn sie die Holzstufen zum Dachboden hinauf ist, knackte es irgendwo gespenstisch. Sie hatte sich nicht selten gruselige Geschichten ersonnen, und vermutlich war damit der Grundstein gelegt für späteres Schreiben.

Im fensterlosen Flur ist es düster, nur wenig Licht fällt durch die offene Küchentür auf den gefliesten Boden. Durch die geschlossene Haustür dringt schwallartig etwas Wasser in den Flur. Hastig sucht sie nach den Gummistiefeln, findet den anderen vom einzigen Paar hinter einem Vorhang. Sie sind ihr einige Nummern zu groß — bestimmt würden sie auch Ben noch eine oder zwei Nummern zu groß sein.

Ganz vorsichtig öffnet sie die Tür, schlägt sie hastig wieder zu und rennt rücksichtslos polternd nach oben.

»Ben!«, schreit sie schon von der Treppe her, »du musst kommen, es ist nur noch Wasser um uns, kein Land mehr.«

Das stimmt nicht ganz. Zur anderen Seite des Hauses, zur Abbruchkante hin, ist noch viel Land zu sehen, aber vor dem Haus zum Watt hin sieht sie keinen Horizont mehr.

Ben hebt seinen Kopf, lässt ihn zurückfallen auf das Kissen und sagt, eher mürrisch als erschrocken, »Wir sind auf einer Insel, schon vergessen?«

»Verdammt!«, schreit sie ihn an. »Ja, auf einer Insel aber nicht auf einem schwimmenden Haus. Herrgott, nun komm endlich! «

Hastig, fast vorwärtsstolpernd in den viel zu großen Stiefeln, läuft sie die Stufen zurück, stürzt in die Küche und prüft, ob die Fenster dicht sind und ansonsten alles noch in Ordnung oder brauchbar ist. Erst dann verlässt sie das Haus, kämpft mit ganzer Kraft gegen den Sturm an und schleppt sich durch knöchelhohes Wasser bis zum hölzernen Schuppen außerhalb des festgemauerten Komplexes von Haus und Scheunen. Dieser Holzschuppen scheint ihr plötzlich am gefährlichsten zu werden. Am gefährdetsten ist er ohnehin. Ihr stockt der Atem. Die Jauchegrube verströmt einen widerlichen Gestank, vermutlich läuft sie über. Dieser Gedanke erzeugt bei der vom Luxus der Großstadt verwöhnten Frau sofort Übelkeit.

Der Sturm zaust an ihrem Haar, der Regen peitscht wie Drahtseile gegen ihren Leib und durchnässt schon auf den wenigen Schritten ihre Kleider. Sie kann die schwere Tür, vermutlich der stabilste Teil der ganzen Bude, kaum bändigen, aber drinnen wird es ruhiger sein, denkt sie noch, dann versinkt die Welt um sie herum.

Als sie zu sich kommt, schmerzt ihr Kopf und ihr Gesicht wird von Wasser umspült. Dicht bei ihr, zwischen dem Kaninchenstall und den Heuballen, liegt ein Balken quer. Diese verrückten Träume, denkt sie wie schlaftrunken. Sie spürt eine Taubheit, die ihr befiehlt, liegen zu bleiben und weiter zu schlafen, sich an Ben zu kuscheln und sich an ihm zu wärmen. Ihr ist kalt. Um sie herum ist alles nass, aber Ben ist gar nicht zu spüren an ihrer Seite. Sie versucht, die Augen zu öffnen. Das verschwommene Bild um sie herum ist ein anderes als gewohnt: Weder das heimische Schlafzimmer, noch die Badewanne. Wo, verdammt, kann sie so nass sein wie in der Badewanne? Sie will nach Ben schauen, da schwappt salziges Wasser in ihren Mund. Salzig! Langsam kommen die Bilder wieder. Sie ist auf diesem Eiland, diesem von Menschen verlassenen Stück Land mitten im Meer. Diese Menschen wussten, warum sie an diesem Tag nicht hier sein sollten. Verdammt.

»Ben! Zum Teufel hilf mir…! « Nur mühsam dreht sie sich zur Seite, bekommt sofort wieder einen Schwall schmutzigen, salzigen Wassers in den Mund, in dem sich Heu verfangen hat und ganz bestimmt auch Hühnerscheiße. Sie spuckt und krächzt aus Angst, sie müsste daran ersticken oder sich vergiften mit Salmonellen oder scheußlichen Viren. Mit unsäglichem Kraftaufwand gelingt es ihr, die Knie unter den Leib zu schieben, um den Rücken krümmen zu können und vorsichtig den Kopf zu heben. Sie bekommt keine Luft. Vermutlich hatte sie in ihrer Ohnmacht schon Wasser geschluckt, das sich langsam in ihrer Lunge breitmacht, Bläschen für Bläschen. Die Kraft, um zu husten, fehlt ihr. Der leere Magen will den Ekel loswerden. Wenigstens hat sie im Vierfüßlerstand hockend eine gewisse Distanz zwischen ihrem Mund und dem dreckigen Wasser. Vorsichtig befühlt sie ihr Gesicht, ob es eine Wunde hat, ob Blut im Spiel ist. Eine Stelle zwischen Stirn und Schläfe tut höllisch weh und fühlt sich geschwollen an. Einäugig blinzelt sie um sich. Die Kaninchen im untersten Stall werden gleich dasselbe erleben, was sie durchmacht, wenn nicht bald etwas geschieht.

 

Irgendwo poltert schon wieder etwas. Reflexartig reißt sie die Arme schützend über ihren Kopf. Gleich darauf hört sie die Stimme von Ben: »Ja was machst du denn für Sachen!« Sie sieht sein Gesicht nicht, aber sie stellt sich vor, wie wütend er ist. Oh, Ben kann wütend werden, wenn sich jemand — nein, wenn sie sich — anders verhält als er es für richtig erachtet.

Sie spürt seine Arme unter ihren Achseln. Nur verkrampft dreht sie sich so, dass es ihm leichter fällt, ihr hoch zu helfen. Der Schmerz in ihrem Kopf pocht so heftig, dass ihr noch übler davon wird, als ohnehin. Sie möchte sich übergeben.

»Ich wollte…«, stammelt sie zu ihrer Entschuldigung, aber Ben ist nicht nach einer Diskussion zumute. Allzu optimistisch, er würde sie verstehen, ist sie ohnehin nicht. Nicht einmal nach dieser Nacht, die ihr bruchstückhaft wieder einfällt. Erinnert sie sich richtig, müsste doch gerade diese Nacht alles einfacher machen. Liebesnächte haben das Leben mit Ben eine Zeit lang immer einfacher gemacht.

»Die Kaninchen und die Hüh…«

Um sie herum kracht es wieder, und es stürmt so heftig, dass die Bretterwände kaum Schutz bieten. Sogar Ben schaut sich dauernd nach irgendetwas um, was gefährlich werden könnte. Als ihr Körper sich soweit in die Höhe streckt, dass sie beinahe auf den eigenen Füßen steht und sie sich selbst nach allen Seiten umschauen kann, hört sie Bens vorwurfsvolle Worte. »Lass doch das blöde Vieh. Darum kümmern wir uns später. Los…! Erst mal zurück ins Haus, trockene Sachen an … und dann… «

Auch Bens Stimme ist atemlos wie ihre. Auch sein Atem klingt so erregt, als würden sie sich gerade lieben.

Erst jetzt bemerkt sie, dass Ben mit nackten Füßen in seinen Plastikpantoffeln steckt. An einer Stelle seitlich vom Haus reicht ihm das Wasser bis zum Knöchel. In ihren Stiefeln blubbert es und von ihren Kleidern fließen Bäche an ihr herunter, dass sie es auf der Haut spüren kann.

Schritt für Schritt auf wackligen Beinen aber mit Übelkeit im leeren Magen hält sie sich rechts an Ben fest, links tastet sie sich an der Trennwand entlang, die uneben und voller gefährlicher Holzschiefer kein guter Ausgleich zu Bens festem, vielleicht auch wütendem Griff ist. So genau kann sie noch gar nicht denken, was sie Ben aber unbedingt verheimlichen muss.

»Hätte die … ich meine, die Frau des Hauses … nur einmal ein einziges Wort gesagt! Hätte sie mich auch nur gefragt, was ich mir als schlimmstes Szenario vorstellen würde, ich hätte genau das gesagt: Land unter. Und ich hätte ganz bestimmt gefragt, was zu tun ist. Aber niemand hat uns auf ein solches Dilemma vorbereitet.«

Niemand? Sie scheint wieder klar denken zu können, hofft sie jedenfalls.

»Da war doch der Anruf…«, sagt Ben keuchend unter der Last ihres Körpers.

»Ja, verdammt. Da war der Anruf!«

Jetzt nicht auch noch wütend werden. Bloß nicht das. Nicht einmal, falls das ein versteckter Vorwurf war.

Konnte sie alles richtig an Ben weitergeben? Nein. Aber es hat ihn auch nicht angehoben. Nichts, was er nicht selbst erlebt, hebt ihn je wirklich aus seiner stoischen Art. Ihr Vorwurf an ihn ist jetzt ebenso fehl am Platz, aber die Hoffnung, er könnte wenigstens einsehen, dass er hätte auf den Funkspruch aktiver reagieren können, wenigstens am Morgen nach ihrem Hinweis auf das Wasser eher hätte agieren können, diese Hoffnung hat sie nicht.

»Ja, mein Gott. Was sollten wir mit ungenauen Angaben auch anfangen?«, faucht er, weil er es seit einigen Jahren nicht verträgt, wenn sie ein krummes Haar an ihm sucht.

Wir?, denkt sie wütend. Wieder einmal wir? Also auf keinen Fall er. Ist die Technik nicht von jeher sein Metier?

Sie erreichen das Haus. Ben stützt sie beim Gehen, als sei sie ein Greis, was ihm ihr hilfloser Zustand offenbar aufträgt. Im Flur drückt er sie auf die Holzbank und holt die trockenen Sachen, die noch vom Abend in der Küche über der Stuhllehne hingen. Er will ihr beim Entkleiden helfen, aber sie will es nicht.

»Na, dann mach ich uns erst einmal ein heißes Frühstück, danach sehen wir weiter.« Der Gedanke an heißen Kaffee und duftenden Toast versöhnt sie sofort. Vielleicht ein Ei, denkt sie, sagt es aber nicht, weil Ben nie gut im Eierkochen war. Dennoch will sie dankbar sein für seine Hilfe. Kein Gedanke an Pflicht.

Vielleicht muss sie lernen, gerechter zu denken: Ja, er wollte den richtigen Umgang mit dem Funktelefon recherchieren, aber das erschien auch ihr völlig unnötig. Sie haben beide ihre Handys dabei, und wenn jemand sie anfunkt, dann spricht er sowieso gleich seinen Text. Und eine Nummer für einen Rückruf ist ohnehin nicht dabei gewesen. Das alles behält sie für sich, froh, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, wenn auch nicht mehr so sicher.

Noch ehe Ida wankend mit ihrem Bündel Kleider ins Badezimmer verschwindet, drückt Ben sie sanft an sich. »Mach nicht immer solche Geschichten!«

Sie nickt nur schuldbewusst. Was sollte sie tun? Er war es, der die Sache unterschätzt hat. Sollte sie ihm das unter die Nase reiben? Jetzt? Es würde nur auf sie selbst zurückfallen. Seine immer gleichen Worte, sie sei streitsüchtig und rechthaberisch, haben sie zu oft verletzt. Dabei will sie doch nur logisch mitdenken, nichts weiter. Das Wort Logik passt offenbar in Bens Vorstellung leider nicht zu einer Frau. Und logisch muss sie sein, sonst könnte sie ihren Beruf an den Nagel hängen. Wie sehr sie sich vor jeder Diskussion fürchtet, vor jedem Streit, vor jedem unbedachten Wort, will Ben gar nicht spüren. Ihm scheint es seit Jahren besser zu gefallen, ihr eine Schwäche nachzusagen, als etwas an ihr anzuerkennen. Vielleicht spürt er auch gar nicht, dass er sie verletzt, was für sie nicht weniger enttäuschend ist. Freilich könnte sie anders mit ihm reden. Aber wie sollte man nach so vielen Ehejahren noch die Grundregeln einer intakten Ehe besprechen? Und um nichts anderes geht es ihr — bei aller Liebe.

Wenn sie etwas braucht, dann ist es Harmonie. Leider funktioniert die nicht einseitig. Leider. Sie selbst würde alles daran setzen…

STROMAUSFALL

Solange Ida ihre Verletzung kühlt und alles daran setzt, wieder zu Kräften zu kommen, rettet Ben Winter vor dem steigenden Wasser, was ihm zu retten gelingt, ohne zu wissen, was wirklich sinnvoll ist und was noch passieren kann.

Zuerst, auf Idas flehende Bitte hin und einigermaßen widerwillig, holt er drei der Kaninchen aus den unteren Stallbuchten.

»Warum müssen die auch hier in dem windigen Verschlag hausen!«, wettert er vor sich hin, »da gibt es doch noch den gemauerten… «, Schon mit der ersten Berührung des kuschelweichen Fells wird seine Stimme butterweich: »Na, mal sehen, was wir machen können mit euch Schlawinern…« Er setzt die drei, die bisher allein in je einer Bucht hausten, zu den anderen weiter oben, unwissend, was ein Rammler ist und was eine Häsin. Ben Winter grinst verschlagen: »Na dann, habt mal Spaß miteinander. Vielleicht gibt es bald Nachwuchs in Hülle und Fülle!«

Die Hühner scheinen den Zustand von Landunter zu kennen und bleiben auf ihren Stangen. Zwei Hennen gackern verschreckt in den Nestbuchten, als Ben nach ihnen schaut. Wenigstens haben sie ihre Pflicht noch erfüllt und Eier gelegt, die er zu Ida in die Küche bringen wird. Als er anschließend prüft, wohin er die Hühner und Kaninchen im Notfall bringen könnte, entdeckt er im festen Anbau auf der anderen Seite des Hauses einen Stapel Säcke. Futter ist nicht darin, was er vor steigendem Wasser zu schützen hätte und was ihm die Anstrengung erspart, die Säcke die schmale Stiege hinauf nach oben zu hieven. Keiner ist verschlossen. Es ist Sand darin. Inzwischen feuchter Sand, aber es ist gut, dass es Sand ist, der ihm auf einmal wichtiger erscheint als jedes Futter.

Mit unsäglicher Kraft wuchtet er den ganzen Stapel, der sich als zweireihig entpuppt und den die Leute vermutlich zu eben dieser Art Vorsorge griffbereit angelegt haben, Stück für Stück vor die Haustür und vor das hölzerne Tor am Schuppen der Tiere. Alles Wasser, das bereits durchgesickert ist, können sie später herausschöpfen. Die Säcke sind allemal Gold wert, leider sind sie nicht gut für die ungeübten Hände und das untertrainierte Kreuz eines Wissenschaftlers…

Total erschöpft legt er nach zwei Stunden Plackerei eine Pause ein. Seine Sachen sind durchnässt, der Rücken schmerzt, Arme wie Hände zittern und sind von der ungewohnten Arbeit eine Zeit lang zu nichts mehr zu gebrauchen.

Ida hat Tee aufgebrüht und hilft Ben aus den klatschnassen Sachen und denselben Stiefeln, die sie am Morgen in ihrer Not zu Bens Verwunderung angezogen hatte.

Er sagt nichts, murmelt nur ein genötigtes Danke. Seine Blicke aber verraten längst, wie er sich wundert, vermutlich darüber, wie schnell sie sich erholt hat.

Es gibt ein zweites, kleineres Paar Stiefel und sogar ein drittes, aber beide konnte Ida in ihrer Eile am Morgen gar nicht entdecken. Vom Ölzeug, von dem sich Ben nur eine der Jacken geschnappt hatte, die griffbereit hinter dem Vorhang im Flur hingen, läuft das Wasser in Bächen auf die Fliesen. Sie wird sich später darum kümmern, sofort lässt es Ben nicht zu. Ob sie ihm noch mehr Sorgen bereiten wolle, sagt er. Wenigstens sagt er nicht Schererei oder gar Ärger.

Sie sitzen mit ihren Teepötten am Küchentisch und versuchen, die lebensfeindliche Welt um sie herum, die noch gestern als kleine Idylle erschien, zu verstehen.

»Irgendwo liegt bestimmt eine Liste mit Verhaltensregeln und Notrufnummern. Das ist Vorschrift für Häuser, die Gäste beherbergen«, sagt Ben. Und damit hat er Recht.

»Ich werde mich umsehen«, sagt sie. In ihren Augen leuchtet etwas, was Ben seit Jahren vermisst haben dürfte, was ihr heute merkwürdig leicht gelingt. Sie ist froh, dass er nicht schimpft. Die kommende, ungewisse Zeit wäre nicht aushaltbar mit ihm, wenn er die Entscheidung für diesen Urlaubsort allein auf sie abwälzen würde, nur weil es jetzt unvorhersehbare Schwierigkeiten gibt.

Zugegeben, sie hatte den größeren Anteil am gemeinsamen Ja, aber es war und es bleibt ihre gemeinsame Entscheidung. Sie rührt im Tee und denkt: Ein bisschen scheint sich ihr Plan für die Rettung ihrer Ehe zu erfüllen, wenn auch unter denkbar schlechtem Vorzeichen.

Es schüttet vom Himmel wie aus Eimern. Der Sturm zaust an allem, was nicht dreifach gesichert ist. Irgendetwas wirbelt durch die Luft, verfängt sich an einem Baum und landet schließlich weiter südlich im Wasser, das dort schon knietief sein könnte.

Ben hat keine Ruhe, will wieder nach draußen, aber sie überredet ihn abzuwarten. Sie muss auf ihn achten, sonst passiert auch ihm ein Unglück und sie muss ihn gar noch gesundpflegen.

Der Tag ist so grau, dass man im Zimmer elektrisches Licht braucht. Ida hat sich noch nicht wieder ordentlich angezogen. Es ist so bequem im Jogginganzug und überdies ist er kuschlig warm. Wie kalt es auf einmal ist, hat sie nicht erwartet, und auch Ben schimpft, vermutlich hat er viel mehr Recht dazu als sie.

Sie könnte schon wieder mit ihm gehen und ihm ein bisschen helfen. Er ist schwere Arbeit nicht gewöhnt. Wie erschöpft er ist, spürt sie daran, wie seine Nase läuft und wie er röchelt, als quäle ihn eine Erkältung. Ben lehnt ihr Angebot ab und auch die warme Suppe, die sie in Windseile bereitet tat. Er sagt mit einem Unterton, den sie als vorwurfsvoll ansehen könnte, er muss alles verrammeln, vielleicht auch die Fenster, um keine böse Überraschung zu erleben. Wie er die Leute einschätzt, gebe es dafür bestimmt auch Vorkehrungen, er müsse sie nur finden. Und dann sagt er: »Die Nächte werden todsicher schlimmer als die Tage. Bevor nicht alles erledigt ist, habe ich keine Zeit für anderes.« Vornübergebeugt verlässt er wortlos das Haus. Auch sie schweigt, aber sein Ton und die harsche Entschiedenheit kränkt sie. Er ist es immerhin selbst, der sich nicht helfen lässt und nun allein da draußen bei Landunter zusehen muss, wie er zurande kommt.

 

Landunter ist für Ida von einem zum anderen Moment zum Reizwort geworden, und es wird sie ganz gewiss noch im Tiefschlaf beunruhigen, erst recht, weil sie zur Untätigkeit gezwungen wird. Bisher war Zwang für sie das große Unwort. Wenn einer dem anderen Zwang antut, ist die Menschheit unmenschlich geworden.

Auf dem Küchentisch steht der Topf mit der heißen Instantsuppe, die es zuhauf in der Vorratskammer gibt. Sie wollte etwas Gutes tun, weil eine heiße Suppe durchwärmt. Er aber hat keine Zeit, was sie an diesem Tage weniger beunruhigt als zu Hause. Es gibt wahrlich auch Schlimmeres, als eine kalte Suppe später wieder aufzuwärmen.

Der Fernseher läuft, aber sie schaut nicht hin. Auch Ben hat nicht mehr hingeschaut. Aus den Nachrichten im Radio wissen sie: Das Festland weiß Bescheid, was auf einigen Inseln los ist, und man sagt, es werde noch ein paar Stunden dauern, bis … Der Bildschirm ist plötzlich dunkel.

»Ja, bis was denn nun?«, ereifert sie sich, aber sie schimpft ins Leere. Doktor Benjamin Winter sucht ja nach den Vorkehrungen der Leute. Beides ist kein Problem, sie hatte ohnehin keine Lust, einen anderen deutschen Sender zu suchen, um alles richtig zu verstehen. Zudem will sie nach der Gästemappe schauen, die sie vergessen haben, sich von der Frau abzufordern. Warum auch immer, verdammt. Gewöhnlich bekommt man die als Gast zuerst gereicht. Gewöhnlich. Was ist hier noch gewöhnlich.

Im Haus ist es jetzt am Nachmittag schon, als eile die Nacht herbei, und je mehr Fenster Ben von außen verrammelt, wird es immer dunkler. Sie versucht an allen Lichtschaltern ihr Glück. Keine Chance. Vielleicht macht Ben auch irgendwo etwas an der Leitung und will sich vor einem Stromschlag schützen. Gut tut er damit. Eine Weile harrt sie aus. Sie darf ihn bei seiner Aktion nicht drängen. Was also tun?

Schritt für Schritt durchstreift sie die Räume. Im Flur gleich neben der Tür hängt eine Laterne, aber woher bekommt sie Feuer, das den Docht erhellt?

Zurück zur Küche. Zündhölzer. Die guten alten Zündhölzer. Sie atmet rasch aber beruhigter. Es ist alles da. Die Leute sind diese Art von Kummer offenbar gewöhnt. Mit gestärkter Zuversicht macht sie sich daran, alle Schübe, alle Laden und Fächer der Schränke zu durchstöbern.

In der oberen Etage klinkt sie zum ersten Mal an einer Tür, die gegenüber dem Gästezimmer liegt und die nicht verschlossen ist. Der Raum ist ebenso groß wie ihrer, aber er wirkt viel kleiner. Er ist vollgestopft mit Aktenordnern und allerlei Kisten und Schachteln. Es muss das Arbeitszimmer der Leute sein. Etwas packt sie. Die Neugier? Die Not, diese Gästemappe zu finden, die für ihr Dilemma von Vorteil sein kann? Tatsächlich findet sie eine Mappe aus abgegriffenem Leder. Sie leuchtet so gut sie kann mit der Funzel über die Seiten und hofft, darin ist alles, was Ben braucht. Leider kann sie kein Wort dänisch, aber Ben wird eine Erklärung finden, bestimmt. Diese nordischen Sprachen ähneln dem Deutsch.

Erst einmal fällt ihr ein Stein vom Herzen. Wenigstens damit kann sie in ihrer Lage behilflich sein.

Bevor sie mit ihrer Funzel wieder nach unten stiefelt, hebt sie die Leuchte so weit an, dass sie etwas mehr vom ganzen Raum erkennt. Auf zwei Schreibtischen stehen sich die Rechner gegenüber. Das heißt, ein antiquierter, kombiniert als Rechner und Bildschirm steht auf dem Tisch, ein Rechner steht unter dem anderen Tisch und ein moderner Monitor steht darauf. Am liebsten würde sie sofort auf den Powerknopft drücken und auf der Tastatur klimpern, um nachzusehen, woran die beiden arbeiten — hier in der Einöde. Aber es gibt momentan keinen Strom.

Rein motorisch zieht sie an einem Griff unter der Schreibtischplatte und redet sich ein, es nur zu tun, weil er ein wenig offen gelassen wurde. Niemals sonst würde sie … Niemals sonst …

Der Schub wackelt und gibt quietschende Geräusche von sich, aber sie bekommt ihn nicht auf, er ist verklemmt. Mit einem Ruck reißt sie ihn ungewollt aus der Führung und schlägt damit an ihr Schienbein. Sie schreit auf und flucht, weil der Schmerz zu heftig ist und weil der Inhalt zu Boden poltert. Was da heraus poltert ist zwar weniger spektakulär als der Schmerz ihres Beines, aber die Sache ist ihr peinlich. Sie hofft, alles wieder in der Ordnung hinterlassen zu können, wie es sein soll, was ziemlich illusorisch ist.

Locher und Heftklammern, Klebestreifen und Aktendullis, und ein abgenutzter Taschenrechner bleiben zum Glück unbeschadet. Zwei kleine Schachteln mit Tacker- und Büroklammern aber verstreuen ihren Inhalt auf dem Boden. Ben würde sie schelten. Als alles hastig aufgesammelt ist, ordnet sie zuerst den Stapel Papier in die Lade zurück. Der benötigt den meisten Platz. Dann wird sie alles drum herum anordnen, so logisch, wie man nur sein kann.

Als alles verstaut ist, entdeckt sie, dass der Stapel Papier eng beschrieben ist. Sie schiebt die Leuchte ganz nah heran und blättert darin herum. Sie weiß sofort, was es ist. Genau so haben ihre ersten Manuskripte auf Normseiten ausgesehen, ehe sie auf die Idee gekommen ist, von Anbeginn des Schreibens einen Buchsatz zu machen. So weiß sie immer, welchen Umfang das künftige Buch haben wird. Aus dieser Datei lässt sie sich inzwischen stets ein einzelnes oder auch zwei Probeexemplare drucken, um alles zu überarbeiten oder auch einigen Testlesern übergeben zu können. Die Meinung der ganz normalen Leser ist ihr im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden.

Einer der beiden Leute muss also auch das Schreiben für sich entdeckt haben. Kein Wunder, wenn man in dieser Einöde zur Untätigkeit gezwungen wird.

Sie kann nicht widerstehen und liest die ersten Seiten. Sie sind datiert vom Vorjahr. Ein Krimi offenbar. Der Beginn ist gar nicht so schlecht für einen Anfänger, aber auch kein Brüller.

Nach den ersten vier Seiten hat sie Blut geleckt, aber da hört sie Bens Stimme im Flur und huscht rasch aus dem Zimmer, das ihr vermutlich gar nicht gestattet ist, zu betreten. Ein Verbot gab es allerdings auch nicht.

Bens Fluchen im Flur kann sie verstehen. Er ist kein Typ für das Handwerkliche. Er ist Wissenschaftler ohne Ambitionen für häusliche Bastelei. Schuldbewusst leuchtet sie mit der Funzel und geht ebenso vorsichtig die Stufen hinunter, wie sie sie hinauf gestiefelt war.

Die Fenster der beiden Zimmer, die nach Westen zeigen, hat Ben mit passenden Holzplatten zugestellt, was das Haus im Parterre in totale Finsternis stürzt.

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»Gibt es hier kein Licht!« wettert Ben.

»Ich dachte, du hast…«

»Ich! Wieso ich schon wieder…?«

Ach ja, denkt sie. Vermute niemals, der Mann könnte an einem Umstand schuldig sein. Niemals!

Von Schuld kann auch nicht die Rede sein, nur von Verursachung. Diesen Lapsus ihrer Gedanken gesteht sie sich ein, nichts weiter. Aber der Ärger ist aufgeflammt. Das Manuskript ist vergessen. Wie ein Faustschlag trifft sie seine Frage: »Wie geht es dir?« Als sie abwinkt, bittet er sie, im Haus nach dem Stromzugang zu suchen, er werde sich derweil noch einmal in den Anbau begeben und nach geeignetem Material schauen.

Sie hofft, irgendwo einen Stromkasten suchen finden, wie sie einen von früher kennt mit ständig drehenden Stromzählern. Wie die Elektroversorgung hier funktioniert, wissen sie beide nicht. Sogar Ben gesteht, er macht sich jetzt Vorwürfe, diese Dinge nicht erfragt zu haben. Ida tröstet ihn: »Es gibt in der Kammer noch etliche von den Lampen hier. Für heute wird es wohl reichen. «

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