Schwarzer Kokon

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Übermut

Washington D. C., 2001

Marc saß an einem langen Tresen, auf einem jener Barhocker der fünfziger Jahre mit knallroter Sitzfläche. Und seine hellblonden, kurzen Haare waren in der Menge an Gästen von Weitem zu erkennen. Er war groß, sportlich und Center seines Footballteams an der Georgetown University, die ihren Namen dem Sitz im noblen Washingtoner Stadtteil Georgetown verdankte. Eigentlich sollte er vormittags im Hörsaal der Universität sitzen und den Vorträgen seiner Professoren lauschen. Doch wie so oft zog er es vor, mit seinen beiden engsten Kommilitonen Patrick und Abel, die wie er siebzehn waren, in der dem Universitätsgelände nahe gelegenen Bar Marie Inn abzuhängen. Das Marie Inn war wegen der umfangreichen Frühstückskarte sowie der Möglichkeit, Billard und Darts zu spielen, beliebt bei den Studenten und vielfach schon vormittags gut besucht.

Abel, von kleiner, zierlicher Statur, entstammte einer reichen jüdischen Familie, die über Generationen im Bankengeschäft ein Vermögen verdient hatte. Trotz strengen jüdischen Glaubens seiner Familie vermied er es, tagsüber die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, zu tragen. Er hatte die feste Überzeugung, seine Chancen beim anderen Geschlecht würden sich hierdurch mindern. So saß er, mit dünnem, schwarzem Haar und seiner zu groß geratenen Nickelbrille auf der schlanken Nase, ebenfalls auf einem Hocker rechts neben Marc. Er musterte seinen Freund von der Seite.

»Hey, wenn du so weiter trinkst, erlebst du das Mittagsläuten nicht mehr!« Dabei tippte Abel auf das halbvolle Glas Whiskey.

»Kennst du den Unterschied zwischen arm und reich?«, entgegnete Marc. Ohne auf die Antwort seines Freundes zu warten, fuhr Marc fort: »Arme stehen um diese Zeit an der öffentlichen Suppenküche an oder liegen noch benommen vom billigen Fusel der Nacht unter einer Brücke. Ohne Chance, was zu ändern. Reiche dagegen«, er grinste, »Reiche haben das Privileg eines vollgefressenen Magens und können sich schon tagsüber mit Drinks zuschütten. Ich kann doch nichts dafür, dazu auserwählt zu sein – oder?« Er hob sein Glas und trank einen kräftigen Schluck.

»Wenn du meinst, aber wolltest du nicht heute Nachmittag zum Training auf dem Campus erscheinen?« Abel wusste zu gut, dass Marc ganz und gar in seinem Sport aufging. Seine Qualität als Center des Football Teams war auch der Grund, warum der Principal der Georgetown University Marc viel durchgehen ließ. Denn als Student zählte Marc nicht gerade zur Elite – seine Noten waren meist mangelhaft.

In Marcs Kopf drehte sich alles. Der Alkohol seiner zu schnell getrunkenen fünf Whiskeys bahnte sich den Weg ins Blut und von dort aus ins Gehirn. »Du hast recht, lass uns ne Runde Billard spielen und dann an die frische Luft.«

Nun drehte sich auch Patrick zu den beiden, der links von Marc saß, während er dem Gespräch der Freunde am Rande lauschte. Seit sie an der Bar Platz genommen hatten, war er einzig auf eine schöne Brünette, die an einem der Tische gegenüber mit ihrer Freundin saß, fixiert, die wiederum versuchte, das dämliche Grinsen Patricks zu ignorieren. »Los, komm«, seufzte Patrick, zupfte Marc am Ärmel und machte Anstalten, ihn mit in Richtung Hinterzimmer zu den Billardtischen zu bewegen. So rutschten die Freunde allesamt gelangweilt von ihren Barhockern und sichtlich wankend folgte Marc den beiden.

Als sie am Tisch der brünetten Schönheit vorbeikamen, verlangsamte Patrick seinen Gang, zupfte aus einer Laune heraus am linken Ohrläppchen des Mädchens und beugte sich zu ihr: »Heute Abend um acht hier ein Date?«

Das Mädchen sah ihn böse an, stieß seine Hand von sich und zischte: »Blödmann, verpiss dich.«

Lachend, der erteilten Abfuhr wegen, gingen sie weiter zum Hinterzimmer. Dieses war durch eine schwenkbare Holztür mit gläsern milchigem Bullauge vom Rest der Bar getrennt. Ein strenges Rauchverbot in den Bars schrieb separate Bereiche vor. So hatte der Besitzer den hinteren Raum für Raucher eingerichtet. Im Vergleich zum vorderen, im Stil der Fünfziger möblierten Barbereich, erweckte das Spielzimmer einen relativ heruntergekommen Eindruck. Eine Menge junger Leute saßen plaudernd an Bistrotischen oder standen, sich am Bier festhaltend. Schwaden gelben Zigarettendunstes durchzogen den Raum und vermischten sich mit Gerüchen aus Alkohol und gebratenem Speck. Gerade war ein Billardtisch seitlich der Wand frei geworden und die drei Jungs bewegten sich zielstrebig darauf zu. Das defekte Neonlicht über dem Tisch flackerte in unregelmäßigem Takt. Jeder nahm sich einen Queue aus der Halterung an der Wand, während Abel alle Kugeln für den ersten Anstoß auf dem mit grünem Stoff überzogenen Tisch zurechtlegte.

Ohne zu fragen, übernahm Patrick mit der weißen Kugel in der Hand den Anstoß; dies war das ungeschriebene Recht des besten Billardspielers unter den dreien. Krachend traf die Weiße den Rest der Spielbälle, während der Blick aller die erste Kugel suchte, die ihr Ziel in einem der Löcher des Tisches fand.

Währenddessen öffnete sich die Schwenktür und das brünette Mädchen von eben kam, gefolgt von ihrer Freundin sowie zwei groß gewachsenen Jungs in schwarzen Lederjacken, herein. Sie blickte sich um, deutete mit ihrem Zeigefinger auf die drei ins Spiel Vertieften und flüsterte einem der Männer etwas ins Ohr.

Sogleich bahnten sich die beiden ›Lederjacken‹ den Weg zum Billardtisch, während die Brünette mit ihrer Freundin am Eingang stehen blieb. Der Größere der beiden stupste Patrick von hinten an dessen Schulter. Leicht stolpernd drehte sich Patrick um, derweil Abel, als Kleinster in der Runde, einen Schritt zur Seite trat. Marc, vom Alkohol noch benebelt, brauchte etwas länger, um die angespannte Situation zu begreifen.

»Hey, du College-Bübchen, hast du meine Freundin angegrapscht?«

»Moment, Moment, ruhig Blut, Brauner«, entgegnete Patrick und überlegte kurz, welche ›Freundin‹ wohl gemeint war. Dann entdeckte er die beiden Mädchen grinsend am Eingang stehen. »Ich wusste ja nicht, dass sie ›deine‹ Freundin ist, darüber hinaus habe ich sie keineswegs begrapscht. Was hältst du davon, wenn ich euch allen einen Drink spendiere und wir vergessen das Ganze?«

»Ihr College-Jungs glaubt wohl, was Besseres zu sein, und habt dann nicht mal Eier in der Hose.« Der Große wandte sich triumphierend zu seinem Kumpel. In seinem Blick war zu sehen, dass er Streit suchte.

Du kommst mir gerade richtig! Nicht mal Eier in der Hose? Was für ein Idiot, dachte Marc. Bekannt dafür, keinem Streit aus dem Weg zu gehen, trat Marc vor Patrick, bis er dem Wortführer der beiden Halbstarken direkt gegenüberstand. Sie waren zu dritt, auch wenn Abel bestimmt keine große Hilfe in dieser Situation sein würde. Sein Gegenüber hatte ungefähr die gleiche Größe, ebenso wie Marc erweckte dieser nicht den Eindruck, zum ersten Mal in solch einer Situation zu sein.

»Wir wollen doch jetzt keinen Zoff«, ermahnte Marc. »Nimm das Angebot meines Freundes lieber an, sonst brauchst du noch einen Strohhalm für den Drink.«

Allen war klar, dass Marcs Auftreten keineswegs zur Entspannung der Situation beitrug, doch sein Alkoholpegel stimmte ihn mutiger, als wenn er nüchtern gewesen wäre.

Marcs Blick fixierte sein Gegenüber, um die Reaktion, wie sie auch ausfallen sollte, schnell zu erfassen.

Im Bruchteil einer Sekunde und ohne jegliche Vorwarnung schlug die Lederjacke zu. Marc konnte seinen Kopf noch leicht zur Seite bewegen, doch die Faust des Angreifers traf ihn am rechten Wangenknochen. Er spürte den Schmerz, taumelte und wäre gefallen, hätte Patrick, hinter ihm stehend, ihn nicht gehalten. Blitzschnell duckte sich Marc, schnellte wie ein Puma vor, seinen Kopf in den Bauch des überraschten Angreifers rammend. Die umherstehende Menge stob lauthals auseinander, während einige Gläser klirrend zu Bruch gingen. Prustend flogen beide zu Boden, als Marc auf seinem Gegner landete. Noch ehe sich die Lederjacke vom Gewicht Marcs Körpers befreien konnte, schlug dieser ihm mitten ins Gesicht. In seiner Faust spürte er das Knacken der Nasenknochen. Blut spritzte, wodurch sein Rivale derart benommen war, dass er mit beiden Händen sein Gesicht vor weiteren Schlägen zu schützen suchte.

Heftiger Schmerz durchfuhr nun Marcs Rücken, da der zweite Randalierer zu einem Queue gegriffen, diesen, mit heftigem Schwung ausholend, krachend auf Marc niederschlug.

Abel stand zu weit abseits, um eingreifen zu können, und auch Patricks Reaktion war zu langsam gewesen. Nun aber reagierte Patrick mit einem Hieb in die Nieren des Angreifers. Sofort war Marc wieder auf seinen Beinen und ging prügelnd auf diesen los. Beide, Marc und Patrick, hatten ihn in der Mangel. Er war chancenlos.

Das Ganze hatte sich innerhalb weniger Minuten abgespielt und wäre als Schlägerei in einer Bar nicht weiter erwähnenswert gewesen – hätten nicht zwei Polizisten der USCP (United States Capitol Police) an einem der hinteren Tische im Barbereich ein verspätetes Frühstück zu sich genommen. Vom Krach des Hinterzimmers aufgeschreckt, eilten sie durch die Schwenktür, an der noch wie angewurzelt die zwei Mädchen standen. Die Polizisten sahen den am Boden Liegenden mit blutender Nase sowie Marc, der gerade seinem Gegenüber in den Magen boxte. Einer der Cops packte Marc von hinten und drehte ihm, im geübten, schon hundertmal erprobten Griff, den rechten Arm auf dessen Rücken. Der Polizist zog Marc in leichte Rückenlage. Zwar sah Marc nicht, wer hinter ihm stand, doch dessen Partner in schwarzer Polizeiuniform. Der Blondschopf leistete daher keinen weiteren Widerstand, als der Polizist am Hosenbund zu Handschellen griff und sich diese um Marcs Handgelenke am Rücken schlossen.

 

Der zweite Cop beugte sich über den Verletzten, zog ihn helfend auf die Beine, während dieser schmerzverzerrt seine gebrochene Nase hielt: »So ein Schwein, so ein besoffenes Schwein.« Blut und Speichel spritzten bei seinen Worten. Anscheinend hatte auch seine Oberlippe eine Platzwunde; er sah blutverschmiert zu Marc, während auch bei ihm die Handschellen klickten.

»Ihr beiden kommt mit aufs Revier und ihr anderen«, der Blick des Officers wanderte erst zum zweiten Lederjackenträger, danach zu Patrick, »haltet die Füße still, ist das klar?!«

Beide Raufbolde stolperten, fest im Griff der Cops, an den beiden Mädchen vorbei durch die Schwenktüre.

Auf dem Parkplatz vor der Bar wurden sie unsanft in einen weißen Polizeiwagen, Ford Crown Victoria mit blauen Streifen und orangefarbener Aufschrift POLICE, verfrachtet. Immer noch in Handschellen saßen sie hinten im Wagen, während die beiden Cops vorne Platz nahmen. Der Polizist auf der Beifahrerseite drehte sich um und Marc erkannte dessen dunklen Oberlippenbart durch das Gitter, welches den Fond des Wagens zu ihm trennte.

»Mach mir bloß keine Scheißflecken aufs Polster.« Grimmig blickte der Cop ins Gesicht des Blutenden, anschließend wandte er sich an seinen Kollegen am Steuer: »Lass uns den zuerst ins Foggy fahren.«

Foggy war das nahe gelegene George Washington University Hospital in der 23rd NW im Stadtviertel Foggy Bottom. Sie fuhren los Richtung Pennsylvania Avenue und erreichten nach knapp zehn Minuten die Klinik. Der Bärtige öffnete die hintere Tür, zog Marcs Widersacher, mit seinen Händen an Kopf und Schulter, aus dem Wagen und verschwand mit ihm durch den Haupteingang. Derweil wurde im Streifenwagen nicht gesprochen, sodass Marc dem Polizeifunk, der rauschend wie knackend irgendwelche Informationen einer weit entfernten weiblichen Stimme von sich gab, lauschte.

Nach fünfzehn Minuten kam der Polizist zurück in den Wagen und sie setzten ihre Fahrt in Richtung 119th über die Virginia Avenue fort. In der Nähe des Supreme Courts parkten sie direkt vor dem Eingang des Gebäudes der United States Capitol Police. Am Rücken gefesselt, führten sie Marc wie einen Schwerverbrecher die breiten Steinstufen hinauf ins Innere des Gebäudes. Sie durchschritten die große, hohe Eingangshalle, in der durch reges Treiben an Polizisten und Zivilpersonen ein hoher Geräuschpegel herrschte. An einer Theke, hinter der ein Kaugummi kauernder Cop mit schütterem Haar und geschätzten hundertzwanzig Kilogramm Körpergewicht schon auf sie zu warten schien, machten sie halt.

»Was haben wir?«, fragte dieser gelangweilt.

Der Schnauzbart in schwarzer Uniform erklärte kurz: »Schlägerei im Marie Inn. Den anderen haben wir ins Foggy gebracht. Der Typ hier hat ihm die Nase zu Brei geschlagen.«

»Name, Adresse?«, wollte der Dicke monoton wissen, ohne den Blick von seinem alten IBM-Monitor abzuwenden.

»Marc Haskins«, antwortete Marc und gab seine Adresse Nähe Upper Northwest an.

Erstmals sah der speckig wirkende Cop vom Bildschirm auf, blickte Marc mit seinen Fettaugen an und pfiff durch die Zähne. »Marc Haskins, der Sohn von Fredrik Haskins?«

Marc nickte bejahend.

»Na, das ist ja mal ein Fang!« Er grinste und pfiff erneut durch seine Zahnlücke.

Fredrik Haskins stand hinter seinem Schreibtisch des Homeoffice im Gespräch mit zwei in dunklen Anzügen gekleideten Herren, die es sich in schweren Ledersesseln vor seinem Tisch bequem gemacht hatten. Einer der beiden, mit grau meliertem Haar, war wie Haskins Senator der Republikanischen Partei, der andere sein persönlicher Assistent.

Durch das Läuten des Telefons wurde das Gespräch unterbrochen und Haskins hob mit kurzem entschuldigendem Wink den Hörer ab. »Fred Haskins«, sagte er in die Hörermuschel und lauschte.

Sowohl der Senator als auch sein Assistent sahen Fredrik teilnahmslos an. Dieser wandte ihnen den Rücken zu, nickte mehrmals in den Hörer.

»Okay, ich werde mich persönlich darum kümmern. Bitte geben Sie mir kurz Zeit, ich melde mich gleich wieder.« Er notierte sich eine Rufnummer, dann legte er auf. »Bitte entschuldige, Frank«, wandte sich Haskins an den Senator. »Ich muss unser Gespräch leider vertagen. Wir könnten es doch später im Club weiterführen!« Dies war weniger eine Frage als eine Aufforderung an den Senator.

»Klar, ist kein Problem, Fred. Wir sind so gegen 13 Uhr im Club.« Senator Frank Brown nickte zustimmend erst Fredrik, danach seinem Assistenten zu.

Nachdem beide gegangen waren, blickte Haskins abermals, nun rot vor Zorn, aus dem Fenster in Richtung United States Capitol, dessen Gelände und imposanten Bau er aus seiner Wohnung in der New Jersey Avenue sehen konnte.

»So ein Scheißkerl.« Fluchend überlegte er, was als Erstes zu unternehmen sei. Er hob den Hörer und wählte die Nummer von Michael Thomson, seinem Anwalt und Jugendfreund. Von Thomsons Sekretärin erfuhr Fredrik, dass dieser bei Gericht und erst wieder gegen 14 Uhr erreichbar sein würde.

Jetzt wählte er die vorhin auf dem Notizzettel notierte Nummer, wartete ein langes Läuten ab, bis sich am anderen Ende jemand meldete. »Haskins hier, Senator Haskins. Sie haben mich vorhin angerufen. Es geht um meinen Sohn Marc Haskins.«

»Ah, Senator, ja, wir hatten vorhin schon das Vergnügen.« Haskins gewann den Eindruck, dass, neben dem schmatzenden Geräusch eines Kaugummis, Sarkasmus in der männlichen Stimme lag. »Ich verbinde sie zu Deputy Chief Willson.«

Ein Knacksen in der Leitung deutete an, dass er verbunden wurde.

»Willson, hallo, Senator. Ich freue mich, dass Sie anrufen. Wie geht es Ihnen?«

Ohne auf die Höflichkeitsfloskel einzugehen, kam Haskins gleich zur Sache. »Mein Sohn ist in Ihrem Gewahrsam. Was genau ist passiert?«

»Tja, Senator, mir ist die heikle Situation bewusst, daher habe ich den Fall gleich direkt zu mir geben lassen.« Haskins vernahm aus der Stimmlage, dass Willson sich entspannt in seinem Bürostuhl zurücklehnte. »Ihrem Sohn wird schwere Körperverletzung vorgeworfen. Anscheinend hat er in einer Bar namens Marie Inn einen anderen windelweich geprügelt. Genaueres wissen wir noch nicht, aber sein Prügelknabe wurde ins Foggy, also George Washington Hospital, gebracht. Wir warten noch auf das Ergebnis der Schwere seiner Verletzungen.«

Haskins schnaufte ungehalten: »Okay. Chief Willson, ich bitte Sie, den Ball flach zu halten. Wir werden sicherlich eine Lösung finden. Kann ich Marc einstweilen abholen lassen?«

»Seeenatoor«, er zog das Wort in die Länge, »so gerne ich das auch würde, doch man wirft Ihrem Sohn schwere Körperverletzung vor. So ohne Weiteres kann ich ihn nicht gehen lassen. Ich weiß, Ihnen ist wichtig, dass kein öffentliches Spektakel hieraus entsteht, das kann ich Ihnen auch erst mal garantieren – nur gehen lassen kann ich ihn nicht. Er wird vorerst hier bleiben müssen, bis sowohl die Sachlage als auch die Schwere der Verletzungen geklärt sind.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, legte Haskins eine kurze Pause ein: »Willson, kümmern Sie sich, dass nichts an die Öffentlichkeit kommt! Ich melde mich wieder. Sollten neue Erkenntnisse vorliegen, will ich sie als Erster erfahren! Rufen Sie mich auf meinem Handy an.«

Dies war ein klarer Befehl und Willson verstand entsprechend. Ihm wäre es lieber gewesen, Senator Haskins hätte ihn mit ›Chief Willson‹ angesprochen, ebenso seine Forderung mehr als Bitte formuliert, doch er antwortete gelassen: »Geht klar, Senator, Sie haben mein Wort.« Nachdem Willson die Handynummer notiert hatte, legte Haskins auf, ohne sich zu verabschieden.

Willsons Finger spielten mit dem Stück Papier, worauf er die Mobilnummer des Senators notiert hatte. Es verwunderte ihn nicht, dass es den Senator weniger interessierte, wie es dem eigenen Sohn erging, sondern dessen Priorität auf Vermeidung jeglicher Publicity lag. Eine gute Gelegenheit für ihn, wie er fand, denn, wenn er keinen Fehler machte, stünde Senator Haskins in seiner Schuld. Diesen Umstand wollte er nutzen.

Vorerst sitzt Marc Haskins in einer Zelle, bis man ihn dem Haftrichter vorführt, der dann zu entscheiden hat. Denn Recht und Ordnung müssen gewahrt bleiben, auch wenn es das Bürschchen vom Senator ist. Willson schmunzelte. Was für ein Tag.

Der Sommerball

Charleston, South Carolina, 1728

Zwei Wallache standen, vor eine dunkelbraun glänzende Kutsche gespannt, ruhig in der Auffahrt. Veronika nahm als Erste auf dem weinroten Samt in der Kutsche Platz. Voller Ungeduld wartete sie auf ihre Eltern. Eng schmiegte sich das ausladende Ballkleid aus feinster hellblauer Spitze an ihren Körper. Ihr goldblondes Haar war hochgebunden und zu einem Dutt frisiert; lediglich eine kleine widerspenstige Strähne fiel ihr ins Gesicht.

»Wo bleibt ihr denn?«, rief sie laut, den ungeduldigen Blick auf die offen stehenden Eingangstüren des Hauses gerichtet.

Lachend traten ihre Eltern heraus und schritten, elegant wie ein Königspaar, die fünf Stufen der breiten Treppe hinab.

»Madam.« Ihr Vater Robert Turner verbeugte sich wie ein Page vor seiner Frau Isabelle und half ihr mit dem ebenfalls aus Seide und Spitze genähten Kleid in die Kutsche. Isabelle trug lange Satinhandschuhe und reichte ihrem Mann die Linke für einen Handkuss.

»Sie werden mich entschuldigen müssen, aber ich habe zwei Ladys zum Sommerball zu fahren.« Robert zwinkerte Veronika zu, worauf er ein bewunderndes »Superb«, mit Blick auf seinen edlen, silbergrauen Anzug, erntete.

Leichtfüßig schwang sich Robert auf den Kutscherbock, legte den grauen Zylinder aus Samt neben sich und fasste nach den Zügeln, um die Pferde in Trab zu bringen.

Nach einer Stunde im Trab, seitlich entlang des Ashley Rivers, erreichten sie die Auffahrt des Anwesens von Mr. Baine. Die Kutsche bog in die lange Allee aus Ahornbäumen, die wie ein Tunnel als natürlicher Sichtschutz direkt zum Herrenhaus führte, ohne dass man Felder oder Sklavenbehausungen einsehen konnte. Das dichte Blätterdach spendete angenehmen Schatten und die Pferde trabten etwa zwanzig Minuten in Gesellschaft weiterer Gäste in ihren Kutschen und Fuhrwerken.

In etwa gleichem Abstand von dreihundert Metern, zu beiden Seiten des Weges, sah Turner bewaffnete Männer, die der Sicherheit dienten. Ihm missfiel der Anblick, zumal er auf seinem Landgut auf diese Bewachung verzichten konnte. Damit zählte seine Plantage zu den wenigen Ausnahmen.

Das Ende der Promenade mündete in einen großen Garten, an dem sich der Weg in eine kreisförmige Auffahrt hin zum Herrenhaus gabelte, welches erhaben auf einem Hügel thronte. Viele elegant gekleidete Gäste flanierten bereits im Park zwischen weißen Zelten, Stehtischen und gedeckten Tafeln.

Oben angekommen, wurden sie überschwänglich empfangen: »Hallo, Robert, schön dich zu sehen … Aber zuerst zu den wunderschönen Ladys.« Mit diesen Worten öffnete Clexton Baine zur Begrüßung die kleine Türe der Kutsche und half zuerst Isabelle aus dem Wagen, indem er ihr die Hand reichte. »Meine Liebste, Sie sehen wie immer bezaubernd aus.« Baine verneigte sich und gab Isabelle einen Handkuss. »Ich bin mir ganz sicher, dass Sie«, dabei wanderte sein Blick von Isabelle zu Veronika, »der Höhepunkt des heutigen Balls sein werden.«

Als Veronika der Kutsche entstieg, ergriff Baine ihre Hand, indes er ihr tief und lange in die Augen sah. »Veronika, Veronika, du bist doch Veronika?«, fragte er gespielt unglaubwürdig. »Ich kann es gar nicht fassen. Wo hat Sie Ihr Vater so lange versteckt? Sie sind tatsächlich noch schöner geworden seit dem letzten Mal, als ich Sie gesehen habe. Wie lange ist das schon her?«

»Daran kann ich mich dummerweise gar nicht mehr erinnern«, antwortete Veronika keck. »Also, das muss schon sehr lange her sein!«

Robert, derweil vom Kutscherbock gestiegen, hatte sich seinen Zylinder wieder aufgesetzt und schlug Clexton freundschaftlich auf die Schulter. »Vielen Dank für die Einladung, Clexton. Wir haben uns schon sehr auf heute gefreut, ganz besonders meine Tochter.«

»Ich hab ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden«, sagte Clexton nun streng, ohne Veronikas Hand loszulassen. »Wie kann es sein, dass du mir deine hübsche Tochter so lange vorenthalten hast?«

Lachend legte Robert seinen Arm um Clextons Schulter. »Mein lieber Clexton, dafür werde ich schon Gründe gehabt haben.«

»Ich bestehe auf jeden Fall auf den Eröffnungstanz mit Ihnen, Veronika.«

 

»Es wird mir eine Ehre sein, Mr. Baine.« Veronika lächelte.

Mit einem Wink zum Personal verabschiedete sich Clexton vorerst, denn weitere Kutschen stauten sich bereits in der Auffahrt.

Eine hübsche Farbige mit weißer Haube im schwarz gekräuselten Haar, dunkler Dienstrobe sowie heller Schürze reichte Champagner, auf einem silbernen Tablett serviert.

Bis in den Abend hinein amüsierte sich Veronika an der Seite ihrer Eltern. Eine Musikkapelle, deren Bühne von blauen Fahnen mit weißem Halbmond eingerahmt wurde, spielte Square Dance direkt an einer aus Holzdielen erbauten Tanzfläche.

Isabelle und Robert unterhielten sich etwas abseits in einer kleinen Runde lachender Gäste, als Veronika von einer Bank aus, direkt neben der Bühne, das Entzünden der vielen Fackeln im Park betrachtete. Plötzlich legten sich zwei Hände von hinten auf ihre Augen und versperrten ihr die Sicht.

»Papa?«, fragte Veronika, doch sie erhielt keine Antwort. Insgeheim hoffte sie, dass Mr. Baine hinter ihr stand.

»Rate weiter«, bat eine sich verstellende Männerstimme.

»Scott, Jake, Elijah?«, zählte Veronika auf, obwohl sie etwas enttäuscht bereits ahnte, dass es nicht Mr. Baines, sondern Thomas’ Hände waren, die sie spürte.

»Du bist und bleibst ein Biest!« Lachend drehte er Veronika zu sich herum, setzte sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Hallo, mein Jüngling, wie geht es dir?« Veronika blinzelte Thomas übermütig an. Seine Haut hatte sich zum Glück von der lästigen Akne befreit.

»Mir geht es blendend, jetzt, da ich dich endlich gefunden habe. Warum sehen wir uns so selten – nur einmal im Jahr zum Sommerball?«

»Du bist selbst daran schuld! Würdest du mich öfter besuchen, müsste ich mich nicht mit Mutter auf Tea Partys langweilen.«

»Das lässt sich doch ändern. Wir fangen gleich damit an, denn ich werde heute Nacht nicht von deiner Seite weichen.«

In diesem Augenblick sah Veronika Mr. Baine auf sie zukommen. »Da wirst du mit unserem Gastgeber reden müssen. Er hat darauf bestanden, mit mir den Ball zu eröffnen.«

Thomas stand höflich auf und begrüßte Baine. »Mr. Baine, mein Kompliment für dieses schöne Fest. Wie ich soeben erfahren habe, wollen Sie mir meine Freundin für den Eröffnungstanz entführen.«

Die forsche Formulierung von Thomas, seine Freundin zu sein, verärgerte Veronika ein wenig.

»Keine Sorge, mein liebster Thomas, Miss Turner ist bei mir in den besten Händen. Darf ich bitten.« Er reichte Veronika seinen Arm, den sie mit einem Knicks sowie einem zu Thomas gerichteten Augenzwinkern ergriff.

»Sie haben mir gar nicht verraten, dass Sie in festen Händen sind«, kam Clexton auf dem Tanzparkett sofort zum Punkt. Doch ehe Veronika darauf antworten konnte, begannen die Musiker mit dem Eröffnungstanz.

Clexton stieß Veronika sanft von sich und sie bewegten sich entgegengesetzt nach hinten, um nach einer Drehung wieder einander zuzutanzen. Fest ergriff Clexton Veronikas Taille, als sie sich gemeinsam im Takt der Musik drehten.

»Vielleicht scheint manches nicht so wie auf den ersten Blick«, begann Veronika mit Clexton zu flirten.

»Wie scheint es denn?«, fragte Clexton ernst, während er Veronikas Hüfte etwas fester umschloss.

»Mir scheint, Sie haben mich gerade gut im Griff«, antwortete Veronika schnippisch in Anspielung auf Clextons Hand an ihrer Taille.

Lächelnd flüsterte Clexton in ihr Ohr: »Daran könnte ich mich gewöhnen.«

Veronika wurde es sichtlich warm. Clextons direkte Art war ganz und gar die eines erfahrenen, erwachsenen Mannes. Ganz anders als die Burschen sonst um sie herum. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie sich mehr für diesen Mann interessierte, als sie zugeben wollte. Verwirrt von diesem Gefühl blickte sie in die Reihen der Zuschauer, die sich rund um die Tanzfläche eingefunden hatten. Ihr Blick fiel auf Thomas, der sie sichtlich beleidigt aus der Menge heraus beobachtete.

Als die Kapelle das zweite Musikstück spielte und sich die Tanzfläche zu füllen begann, tänzelte Veronika mit Clexton an der Hand seitlich zur Bank, auf der sie vor wenigen Minuten noch mit Thomas gesessen hatte.

»Ihre Gegenwart stimmt mich sehr glücklich, liebste Veronika, doch bin ich verunsichert …« Clextons und Veronikas Wangen berührten sich leicht – und dies nicht nur der lauten Musik wegen.

»Oh, Mr. Baine, wenn es Ihnen unangenehm ist und ich Sie verunsichere …« Veronika rutschte verspielt ein wenig zur Seite. Clexton umfasste wieder ihre Taille und zog sie zu sich heran. »Mr. Baine, was sollen die Gäste denken?« protestierte Veronika.

»Welche Gäste, hier und jetzt gibt es nur Sie und mich.«

Um Veronika war es geschehen! Sie verbrachten den ganzen weiteren Abend zusammen und verabredeten sich fürs Wochenende zu einem Ausritt.

Ein Jahr später, im Sommer 1729, feierte Veronika Baine, ehemals Turner, Hochzeit im gleichen Garten, in dem sie sich auf dem Sommerball Clexton Baine verschrieben hatte.