Schwarzer Kokon

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Marcs Entlassung





Marc lag auf einer Pritsche in einer zweimal drei Meter großen Einzelzelle, beide Arme hinter dem Kopf verschränkt, und blickte an die Decke. Wenigstens ein Einzelzimmer, dachte er sarkastisch.



Nachdem seine Personalien vormittags aufgenommen waren, kam er zuerst in eine Gemeinschaftszelle, die zwar größer, jedoch von zwei anscheinend auch erst vor Kurzem festgenommenen Häftlingen besetzt war. Beide waren übersäht mit Tattoos, an den Unterarmen kein Zentimeter der natürlichen Haut sichtbar. Marc tippte auf mexikanische Abstammung. Grimmig sahen die beiden ihn an, als er hereingeführt wurde. Seine Handschellen abgenommen, schloss sich die stählerne Tür hinter ihm. »Hey« war das Einzige, was ihm zur Begrüßung einfiel. Doch die zwei Insassen beachteten ihn nicht weiter und ließen ihn in Ruhe.



So saß er einige Stunden, beide Beine angezogen, mit dem Rücken an der Wand auf dem Zellenboden, bis im Türschloss ein Schlüssel klapperte. Ein Officer mittleren Alters, den Schlagstock in der Hand, wandte sich direkt an ihn: »Blondschopf, mitkommen.«



Was Marc nicht wusste: Der Officer wurde von Chief Williams angehalten, keinen Namen zu nennen. Williams hielt sich an die Abmachung, alles zu unternehmen, dass nichts an die Öffentlichkeit kam.



Die Hand des Gefängniswärters fest an seinem Oberarm, stolperte Marc neben diesem her, bis sie, nachdem sie eine weitere Sicherheitsschleuse durchschritten hatten, an eine graue Zellentüre kamen. Der Wärter schloss auf.



»Von wann bis wann gibt’s Frühstück?«, fragte Marc, doch der Polizist war für diese Art von Spaß nicht zugänglich. Wortlos schloss sich die Türe hinter Marc.



Seine Swatch verriet ihm, dass es bereits nach 16 Uhr am Nachmittag war. Das dauert aber, bis Pops seine Beziehungen spielen lässt, dachte Marc. Doch insgeheim war ihm mulmig zumute, wenn er an die Reaktion seines Vaters dachte. Würde bestimmt kein Spaß werden.



Es war bereits nach acht, als sich die schwere Türe wieder öffnete. Zu seiner Erleichterung kam neben der Person in Polizeiuniform Michael mit in die Zelle.



»Pack deine Sachen, wir verschwinden hier«, sagte Michael ohne Umschweife.



Seine Jacke in der Hand, lief Marc wortlos hinter den beiden her. Anscheinend hatte Michael den ganzen Papierkram schon erledigt, denn sie durchschritten zielstrebig zwei Sicherheitsschleusen und erreichten über verwinkelte, neonbeleuchtete Gänge direkt das große Eingangsfoyer, in dem er noch am frühen Vormittag seine Personalien angegeben hatte. Lautes Treiben erfüllte das Revier, vergleichbar mit einer vollen U-Bahn-Station. Sie schlängelten sich an Polizisten und einer Meute Zivilpersonen vorbei zum Ausgang.



Neben Michael im Wagen sitzend, brach dieser das Schweigen: »Bist du völlig irre, Marc? Du hast dem anderen die Nase gebrochen. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Publicity gäbe, wenn auch nur ein Journalist davon erfahren hätte? Ich seh schon die Schlagzeilen: Sohn von Senator Haskins prügelt Jugendlichem ohne Vorwarnung den Arsch aus der Hose.«



»Michael, es war anders, als du denkst«, begann Marc sich zu verteidigen.



»Einen Scheiß, Marc, das interessiert niemanden. Es sind immer die anderen bei dir. Wie oft soll dir Fredrik denn noch den Kopf aus der Schlinge ziehen? Du kannst von Glück reden, dass der Kerl kein unbeschriebenes Blatt ist.«



Michael hatte am Nachmittag ein paar Anrufe getätigt. Schnell hatte er raus, um wen es sich bei dem Geschlagenen handelte, der nun im George Washington University Hospital behandelt wurde. Der Typ mit gebrochener Nase hieß Vincent Doyle. Ein kleiner Ganove, der ein längeres Strafregister wegen verschiedener Delikte, unter anderem Körperverletzung, kleinere Diebstähle und Drogenkonsum, vorzuweisen hatte. Louis, ein Mitarbeiter von Michael, der die Drecksarbeit, die ab und an anfiel, übernahm, war in die Klinik gefahren, um Vincent Doyle aufzusuchen. Danach war Vincent klar gewesen, dass es zu seinem Besten sein würde, keine Anzeige zu erstatten. Vielmehr unterschrieb er eine Bestätigung, dass es sich bei dem Zwischenfall in der Bar Marie Inn um eine Rauferei handelte, die er, Vincent Doyle, angezettelt hatte. Fünfhundert Dollar, die ihm Louis für die Unannehmlichkeiten sowie die Arztkosten in die Hand drückte, gaben letztendlich den Ausschlag.



Michaels Wagen parkte in der Tiefgarage und gemeinsam fuhren sie im Aufzug zur Wohnung. Olivia stand bereits an der Türe. Sie umarmte Marc und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gott sei Dank, dass du da bist. Dieses Mal hast du es echt übertrieben. Dein Vater ist mächtig sauer, mach dich auf was gefasst.«



Marc verzog sein Gesicht und wartete darauf, dass sein Vater wutentbrannt um die Ecke kam. Doch Fredrik stand ruhig im Wohnzimmer und begrüßte Michael, ohne dass er von Marc Notiz nahm. »Danke, Michael« war das Einzige, was Fredrik in diesem Moment für angebracht hielt.



»Äh, Pops«, fing Marc zu stammeln an, doch Fredrik unterbrach ihn sofort.



»Zu dir komme ich später. Verschwinde auf dein Zimmer und lass dich erst blicken, wenn ich dich rufe.«



Für Marc war die Reaktion seines Vaters schlimmer, als hätte er eine Salve an Vorwürfen über sich ergehen lassen. »Schon gut, schon gut.« Er hob kurz die Hand, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Ohne ein weiteres Wort verkroch er sich in sein Zimmer.







Der Leitwolf





Der Leitwolf kam immer näher. Leicht seitlich Zola zugewandt, starren Blickes auf sein Opfer gerichtet. Angst kam in Zola auf. Übelkeit überfiel sie. Sollte dies hier und jetzt ihr Ende sein, nach alledem, was sie durchlebt hatte? Nichts außer dem Rascheln des Waldbodens, ausgelöst durch mindestens acht sie einkreisende Wölfe. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen, jeden Moment bereit, das Messer in die Brust des Wolfes zu stoßen. Der Leitwolf war ihr am nächsten. Groß war er und sein muskulöser Brustkorb spannte die Muskeln bei jeder Bewegung der Pfoten. Zola konnte seine Reißzähne sehen. Lang und gefährlich würden sie jeden Moment versuchen, ihre Kehle zu erreichen.



Kurz bevor der Leitwolf zum Sprung ansetzen konnte, legte Zola plötzlich das Messer zwischen sich und dem Wolf auf den Boden. Sie konnte sich in diesem Moment nicht erklären warum, irgendeine Kraft hatte sich ihrer bemächtigt. Fassungslos starrte sie auf die glänzende Klinge, die jetzt im Moos vor ihr lag.



Der Leitwolf stierte sie an, gab plötzlich ein Gähnen von sich, reckte seine Vorderpfoten nach vorne und sein Hinterteil in die Höhe. Wie ein Schoßhund ließ er sich gemütlich auf die Seite fallen. Das restliche Rudel kam langsam auf Zola zu und einer der Wölfe schleckte mit seiner rauen Zunge ihre Hand. Überwältigt legte Zola zaghaft ihre Finger auf das Fell des Wolfes – und streichelte ihn. Als sei sie schon immer ein Teil des Rudels gewesen, verhielten sich die Wölfe friedlich und legten sich nieder.



Nach kurzer Zeit tat Zola es ihnen gleich. Sie fasste ruhig nach ihrem Messer, legte es zu ihrer Provianttasche und sich selbst zum Schlafen. Noch immer ein wenig ängstlich, getraute sie sich nicht, sofort die Augen zu schließen. Doch die Schwere der Nacht legte sich über sie. Im Dunst des feuchten Mooses, vermengt mit dem modrigen Geruch vom Fell des Leitwolfs, schlief Zola ein.







Die Brüder





Schlecht gelaunt kam Stephen zu Hause an. Alle schienen zu schlafen. Er ging direkt in sein Zimmer und zog sich seinen Pyjama an. Kurz ins Bad und Zähne putzen. Er legte stets Wert auf sein Äußeres, da gehörte die abendliche Pflege dazu. Er betrachtete sich noch kurz im Spiegel und dachte an Marc. Ob er noch im Knast war? Vor dessen Zimmer öffnete er die Türe einen Spalt breit und hörte sein Schnarchen. Stephen trat ein und knipste das Licht an.



»Hey, Marc, bist du wach?« Blöde Frage, die durch das Schnarchen beantwortet wurde. Er schüttelte Marcs Schulter. »Marc, wach auf!«



Ein kurzes Knurren. Marc öffnete verschlafen die Augen. »Was ist?«



»Was soll sein, das würde ich gern von dir wissen!«



»Lass mich schlafen, Stephen, verpiss dich.«



»Du spinnst doch völlig, weißt du eigentlich, was du gemacht hast?« Stephen hatte sein Ziel erreicht, Marc war wach. Mürrisch setzte er sich, nichts außer weißen Boxershorts tragend, im Bett auf. Stephen war wieder mal erstaunt, wie muskulös sein Bruder war.



»Was willst du jetzt von mir, Stephen? Soll ich bei dir die Beichte ablegen? Ich hab nem Typen die Nase gebrochen. Na und? Du hättest mal seine blöde Fresse sehen sollen!« Marc grinste.



»Und was, wenn Dad dich nicht rausgehauen hätte?«



»Hat er aber und jetzt verschwinde, Stephen.«



»Du bist so ein selbstsüchtiger Arsch, Marc. Weißt du das?«



»Wenn du jetzt nicht gleich die Biege machst«, schnaubte er, nahm blitzschnell seinen Bruder in den Schwitzkasten und rubbelte mit seinen Knöcheln auf dessen Kopf, »dann ergeht es dir gleich wie dem Typen heute. Los, hau dich aufs Ohr und lass mich zufrieden.«



Stephen rieb sich seinen Kopf, während er wütend in sein Zimmer verschwand. Es bringt einfach nichts, mit Marc zu reden.







Das Dunkel des Waldes





Am Horizont zeichnete sich der Sonnenaufgang ab, als Zola durch lebhaftes Vogelgezwitscher geweckt wurde. Keiner der Wölfe, die ihr nachts ein solch sonderbares Erlebnis beschert hatten, war zu sehen. Sie blickte sich um, ob sie ihren Sperling unter den Vögeln erkennen konnte. Doch weder sah sie den Kleinen noch konnte sie aus dem Vogelgewirr einen Pieps verstehen. Verlier nicht den Verstand, dachte Zola. War das alles nur ein wirrer Traum?

 



Zola, du musst weiter! Sie dachte kurz an die Barke, um damit weiter flussabwärts zu fahren. Doch sie entschied sich dagegen. Mit festem Boden unter den Füßen fühlte sie sich sicherer. Ein Blick in den Proviantbeutel riet ihr, den Vorrat sparsam zu verzehren. Wer weiß, wie lange ich unterwegs bin, bevor ich irgendetwas Essbares finde.



Die Sonne schien ihr warm auf den Rücken, war stundenlang ihr Begleiter, bis sie an den Rand eines Waldgebietes kam. Massive Baumstämme sowie üppiges Gestrüpp erzeugten einen düsteren Eindruck, der keineswegs einladend auf Zola wirkte. Doch sie erkannte, dass diese dunkle Welt für sie einen natürlichen Schutz bedeutete. Hier ist die Grenze. In jenes Dunkel wird mir keiner folgen.



Wenige Meter war Zola zaghaft in die Dunkelheit gegangen, als sie die Veränderung wahrnahm. Dichtes Blätterwerk des Waldes kühlte angenehm die Luft des Sommers. Der Waldboden war warm, mit Moos überwuchert. Es roch nach Blattwerk, Pilzen und feuchter Erde. Immer wieder blieb sie stehen, um sich an die Laute des Waldes zu gewöhnen. Ein sanfter Wind blies durch das Geäst, ab und an ein knackendes Geräusch, das sie unwillkürlich ducken ließ.



Rasch gewöhnte sich Zola an die Sprache des Waldes, sie blieb nur stehen, wenn es um die Orientierung ging. Ihr gutes Gehör vermochte das leise Rauschen des Flusses zu erkennen. Sie lief den ganzen Tag, ohne aus der Düsternis des Waldes herauszukommen noch ein Ende zu sehen.



Als die Dämmerung einsetzte, hielt sie Ausschau nach einem Lagerplatz für die Nacht. Unter einer großen Eiche sank sie erschöpft nieder. Einsam in der Dunkelheit trank sie die letzten Tropfen aus der Flasche und beschloss, den nächsten Tag zu nutzen, sowohl Proviant als auch Wasser zu suchen. Sie fühlte sich einsam und dachte mit geschlossenen Augen abermals an ihre Mutter. Leise weinend schlief sie ein.



Nachts erwachte sie kurz aus ihrem Schlaf. Neben ihr ein warmer, leise atmender Körper. Der Leitwolf lag an sie geschmiegt und schlief.



Als sie morgens zu sich kam, lag sie auf taufeuchtem Moos. Es roch nach den nächtlichen Aromen des Waldes. Der Wolf war verschwunden. Zola lauschte und konnte das Rauschen des Flusses hören. Sie dehnte ihre müden Glieder, rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte sich auf den Weg.



Keine zwanzig Minuten später kam sie an eine Lichtung, von der aus der Fluss zu sehen war. Zu ihrer Verwunderung erstreckte er sich einige Meter unterhalb des Waldes. So musste eine geeignete Stelle gefunden werden, um über einen steilen Abhang nach unten zum Ufer zu gelangen. Dort angekommen, fand sie eine ruhige Stelle, die ihr die Möglichkeit bot, zu trinken und ihre Flasche aufzufüllen. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog sie sich aus und ihre Füße gingen vorsichtig ins kalte, klare Nass. Erfrischendes Kühl umspülte ihren zarten Leib und sie schrubbte mit beiden Händen jeden Zentimeter ihres Körpers. Als wolle sie allen Dreck, jede Berührung der vergangenen Tage und Nächte von sich waschen. Brennender Schmerz erinnerte sie an die Stelle ihres linken Unterarms. Die Wunde zeigte neben einer dunklen Blutkruste einen Rand aus Eiter. Sie entfernte ihn vorsichtig mit Wasser, dann zog sie ihr Baumwollkleid über den nassen Körper.



Auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, gelangte Zola zurück in den schützenden Wald. Erfrischt, gleichwohl ihr Magen knurrte. „Geh nicht an den Proviant“, mahnte sich Zola abermals und setzte ihren Weg fort.



Gegen Mittag säumten niedrige Sträucher, welche dunkelblaue, fette Beeren trugen, ihren Weg. Nicht wissend, ob gut oder giftig, steckte sie hungrig vorsichtig eine in den Mund. Langsam kaute sie. Der Geschmack besaß eine sonderbare Süße. Sie führte eine zweite in ihren Mund und entschloss sich, für eine Pause auf einem Baumstumpf Platz zu nehmen. Wartend, welche Wirkung die Beeren zeigten. Würde ihr übel, so hoffte sie, wenig des Giftes in sich zu haben. Insgeheim wünschte sie natürlich, dass nichts passierte, denn der Geschmack der Beeren war wunderbar.



Nach einer Stunde, ohne dass sie Übelkeit überfiel, entschied sie, die Beeren zu essen und einen Vorrat zu sammeln. Während sie vornübergebeugt Beeren in ihren Beutel füllte, überfiel sie erneut der Schmerz ihrer Wunde am Unterarm. Gelblicher, schmieriger Eiter trat aus der Wunde.



»Du solltest dich um die Wunde kümmern.«



Zola fuhr erschrocken herum. Da saß er, der Sperling, und sprach zu ihr, als ob es das Natürlichste der Welt wäre.



»Sie schmerzt. Ich habe sie vorhin schon mit Wasser gereinigt.«



»Ich sagte dir, du wirst viel lernen müssen. Was glaubst du, hätte deine Mutter gemacht?«



Zola sah traurig zum Sperling. »Kannst du mir sagen, wie es ihr geht?«



»Es geht ihr gut. Sie und ich sind eins. Du und ich sind eins. Komm mit!«



Schon flog der Spatz und Zola musste eilen, ihm zu folgen. Sie rannte über den Waldboden, übersprang Wurzeln und Gestrüpp, bis sich der Sperling auf einem Ast in Zolas Augenhöhe niederließ.



»Siehst du die Pflanze dort? Pflücke, zermalme und vermische sie mit Wasser. Nimm ein großes Blatt, dann streiche es ein. Lege es auf deine Wunde.«



Zola sah die lilafarbenen Blüten des Eisenkrauts, ohne diese zu kennen. Schon nach Tagen, die Anweisung wiederholend, trat Besserung ein. Zola hatte ihre ersten Lektionen gelernt. Der Wald war ihr neues Zuhause!







Der Oberste Gerichtshof entscheidet





Chief Willson hatte einen Mordskater. Bis tief in die Nacht hatten er und einige seines Departments die Nachricht gefeiert, dass der zuständige Bundesrichter die Todesstrafe im Fall Sanders in Erwägung zog. Das Schwein Jeff Sanders sollte erledigt werden! Hatte er doch einen von ihnen gekillt.



So traf ihn heute Morgen die Schlagzeile der Washington Post wie ein Hammer, der mit viel Schwung direkt auf sein Gesicht einschlug:



»OBERSTER GERICHTSHOF ENTSCHEIDET GEGEN TODESSTRAFE. Der Oberste Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Samuel Rudolph hat sich im Fall Jeff Sanders gegen die Anwendung der Todesstrafe ausgesprochen. Ein endgültiges Urteil steht noch aus. Wie bereits berichtet, hat der angeklagte Farbige Jeff Sanders in der Nacht vom …«



Wie konnte es so weit kommen? Fassungslos las er nochmals die Schlagzeile, ohne sich den weiteren Ausführungen zu widmen. In welchem Land leben wir, wenn solche Schweine ihrer gerechten Strafe entgehen? Der Nigger hatte einen seiner Kollegen hingerichtet. Wie ein Schwein abgestochen und jetzt sollte er auf Staatskosten ein friedliches Dasein bei kostenloser Verpflegung und nachmittäglichen Basketballspielen fristen. Zwar für immer hinter Gittern, aber – lebend!



Ich werde etwas unternehmen! Das bin ich meinem Kollegen, allen Weißen und mir schuldig. Und wenn es das Letzte ist, dachte Willson.



Er entnahm seinem Portemonnaie einen zusammengefalteten Zettel und wählte die darauf notierte Nummer.



»Haskins.«



»Hallo, Senator, Deputy Chief Willson. Ich habe wenig Zeit und komme gleich zur Sache. Haben Sie die Washington Post gelesen?«



»Sie meinen die heutige Ausgabe?«



»Natürlich die heutige Ausgabe, Senator!« Willson war merklich aufgebracht. »Senator, können Sie sich vorstellen, wie sich ein Cop der USCP nach diesem Schlag ins Gesicht fühlt?«



»Willson, die Entscheidung wurde vom Bundesgericht getroffen, nicht von mir.«



»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass diese Entscheidung nicht mit Vertretern des Senats diskutiert wurde. Wie konnte es so weit kommen?«



»Chief Willson, ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind, aber …«



»Kein aber, Senator. Das Schwein hat einen Weißen abgestochen. Unser Kollege trug die gleiche Dienstmarke wie ich und Tausende andere. Es kann nur eine Strafe geben, die Spritze, die diesen Nigger fertigmacht.«



»Noch mal, Willson, Sie sprechen mit dem Falschen.«



»Nein, Senator, bei allem Respekt, Sie sind mir was schuldig. Mir und meinen Kollegen.«



»Wie meinen Sie das?«, fragte Haskins, wissend, wie er es zu interpretieren hatte.



»Sie haben es mir zu verdanken, dass Ihr Sohn und damit auch Sie nicht auf Seite 1 der Washington Post standen. Schon vergessen?«



»Sicher nicht, aber wollen Sie mich jetzt damit erpressen?«



»So etwas würde ich nicht mal denken, Senator. Aber ist es nicht schon immer in der Politik so: Eine Hand wäscht die andere? Reden Sie mit dem Richter, machen Sie irgendwas. Es sollten andere Schlagzeilen über diesen Nigger in der Zeitung stehen. Meinen Sie nicht auch?«



Und damit legte er auf.







Hugh





Zola war nicht alleine unterwegs. Tagsüber begleitete sie ein Sperling, auch wenn dieser nicht ständig zu sehen war. Des Nachts lag stets ein Freund an ihrer Seite. Der Leitwolf. Dennoch fehlten Zola die Menschen, die sie früher um sich hatte. Tumelo, Sam, Mrs. Baine und natürlich ihre Mutter Aba. Der Sperling aber verlieh ihr das sonderbare Gefühl, ihre Mutter wäre bei ihr. Auch deutete dies der kleine Spatz immer wieder an. Dass sie mit einem Vogel sprach, wunderte sie nicht mehr.



Zola lief tagelang, ohne daran zu denken, sich in einer Höhle oder gar selbst gebauten Hütte niederzulassen. Nahrung fand sie reichlich. Beeren, Pilze, selbst Fische zu fangen, hatte sie gelernt. Stundenlang stand sie bewegungslos im Wasser des Flusses, um im Bruchteil einer Sekunde mit bloßen Händen nach dem Fisch zu greifen. Sie aß den Fisch stets roh, da sie es vermied, ein Feuer zu entzünden. Die Technik, kleine Holzspäne durch Reiben zweier Feuersteine anzuzünden, hatte sie zwar von Tumelo gelernt. Doch die Angst, infolge des Scheins der Flammen oder des Geruchs von Rauch entdeckt zu werden, überwog.



Eines Nachmittags – im Spätsommer 1732 – vernahm Zola ein sonderbares Geräusch. Es war wie das Geplapper vieler, durcheinanderredender Menschen. Vorsichtig, doch entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Fluss. Je näher sie diesem kam, desto stärker vernahm Zola die seltsamen Laute. Als sie aus dem Wald trat, stand sie auf einer Anhöhe und überblickte das gesamte Tal. Ein betörendes Bild tat sich ihr auf. Neben bewaldetem Gebiet erkannte sie eine große Seenlandschaft. Tausende von Vögeln flogen oder standen in der Nähe der Gewässer, schnatterten und kreischten. Der überwältigende Anblick, der sich ihr bot, gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl von Freiheit. Lange saß sie auf einem Stein, bestaunte den Sonnenuntergang, der das Tal in ein tiefes Rot färbte und sich im Wasser spiegelte. Als die Dunkelheit hereinbrach, genoss sie noch immer das Gefühl, glücklich zu sein.



Es raschelte neben ihr, als die Wölfe zu ihr gelangten. Sie spürte die raue Zunge des Leitwolfes, als dieser ihre Wange schleckte. Das restliche Rudel begann zu jaulen, als wollte es für Zola ein Lied anstimmen, bevor sie den Anführer drängten, wieder mit in den Wald zu kommen. Doch dieser blieb in der Nacht neben Zola, während der Rest der Meute in der Dunkelheit verschwand.



Am nächsten Morgen machte sich Zola wieder auf den Weg. Sechs Tage nochmaliger Fußmarsch Richtung Norden. Weitere fünf Tage später lag sie schlafend unter einem großen Laubbaum, dessen vormals grüne Blätter jetzt goldbraun schimmerten.



Im Traum sah sie Tumelo, wie er auf einem weißen Schimmel angeritten kam. Behände sprang er vom Pferd und sie spürte seine Hand auf ihrer Wange. Doch statt der weichen Haut der Handflächen, war es ein stechendes Gefühl. Als ob ein Specht seine Arbeit verrichtete, um ein Loch für sein Nest zu bauen. Ihre Hand wischte im Schlaf an ihrer Wange, dann erwachte sie.



»Zola, wach auf. Wir brauchen deine Hilfe.«



Nach und nach erkannte sie, dass es der Schnabel des Sperlings war, der sie in die Wange piekste. »Was ist los? Wer braucht meine Hilfe?«



»Lass alles hier. Nimm nur dein Messer mit und folge mir.«



Der Sperling flog in Sichtweite voraus, Zola rappelte sich auf und folgte ihm in die Nacht. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Dann hörte sie ein Jaulen. Es war ein jämmerlicher Laut, durchsetzt von Angst. Wenig später sah sie ihn. Ihr Leitwolf taumelte aufgeregt um die eigene Achse und biss hektisch in seine Vorderpfote. Irgendetwas schien seinen Vorderlauf festzuhalten. Geduckt schlich Zola näher, bis sie, neben ihm angekommen, vorsichtig sein Ohr streichelte, was ihn zu beruhigen schien.

 



»Ruhig, ruhig«, flüsterte sie, während sie zur Vorderpfote blickte. Scharfe Eisenkrallen hatten sich in sein Fell geschlagen und hielten ihn fest. Das halbrunde Metallgebilde wurde durch eine im Waldboden verankerte Kette gesichert. Zola zog mit aller Kraft an der Kette, ohne dass die Verankerung auch nur einen Millimeter nachgab. Beim Versuch, beide Krallen der Falle auseinanderzupressen, hätten sich fast ihre eigenen Finger in dem Ungetüm verfangen. Im zweiten Anlauf gelang es Zola, die Eisenzähne so weit auseinanderzupressen, dass der Wolf sein Bein herausziehen konnte. Hechelnd fiel ihr Wolf mit heraushängender Zunge zur Seite.



Sie betrachtete die Wunde ihres Freundes. Das Fell der Pfote war blutverschmiert. Sie musste sie reinigen und mit Eisenkraut behandeln. Während sie noch die Verletzung ihres Freundes betrachtete, vernahm sie plötzlich ein leises Rascheln direkt hinter ihrem Rücken. Blitzschnell zog Zola ihr Messer, sprang auf und drehte sich um. Der Gewehrkolben schlug wie ein Blitz auf ihre Stirn und sie verlor im Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein.



Als Zola wieder zu sich kam, hämmerte ein dumpfer Schmerz an ihrer Stirn, brachte in Erinnerung, dass sie ein heftiger, harter Schlag getroffen hatte. Sie lag auf einer Pritsche in einer geräumigen, aus schweren Holzstämmen erbauten Hütte. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer. Darüber ein großer Kessel, dem ein wohlriechender Duft direkt in ihre Nase entstieg. Ihre Hände tasteten vergeblich nach ihrem Messer, als die Türe geöffnet wurde.



Zola versuchte aufzustehen, um sich dem Angreifer zu stellen, doch ihre Beine versagten den Dienst. Auch verrutschte ein nasses Tuch, welches ihre Stirn bedeckte, derart, dass es ihr die Sicht versperrte. Sie warf den feuchten Stoff auf den Boden und sah, dass zwei stämmige Beine in Fellhose vor ihr standen.



Zola sah einen Mann, dessen Gesicht nur aus zwei Augen und einem dicht gewucherten Bart zu bestehen schien. Selbst die Nase war durch den dichten Haarwuchs kaum zu erkennen. Nicht allein das Aussehen des Mannes (hatte er überhaupt einen Mund?) flößte ihr Angst ein, nein, es war seine Größe. Einen solch gigantischen Menschen hatte sie zuvor noch niemals gesehen.



Langsam beugte er sich zu ihr, hob das Tuch vom Boden und ging schweigend zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. Dort stand ein großer hölzerner Trog. Er tauchte das Gewebe ein, trat schweren Schrittes zur Pritsche und reichte ihr den nassen Lappen.



»Kannst du mich verstehen?« Seine Stimme war dunkel, grollend wie die eines Donners. »Sag, kannst du meine Sprache?«



Er zog einen Schemel heran und nahm Platz. Sitzend hatte er ungefähr die Größe, die Zola für normal erachtete.



»Dann werden wir es schwer haben, wenn du nicht sprechen kannst.« Seine Augen lagen bohrend auf Zola.



»Ich …« Zolas Hals war heiser und ihre Worte klangen krächzend. »Ich kann Sie verstehen.«



»Na, das nenne ich Fortschritt. Wenigstens etwas. Hast du Hunger?«



Langsam wich die Angst. Hätte er sie töten wollen, so würde sie bestimmt nicht in dieser Hütte liegen. Zola nickte.



Der Hüne stand auf und füllte eine breiige Masse aus dem Kessel in eine Holzschale. Er reichte Zola die Schale mit einem Holzlöffel. Vorsichtig begann sie den heißen Brei zu essen. Es war seit Langem ihr erstes gekochtes Gericht.



»Ich muss mich bei dir entschuldigen. Der Wumms, den ich dir verpasst habe, war heftig, oder?« Sein Lachen hatte einen dröhnenden, doch angenehmen Klang. »Natürlich war es heftig, ha, ha, du hast richtig tief geschlafen. Was hat so ein zierliches Ding wie du im Wald verloren? Und dann noch Wölfe retten. Hab so was ja noch nicht erlebt.« Er schüttelte seinen großen Kopf hin und her und sein kinnlanges, zotteliges Haar schwang mit.



»Wo ist er?«, fragte Zola vorsichtig.



»Du meinst den Wolf? Hab so was ja noch nicht erlebt.« Wieder schüttelte er sein Haupt und Zola war außerstande, selbst wenn er sprach, seine Lippen zu erkennen. Einzig der Bart bewegte sich. »Du wirst es nicht glauben. Dieser Köter ist mir den ganzen Weg hierher humpelnd gefolgt und sitzt jetzt in einiger Entfernung vor der Hütte. Sobald ich auf ihn zugehe, verschwindet er, um kurze Zeit danach wieder da zu sitzen, wo er vorher war. Das nenn ich Freundschaft. Er ist doch dein Freund, oder?«



»Wo bin ich?«



»Na, hier in meiner Hütte, nicht unweit davon entfernt, wo sich dein Freund in meiner Falle verfangen hat. Du musst doch vorsichtig sein, Kindchen, hier draußen wimmelt es vor Gefahren. Sei nur mal froh