Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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AUF NACH PEDERSAND

Allein die Fahrt ab dem Festland, wo sie ihr Auto zurücklassen mussten, ist abenteuerlich. Eine Fähre bringt sie bis zu einem Anleger auf einer Insel im Nirgendwo. Ein überkluger Passagier erklärt mit ausladenenden Gesten, wo Manö liege, wo Römö und wo Fanö, was immer die Namen bedeuteten und wie immer man sie aussprach. Ida weiß beides nicht. Allein am Gehabe des Mannes erkennt sie, dass er sie als Deutsche identifiziert hat und dass er sie womöglich für marklose Landratten hält.

Als Ida glaubt, endlich am Ziel zu sein und die Fähre hoffnungsvoll verlässt, steht ein Boot bereit, auf dem einer eine Schild hochhält, das ihren Namen und den Namen der Insel zeigt: Pedersand.

Solange sie ihr Gepäck verstauen, deutet ihnen der Skipper mit einer missbilligenden Geste an: Die Zeit sei nicht gut gewählt. Der Mann, der sich als Postbote entpuppt, schiebt emotionslos ein einziges Wort nach, als spräche er zu seinesgleichen: »Ebbe.«

Warum er so zur Eile mahnt, ahnen die Landratten nicht.

Die Luft ist süßlich, modrig fremd. Aber die frische Brise tut gut, sehr gut. Das findet auch Ben.

Weit hinten im Nichts sind bald schemenhaft graugrüne Konturen zu sehen. Je näher sie kommen, kann Ida auf einer deutlichen Schräge ein paar Gebäude und wenige Bäume erkennen. Langsam formt sich vor ihren Augen etwas, was wie eine grüne Eisscholle anmutet, die nördlich auf einer anderen Scholle aufliegt.

Das kleine Eiland gleicht südöstlich einer flachen Hallig, nordwestlich scheint es eine mannshohe Steilküste zu haben. Nur einen bäuerlich anmutenden Dreiseitenhof kann man von Weitem erkennen. Davor breiten sich Wiesen und Koppeln aus, die von windschiefen Gattern gezäunt sind. Vieh ist nicht zusehen. Aber ein zerschundener Bollerwagen steht am Weg für ihre Koffer bereit, gleich hinter dem Anlegesteg. Der Mann vertraut ihnen auch noch die Post an, die er in seiner Tasche hatte. Dann fährt das Boot zurück.

An einem Holzpflock am Rande der Wiese hängt ein flach behauener Stein, um den sich eine Kette aus Hühnergöttern rankt.

Hier wohnen H. und M. Peterson. Vielsagend schaut Ida zu Ben und tippt auf Peterson: »Peterson auf Perdersand, wie kann es anders sein. Vermutlich hat hier jede Insel den Namen der einzigen Bewohner.«

Die Gummiräder des Bollerwagens knirschen im Sand, sonst ist nichts zu hören als ein leises Säuseln des Windes.

Auf dem schmalen Kiesweg hin zu den Gebäuden begreift Ida die Ruhe und den Frieden, die über dem Leben der Menschen liegen mag, die es hierher verschlagen hat. Sie selbst hat nie nach Aufregung gedürstet, nach Action, wie man neudeutsch sagt. Sie hat schon viel von einsamen Inseln gelesen, zumeist von den Hallig-Inseln, aber niemals wirklich verstanden, dass man sich damit verbunden fühlen kann wie mit seinem Baby, das an der Nabelschnur hängt.

Die Gebäude auf dem seichten Hügel sehen intakt aus, was Ida beruhigt. Das Haus, das sie als Wohnhaus ausmacht, scheint sich zu ducken vor Wind und Wetter, aber es hat etwas Märchenhaftes, etwas Nostalgisches oder eben Unerwartetes für sie.

Zwei seitliche Gebäude rahmen das Haus ein, ein drittes ist ein hölzerner Schuppen, schon etwas windschief hinter dem Haus gelegen. Vermutlich längst ungenutzt. Alles hat einen morbiden Charme, der sie ebenso belustigt, wie auch neugierig macht.

Zugegeben, sie folgt sonst gerne Bens Urlaubswünschen nach Komfort, nach moderner Ausstattung, nach Bequemlichkeit und Nähe zu allem, was man im Urlaub braucht. Aber einmal im Leben kann man auch anders die Zeit verbringen. Anderenfalls wäre es ein grober Widerspruch zu ihrer Aussagen, sie könnten auch auf einer einsamen Insel leben. Ihr ist bewusst, dass sie diese Worte nur gewählt hatte, um zu belegen, wie wenig sie andere Menschen brauchen, wie sehr sie sich noch selbst genügen.

Je weiter Ida den Fuß auf dem leicht ansteigenden Sandweg setzt, desto mehr ist ihr, als müsse sie aus einem unwirklichen Traum erwachen und jemand sagt ihr, dass sie nun aufstehen muss und der Pflicht zu folgen hat. Noch kann sie sich nicht einlassen auf die Zeit, an der das pulsierende Leben, das sie normalerweise umgibt, an ihr vorbeiläuft, sie unberührt lässt, das sie vielleicht sogar vergisst.

Noch ist kein Mensch zu sehen, aber das Boot, das sie von einer der unbekannten Inseln bis hierher chauffiert hat, ist längst außer Rufweite. Was, wenn hier gar keiner ist? Nicht selten fallen in dieser Zeit Gutgläubige auf einen Nepper herein. Das allerdings dürfte ihnen unter den Umständen, wie sie zu der Reise gekommen sind, nicht passieren.

Nun also sind sie auf Pedersand, was immer das Wort bedeutet und was der Ort an Bedeutung für sie bringen soll.

Der Skipper hatte während der Fahrt telefoniert, wortkarg, aber nicht mürrisch. Verstanden hat sie ihn nicht, an seiner Reaktion hat es Ida abgelesen, es muss jemand daheim sein.

Ben zieht die Schultern an, dann klopft er zwar an die Tür, aber er drückt sofort genervt die Klinke herunter, was Ida beschämt, obwohl Bens forsches Vorgehen in dieser Lage verständlich ist.

»Hallo!«, ruft er. »Familie Winter ist hier.«

Kein Laut ist zu hören, erst nach Minuten ratlosen Herumstehens an der offenen Haustür kommt eine Frau mittleren Alters aus dem Anbau geschlurft. Über ihren Schuhen trägt sie Gummigaloschen, auf ihrer Jacke kleben Fäden aus Heu und Stroh. Das hellbraune Haar hängt in zwei Strähnen von ihrer Stirn, der Rest ist nachlässig zu einem Knoten verwirbelt, der tief im Nacken sitzt. Die schmalen, etwas mandelförmigen Augen sind das einzig Markante, was Ida auffällt, aber freundlich sehen sie nicht aus.

»Da kommen Sie ja doch noch«, sagt das Gesicht, das ebenso gereizt wirkt wie Ben, bestenfalls gestresst. Ben sagt später, dass es für ihn eher abweisend, fast feindselig ausgesehen habe.

»Wir warten seit Montag«, sagt sie, und das ist kein guter Einstieg in ein Gespräch, das normalerweise zwischen Gast und Vermieter geführt wird.

»Wieso?«, stammelt Ida. »Wir kommen wie ausgeschrieben am 7.7. und der ist heute, oder irre ich da?«

»Ich weiß«, erwidert das undurchschaubare Gesicht. »Ich habe schon nachgefragt … Der Fehler liegt bei der Bank. «

Verstehen kann Ida den vermeintlichen Fehler nicht, aber schlimmer geht es Ben. Der ist so grantig, dass er sich nur noch im Hintergrund hält. Hoffentlich, denkt Ida, sucht Ben den Lapsus nicht bei mir.

Nach einer alles beendenden Geste und mit abgehackten Worten werden Ida und Ben Winter von der Frau durch den Flur des Hauses geführt, das alt, aber nicht baufällig ist und in dem sich auch hier drinnen alles zu ducken scheint. Dennoch wirkt es geräumiger als von außen gedacht. Die Geste der Frau, das Gepäck an der Treppe stehen zu lassen, ist ebenso sparsam wie alles an ihr. Sie ist offenbar eine Deutsche, oder sie hat sich das Deutsch hervorragend angelernt. Dennoch kommt kein anheimelndes Gefühl in Ida auf, wie gewöhnlich, wenn sie im Ausland auf Deutsche trifft, was in der Tat nicht immer beglückend ist. Hier wäre es ihr angenehm, schließlich wird man sich über einiges verständigen müssen, bevor das Ehepaar für die Zeit ihrer Anwesenheit die Insel verlässt, wie es Vera Böllmann von der Bank gesagt hatte.

Das Merkwürdige an der Frau entschuldigt Ida vor sich selbst mit den abgeschiedenen Bedingungen, unter denen das Paar lebt. Einen Mann bekommen sie jedoch gar nicht zu sehen.

Ida mag es, wenn Menschen zurückhaltend sind. Leider schwingt bei dieser Frau etwas Ungewisses mit, etwas von Unmut und etwas von Machtlosigkeit. Abgesehen von der leicht verstaubten Kleidung macht sie einen soliden Eindruck. Ihr Haar ist mit feinen Silberfäden durchzogen, ihre Augen, nichtmehr so scheu, aber noch immer distanziert, ergänzen die Körpersprache, die Sachlichkeit verrät.

Später spricht die Frau mit großer Konzentration. Ihre Gesten sind knapp und doch sehr deutlich. Sogar, als sie den Gästen ihr Zimmer zeigt — zuvor hatte sie wie selbstverständlich nach einem Gepäckstück gegriffen, um es die Stufen hinaufzutragen — scheint es Ida, als habe diese Frau eine unerschöpfliche Kraft in sich.

Ein solcher Mensch, auch eine solche Frau, würde immer die Möglichkeit haben, sich aus eigener Kraft allen Widrigkeiten der Natur zu widersetzen, auch denen böser Mächte. Für ersteres würde sie hier diese Kraft wohl sehr gut gebrauchen können.

Das Lächeln ist merkwürdig sparsam, aber der schmale Mund erklärt sehr klar, sehr einfach, wie das Leben auf der Insel für sie beide die nächst verbleibenden Tage funktioniert.

Der Haushalt habe alles, was man braucht. Das Gras sei gemäht und um Vieh müssten sie sich nicht sorgen, das sei bereits fort. Lediglich die Hühner und die Kaninchen, die sie ihnen noch zeigen werde, sollten sie regelmäßig füttern. Und falls es Probleme gebe, stehe ihnen — die Eier sowieso — das Fleisch der Rammler zu. »Nur der Rammler!«, betont sie, die seien ansonsten nutzlos.

Nutzlos erachten später sowohl Ben als auch Ida genau diesen Hinweis der Frau. Wie sollten sie wissen, was ein Rammler ist und was eine Häsin? Und warum sollte es Probleme geben?

Das Haus hat zwei Stockwerke, aber auch oben macht es einen erstaunlich geräumigen Eindruck. Am Abend lädt sie die Frau zum gemeinsamen Essen ein. Gegessen werde in der geräumigen Küche im Parterre. Das bleibe auch während ihrer Abwesenheit so. Das Haus gehöre ab jetzt vollständig ihnen, nur ihr Schlafzimmer bliebe verschlossen, alle anderen Räume stünden offen.

Von einem Hausherrn ist keine Spur. Aber der Tisch ist gedeckt, als würde sich sogleich noch einer zu ihnen gesellen. Ohne viele Worte hat die Frau aus allem, was verfügbar schien, etwas gezaubert. Eier, Kaninchenfleisch, Fisch, Käse und ein grüner, gemischter Salat. So abgeschieden diese Menschen hier leben, an Hunger leiden sie nicht, und bescheiden sehen ihre Mahlzeiten vermutlich nie aus.

 

Ida besteht darauf, nach dem Essen das Geschirr spülen zu helfen. Eine Arbeit, die sie seit Langem nicht mehr erledigen muss. Aber es liegt ihr viel daran, ein paar Worte mehr mit der Frau zu wechseln, die besonders in Bens Anwesenheit abweisend wirkt.

Da man sie schon am Montag erwartet habe, sei ihr Mann schon voraus. Wohin, das sagt die Frau, die Peterson heißt, nicht. Als die aber später erfährt, dass Ida Buchautorin ist, sagt sie doch etwas mit merkwürdigem Blick: »Falls es … ich meine, falls es langweilig wird oder Sie nicht aus dem Haus können…« Sie stockt, aber dann ergänzt sie merkwürdig lächelnd, fast entschuldigend: »…ach was. Dann wird eine Autorin doch vermutlich etwas zum Lesen dabei haben. «

Idas Frage nach ihrem Mann, die ihr auf den Lippen brennt, beantwortet die Frau nicht. Ob das gewollt ist, kann sie nicht ergründen, weil just in diesem Moment das Funktelefon anschlägt.

Die Antworten, die die Frau gibt, sind ebenso einsilbig, wie sie auch zu ihnen beiden ist. Das beruhigt Ida in gewisser Weise. Und ebenso sieht es Ben.

Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück verlässt jene Frau, die Ida und Ben Winter nur als M. oder als H. Peterson kennen, mit ziemlich viel Gepäck aus Kisten und Kartons auf dem Bollerwagen den Hof in Richtung des Anlegers, von dem ihr schon der Postbote vom Vortag geschäftig entgegen gelaufen kommt.

AUF DER INSEL VOR DEM WIND

Sie sind noch keinen vollen Tag hier, schon gehört alles, was Ida bisher gedacht und erlebt hat, einem anderen Leben an. In der endlosen Weite und der steten Brise, die frisch, aber sauber und gesund ist, scheint es Ida, als schmelzen auch die Tage dahin, die sie einst als normal betrachtet hat, die ihr jetzt merkwürdig enteilen, als haste das Leben vor ihr davon. Sie schaut in die Runde und über die Endlosigkeit des neuen Seins, das sie schon heute nicht mehr als öde, als trist oder gar tötend ansieht. Sogar Ben gefällt es, auch nach dem Frühstück noch ebenso eins mit ihr zu sein, wie seit Jahren davor. So verschieden ihr inneres Leben auch abläuft, sie wachen noch nach vielen Jahren gemeinsam auf, als würde die Liebe noch so groß, noch so tief sein, dass man spürt, wenn der andere sich regt, wenn sein Atem einen anderen Rhythmus bekommt, wenn man glaubt, im nächsten Moment verlassen zu werden, weil man als schlafend gilt und weil der andere Rücksicht nimmt. Rücksicht ist die neue Liebe, hatte sie einmal gedacht, als sie sich mehr von Ben gewünscht hatte, als dass er nur rücksichtsvoll war.

Wie die Kinder laufen sie ungewohnt einträchtig Hand in Hand nach Nordwest am windschiefen Gattertor vorbei, das einen Teil der Wiese begrenzt. Die ganze Insel scheint schräg zu sein. Dort, wo das Land zum Meer hin abbricht, ragt es höher hinaus als auf der Gegenseite. Gerade dort hatte Ida am Vortag Blumen zwischen dem kargen Gras erkannt, das überall auf der Insel wächst. Sie liebt Blumen auf ihrem Tisch, aber sie ist klug genug, sie nicht unnötig dem Kleingetier vorzuenthalten, das ohne die Blüten nicht leben kann. Zudem haben Wildblumen in einer Vase keine so lange Überlebenszeit wie Zuchtpflanzen.

»Schau mal, wie schön die Grasnelke auf diesem kargen Sand blüht«, freut sie sich, aber Ben hat längst ihre Hand losgelassen, steht an der Abbruchkante und schaut angestrengt über das Wasser, das ruhig liegt. Nur winzige Wellen kräuseln sich und werfen das Sonnenlicht zurück, was die Welt um sie herum ganz silbern macht.

Ida interessiert die Welt zu ihren Füßen viel mehr. Hier an der Kante, die noch höher liegt als das Haus, das die Vorfahren vorausschauend erhöht gebaut haben, ist die einzige Stelle, wo Blumen blühen. Überall auf den Wiesen ist nur das dicke Salzwiesengras zu sehen.

Schön, denkt Ida. Ebenso schön findet sie den gelben Hornklee, der sich an die Abbruchkante duckt. Weiter hinten blüht ein Strauch mit Strandflieder und rundherum eine Nesselart in kräftigem Pink.

Sie streift weiter durch das Gras. An ihren bloßen Waden kitzeln die wippenden Spitzen vom Schlangenmoos.

Auch Ben hat seine Jeans hochgekrempelt. Er geht heute wie sie nur in einfachen Pantinen ohne Strümpfe. Als sie das Haus verlassen haben, hatte er etwas gemurmelt, was sie nicht hinterfragt hat, was sich aber so anhörte wie: Wenn er schon mal die Freiheit habe…

Hier an der Abbruchkante gibt es eine Stelle aus dichtem Gras, die wie geschaffen ist zum Verweilen. Ida setzt sich auf das weiche Polster, Ben führt seine Hand wieder an die Stirn und schaut hinaus in die Weite, aus der man sie hierher gebracht hat. Dass es ein Trugschluss war, erkennt Ida erst viel später, schließlich liegt das Festland östlich, wo auch die unbekannte Insel mit dem Schiffsanleger liegen muss.

Während sie so sitzt, den Wind im Gesicht spürt, die Schuhe auszieht und die Zehen in den losen Kies drückt, überdenkt sie ihr Glück, wie sie zu diesem kleinen Paradies gekommen sind: Wie die Jungfer zum Kind. Über diese Plattitüde beginnt sie zu kichern. Jeder andere Schreiberling würde sie für einen solch platten Satz schelten.

In ihren Gedanken vergisst sie, dass Ben noch immer hinter ihr steht. Vermutlich wäre es ihr sonst nicht entfallen, dass auch er von etwas träumt: Von seinem kleinen Paradies, das er verloren zu haben glaubt und das er hier, genau hier, wo das Leben keine Ablenkung bringt, wieder neu erobern könnte?

Gerade nimmt Ida sich etwas fest vor: Wenn sie zurück im Haus ist, wird sie sofort ihre seltenen Eindrücke von diesem Stück Land aufschreiben, bevor sie von unbedachten Worten oder ganz Anderem überlagert werden. Genau das passiert ihr oft, und wenn sie für ihr Setting das Besondere braucht, kann sie es nicht mehr so klar und präzise rekonstruieren.

Kaum zu Ende gedacht, spürt sie Bens Arm um ihre Schultern. Sein Kopf nickt zum offenen Meer: »Wäre das nicht Stoff für einen neuen Roman. Die kleine Insel im Wind? «

Ida hält den Atem an. Wann denkt Ben je daran, worüber sie schreibt? Was ist mit ihm?

»Für mich liegt die Insel noch vor dem Wind«, sagt sie in der Gewissheit, Ben würde sofort ein Gegenargument anführen. Sie irrt sich nicht zum ersten Mal.

Ben sitzt dicht bei ihr und lässt seine Hand von ihrer Schulter tiefer sinken, aber fester streicheln. Ida liebt es, wenn seine Haut auf ihrer Haut liegt, egal wo und warum. Er scheint dasselbe zu wollen und hebt ihren locker über den Gürtel fallenden Pulli an, schiebt seine Hand darunter und streicht zärtlich über ihren nackten Rücken und die Lende. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter wie früher. Über das Meer zieht ein Schwarm Schwäne, sehr tief, gefährlich tief, wie Ida glaubt. Die Luft ist klar, klarer als befürchtet. Irgendwer hatte einmal gesagt, wenn ein sonniger Tag diesig ist, bleib auch der nächste schön. Heute ist er alles andere als diesig. Aber gerade in seiner Klarheit ist er so besonders — für ihr Herz ist er schön, denkt sie, und sie denkt, wie dumm wir doch beide sind. Wir leben aneinander vorbei, jeder für seinen Job. Das kann nicht das Leben sein. Nicht das. Wenn nicht hier, wann dann, können sie sich wiederfinden?

Ob es ein Leben für sie wäre zwischen Kühen und Koppeln, zwischen Hühnern und Kaninchen…? Mit Trinkwaser aus einem Behälter und mit Brauchwasser aus einem anderen. Am schlimmsten aber ist für sie das Klo, das in einer Jauchegrube endet. Ein ganz furchtbarer Gedanke …

Ida muss ihn nicht zu Ende denken. Bens Hand wandert um ihre Flanke herum bis zu ihrer rechten Brust. Erst zärtlich, rücksichtsvoll, dann fordernd. Unmerklich schiebt sie den Körper näher zu Ben. Es ist noch immer etwas Einzigartiges, wenn sie Bens Begehren spürt. Es ist wie damals als Kind, als sie ihre Puppe wiedergefunden hatte und vor Freude zu weinen begann und alles um sich herum vergaß, bis sie die Mutter daran erinnerte, was sie zu tun habe. Als erstes käme bei aller Freude immer die Pflicht.

Noch am letzten Gedanken hängend, stöhnt Ida auf.

»Mein Gott«, schreit sie beinahe, »wir sollten doch gleich am Morgen die Hühner füttern und herauslassen… Und die Kaninchen…«

Bens Griff lockert sich, was sie zutiefst bereut, aber nun nicht mehr ändern kann. Verstohlen schaut sie ihm ins Gesicht. Seine gerade noch ebenmäßig entspannte Miene scheint zu versteinern, sein Haar bewegt sich leicht, als schüttelte sein Kopf einen gerade gefassten Gedanken wieder ab.

Jeder für sich laufen sie zurück zum Haus.

»Geh schon hinein, ich mach das«, sagt er zu Ida. Mal wieder geht seine Enttäuschung ohne ein weiteres Wort einher, aber mit so deutlichen Gesten, dass es ihr wehtut. Er will sie jetzt, wo sie ihm etwas verdorben hat, für eine Weile nicht sehen, sie hat vermasselt, was für beide gut gewesen wäre. Warum?

Sie kann es nicht mehr ändern und sie weiß, dass sich genau diese Dinge, wo einer die Erwartung des anderen durchkreuzt, durch ihr Leben ziehen. An dieser Entwicklung ist sie nicht schuldlos. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. C‘ est la vié.

Wenn er da draußen diese ungewohnten Dinge tut, wird er abgelenkt von dem, was war, abgelenkt durch Hühner und Kaninchen. Ähnlich jedenfalls geht es ihr zumeist selbst, und genau das ist der Grund, warum sie beide ihr gemeinsames Problem der schleichenden Entfremdung nicht aufarbeiten, nicht im Guten, aber zum Glück auch nicht im Bösen.

Zurück ins Haus kommt Ida gerade noch rechtzeitig, um die Stimme eines Mannes zu erfassen, die aus dem Gerät kommt, das im Flur steht, das sie aber nicht beherrschen würde, müsste sie jetzt etwas tun.

»Hallo«, versteht sie, und auch den Namen »Vincent«, sagt die Stimme in einem Akzent, der sich mehr platt als dänisch anhört. Und dann sagt er, er käme in den nächsten Tagen nicht, was immer das bedeutet. Zwischen halbem Deutsch und halbem Dänisch hört sie etwas, was nach Sturmflut klingt. Und er schiebt nach, jemand — den Namen versteht sie nicht ganz, er klang nach Fritsch oder ähnlich — habe gesagt, ihr wisst, was zu tun ist!

Eine halbe Stunde später erscheint Ben mit Heufäden am Pullover und mit ebenso bestaubten Händen, wie die Kleider der Frau bestaubt waren, gestern, was vermutlich von dem Trog herrührt, in dem das Trockenfutter lagert.

Eine Zeit lang prüft sie unmerklich, wie seine Laune ausfällt. Sie kennt den Grund für Bens Verstocktheit stets genau, heute sie akzeptiert sie ihn sogar. Ober ohne ein Wort wendet sie sich dem Gemüse für den Auflauf zu, das zu putzen und zu schneiden sie sich vorgenommen hatte. Sie prüft die beiden Herde, von denen einer mit Strom, der andere mit Gas funktioniert. Sie entscheidet sich für den mit Stromanschluss, weil ihr Gas im Haus schon seit Jahren gefährlich erscheint.

Erst als sie die Formen in den etwas nostalgischen Herd schiebt und die Hitze aus der Röhre ihr Gesicht zu röten scheint, erinnert sie sich an den Anruf.

»Da war einer«, sagt sie vorsichtig, »Da draußen … Er sagte etwas von Sturm und dass wir wüssten, was zu tun ist. «

Ida und Ben wissen es natürlich nicht. Aber Ben verspricht, nach dem Gerät zu schauen, ob er den Anruf wiederherstellen kann. Das tut er ausnahmsweise sofort und vermutlich sehr gern. Damit ist er für eine weitere Zeit wieder aus ihrem Blickfeld und sie müssen nicht über die verunglückte Annäherung da draußen reden.

Während des Essens sitzen sie stumm beieinander. Sie spürt, wie er ständig nach ihr schielt, aber sie hat nichts zu sagen. Was auch?

»Ich konnte den Anruf nicht wieder aktivieren, muss mich erst mit dem Gerät vertraut machen«, sagt Ben kurz und so abschließend, dass sie keinen Anlass sieht, etwas zu erwidern. Dann lehnt er sich auf der Sitzbank zurück, nimmt sein Mobiltelefon in beide Hände und sucht nach einer Anleitung für das, was er Funkgerät nennt.

Zum Glück, denkt Ida, hat er sich das neueste iPhon von Apple geleistet, das er auch seinen Kindern stolz präsentiert hat. Erst vor einem Jahr war diese Neuerung auf den Markt gekommen. Ben ist in diesen Dingen eher konservativ, wartet, was die Kritiken sagen, aber in diesem Fall hat er Weitsicht bewiesen, sofern ihn nicht purer Besitzerstolz erfasst hat.

Nachdem Ida mit dem Spülen fertig ist, dasselbe Bild, bis Ben sagt: »Verdammt. Es wäre doch gelacht, dass wir es das nächste Mal nicht besser machen können.« Das kann man so oder so sehen, denkt Ida. Entweder er kommt mit dem, was er vorhat, nicht voran, oder es war mal wieder eine versteckte Anspielung auf sie und ihre ungeschickte Reaktion. Und sie denkt: Dann mach es doch besser! Herrgott…! Bei der wortkargen Frau hatte sie nur einen einzigen Handgriff gesehen, wie bei jedem Telefon.

 

Tief atmend steht Ben wieder auf und geht ins Nebenzimmer. Auf der Plüsch-Couch nimmt er jene Pose ein, die ihr auch zuhause sagt: Stör ihn jetzt bloß nicht. Und das kommt ihr sogar recht.

Da steht sie nun mit einem fast zu Tode verletzten Herzen und mit brennendem Vorwurf, alles vermasselt zu haben. Sie wollte alles dafür tun, dass ihre Ehe wieder einen Aufschub bekommt. Jetzt wird sie wohl alles tun müssen, den Ehefrieden zu retten, auch wenn sie den noch keinen Tag infrage gestellt hat. Sie wollte mit diesem einsamen Urlaub sehnlichst erreichen, dass alles wieder wird wie früher, und dann fallen ihr im ungeeignetsten Moment die dämlichen Hühner fremder Leute ein. Wie idiotisch ist sie denn? Wer hätte sie hier — wobei auch immer — beobachten können? Wie weit wäre Ben gegangen? Sicher nicht bis zum Äußersten, bei aller Abgeschiedenheit. Hier ist man verraten und verkauft, vergessen und begraben…

Nach dieser Selbstbezichtigung sucht sie krampfhaft auch nach seinem Anteil, um sich besser zu fühlen: Warum fällt ihm auch ausgerechnet dort ein, dass es noch etwas wie Körperlichkeit gibt zwischen zwei Eheleuten. Haben wir keine andere Gelegenheit? Und wie oft ging es mir ähnlich und er hatte noch eine wichtige Sache am Laufen.

Am zweiten Tag müssen beide denselben Vorsatz getroffen haben, sie wollen alles besser machen. Es scheint, als wäre die alte Harmonie aus dem Nichts zurückgekehrt, nur mit Bens Berührungen sieht es spärlicher aus als erhofft. Sie erkunden die Insel und sie spüren die Wirkung des Klimas und die Wirkung der Abgeschiedenheit, die ihnen sagt: Nur du und dein Mann sind hier und wir müssen uns aufeinander verlassen.

So geht auch der zweite, ein ebenso klarer Tag aber mit deutlich mehr Wind ohne Probleme zu Ende.

Ida sagt: »Es war doch ein schöner, ein fast aufregender Tag.« Dieselbe Ansicht glaubt Ida auch bei Ben zu fühlen. Jedenfalls war der Tag nicht so öde, nicht so gegenseitig abweisend wie befürchtet, und es werden all die weiteren Tage, die sie hier verbringen wollen, nicht mehr öde, nicht mehr abweisend sein. Das nimmt sie sich vor. Es liegt an ihnen, an niemand sonst.

Sie ist schon vorausgegangen und räkelt sich in den ländlich bunten Kissen. Ben braucht, wie auch zuhause, für einen Mann ziemlich lange bei seiner Abendtoilette.

Als er kommt, schielt sie nach ihm. Er duftet, anders als daheim, nach Mandelseife. Seine gut gebräunten Arme mit den hervorstehenden Adern glänzen, und die Härchen auf der Haut um seinen Hals sind hochgerichtet, als reckten sie sich wie ein erektiles Glied. Wie erotisch er noch ist, wie er sie noch elektrisieren kann. Ida wünscht sich, dass sie bei ihm noch ebensolche Gefühle erzeugen könnte, was ihr nach ihrem Verhalten am Ufer nur noch schwer fällt zu glauben. Als er seine Hand nach ihr ausstreckt, hält sie den Atem an. Er beugt sich noch einmal zu ihr herüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie spürt, dass er näher bei ihr liegen bleibt als zuhause, zögernd vielleicht, was er tun soll. In dieser Atmosphäre von tiefer Nähe, von erhoffter Intimität, die sie kaum noch so erlebt hat, hat sie das Gefühl, unter der Decke nach Ben greifen zu müssen, genau dort, wo er so sehr erregbar ist, dass er noch nie widerstanden hat. Aber sie tut es nicht, wartet, dass er wie immer den Anfang macht.

Und dann … nicht lang danach erlebt sie das Gefühl streichelnder Hände über ihrer Haut, über ihrer Brust, über Bauch und Schenkel. Ihr beider Atem vermischt sich zu einem und ihre Hand spielt in den wundervollen Haaren ihres Geliebten Benjamin Winter von der Abi-Klasse. Wie lange ist das her? Undenkbar lange.

An diesem Abend erlebt sie wieder wie einst, wie sich ihr Schweiß vermischt, wie sich ihre Körper ergeben in dem Gefühl, den anderen zu brauchen, noch immer verrückt nach ihm zu sein und es ewig zu bleiben.

Ben ist so voller Begierde, dass er gar nicht merkt, im nächsten Moment wie ein Hengst über sie herzufallen. Es ist wie verhext. Heute genießt sie seine Unerbittlichkeit mit Wonne. Trotz seiner Heftigkeit reagiert auch sie mit viel zu starken Gefühlen auf ihn. Diese Augenblicke, die sie männliche Besessenheit nennt, hat sie bis gestern nicht gemocht an ihm, aber wenn sie ehrlich ist, braucht sie gerade jetzt Bens Zuwendung, Bens Anerkennung, Bens Geflüster, mit dem er ihr die Ewigkeit verspricht. Sie hat sie schon immer gebraucht, erst dann fühlte sie sich wirklich geliebt. Und wenn ihn nichts anderes zu diesen Bekenntnissen bringt, dann eben auch ihr Nachgeben auf seine Unerbittlichkeit.

In dieser Nacht bricht das Eis, das nur vom Stress gezeugt hat, redet sie sich ein. Heute erdulden die meisten Business-Leute zu viel Stress und können daher keine Kraft mehr für die schönen Seiten des Lebens aufbringen.

Nachdem sich beide vom Zustand höchster Erregung ausgeruht haben, kugeln sie noch einmal kichernd übereinander her, als waren sie und blieben sie nun für immer in dieser vollkommenen Übereinstimmung ihrer Gefühle. Wie nur selten liebkost Ben ihre Lippen, leckt ihre Haut wie eine junge Katze ihre Milch, dann lacht er leise und steigert seine Lust zu einem unhaltbaren Ausbruch.

Ben hat seine Vorstellungen von den Urlaubsnächten mit Ida zu verwirklichen begonnen. In Ida indes bleibt etwas zurück, was sie sich trotz höchster eigener Zufriedenheit, nicht erklären kann. Noch niemals zuvor hatte sie Gedanken wie diese, wenn sie sich geliebt haben. Warum stellt sie sich heute ein Szenario vor, das so weit weg liegt wie Kimbuktu.

Wie muss es sein, ein ungeliebter Mann zwingt dich zu dem, was du Ben freiwillig gegeben hast. Und was wäre, du müsstest unfreiwillig empfangen, was du von einem Scheusal zu empfangen befohlen bekommen hast?

In den meisten Jahren zuvor hatte sie bisweilen einen inneren Widerstand gegen Bens unverhofften Ausbruch gehegt, weil sie seine Liebe bei Tage vermisst hatte. Das war zwar Fakt, aber sie hat trotzdem seinen Willen zugelassen, was als einvernehmlich gilt. Freilich wäre sie glücklicher, seine Liebe außerhalb des Bettes deutlicher zu spüren, gerne würde sie auch abseits jeglicher körperlicher Erwartung von ihm Worte geflüstert bekommen, die ihr schmeicheln. Daraus dürfte er dann gerne neue Sehnsucht schöpfen, neue Erwartung an sie, neue Gier.

Sie lieben sich noch einmal, nicht mehr so heftig, mit mehr Ruhe und Tiefe, dann schläft Ben ein. Sie bleibt wach wie stets, wenn sie erregt ist, egal wovon.

Auf einmal ist es ihr, als sterbe ihre eigene Sehnsucht, als bliebe ihr Körper leer und ihr Herz kalt und verlassen zurück.

In ihre vielen Gedanken mischt sich wie so oft die ernüchternde Erkenntnis, dass Bens Hingabe nicht das bedeutet, was sie braucht. Die Liebe eines Mannes ist nur die Belohnung der Frau für das, was sie ihm schenkt. Alles, was nach Liebe duftet, dient nur diesem einen Ziel. Ist das erreicht, ist es vorbei mit lieben Worten, mit tausend Schwüren. Erst recht mit jeglichem Verständnis für das, was die Frau an seiner Seite anders macht, anders denkt als er.

Ein Urlaub wie dieser kann schön sein, aber die Zeit ihrer grauen Einsamkeit tief in ihr drin wird wiederkommen und dann hilft ihr nur, die Zähne zusammenzubeißen und sich in ihre Texte zu vergraben, die Enttäuschungen zu vergessen und sich einzubilden, sie lägen einzig an ihrer eigenen übertriebenen Erwartung an die Liebe. Nur so hat sie die Jahre überstanden, und nur so wird sie die kommenden überstehen.