Schlacht um Sina

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Sie atmete noch einmal tief durch, um ihre hechelnde Lunge und den stolpernden Herzmuskel unter Kontrolle zu bringen. Dann nahm sie das Nachtsicht-Holoskop in die Hand, das klobig, aber leicht war. Sie vergewisserte sich, dass das Kopfteil ihres Overalls sauber an Stirn, Wangen und Kinn abschloss und keine ihrer hellen Haarsträhnen durchließ. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, stützte sich mit Brust und Ellbogen an die bröckelnde Mauer und hob das Scherenfernrohr an die Augen. Was sie sah, als die automatische Nachführung sich adaptiert und das Bild scharfgestellt hatte, ließ sie erbleichen. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Ihr ganzer Körper schien wie nasser Lehm gegen den kalten Stein der Mauer zu lehnen. Aus eigener Kraft war sie fast unfähig, ihn zu tragen.

Das ganze Sichtfeld war ein einziger Aufruhr. Schwefelgelbe, rauchigrote und heliumblaue Farbflecken tauchten durcheinander. Es war wie ein Blick in ein überfülltes Aquarium, wenn der Fokus nicht weiß, auf welches der vielen Objekte er scharf stellen soll. Sie nahm den Zoom zurück, verbreiterte den Ausschnitt und gewann zusätzliche Schärfentiefe. Das erste, was sie erkennen konnte, war ein riesiger schwarzer Käfer. Eine abgeplattete Masse, völlig lichtundurchdringlich, ruhte auf acht untersetzt wirkenden Beinen. Die Luft unter der Bauchseite siedete, deshalb fiel es schwer, Größenvergleiche anzustellen. Indem sie den Bildausschnitt wieder zusammenzog und das Objekt heranholte, erkannte sie die winzigen Punkte, die im wabernden Dunst unter der schwarzen Masse herumliefen. Es waren Sineser. Und das Objekt war ein Schiff, es musste wenigstens fünfhundert Meter lang sein. Das Hitzeflimmern im Bild verstärkte sich. Dann schmolz der Käfer zu einem verschwommenen Fleck ein, der langsam, auf strontiumfarbenen Explosionen reitend, in die Höhe stieg. Mit etlichen Sekunden Verspätung, die etwas über die Entfernung von dem Geschehen sagte, drang ohrenbetäubender Donner heran. Das Schiff hob ab, stand geraume Zeit bewegungslos in der Luft, drehte dann bei – und kam direkt auf sie zu. Das Fauchen und Dröhnen seiner Triebwerke klirrte in den Trommelfellen. Es ließ lose Kiesel und Ziegelbrocken auf dem Boden tanzen und zerrte an ihrer Schutzkleidung, die wie in einem Orkan zappelte und knallte. Das Schiff flog in geringer Höhe auf sie zu. Sie warfen sich zu Boden und versuchten sich in der Deckung der Ziegelmauer zu verkriechen. Wenige hundert Meter hoch, blubbernd und brüllend, zog es über sie hinweg. Die gewaltigen Stelzen wurden eingezogen. An der narbigen Bauchseite arbeiteten die Triebwerke und die Korrekturdüsen. Es war ein automatisches Chaos von Ionenstrahlen, Raketenmotoren, hydraulischen Elementen und aerodynamischen Flossen, die die träge Flugbewegung mechanisch kontrollierten. Dann hob das Schiff die Schnauze. Der ganze Luftraum war nur noch flüssiges Feuer, das in sehr breiten Wellen flutete und tobte. Der Pilot gab vollen Schub auf das Haupttriebwerk. Das Schiff gewann rasch an Höhe und verschwand in der schmierigen Wolkendecke. Es war ein schwerer Sinesischer Kreuzer.

Betäubt und hustend, fast besinnungslos von Lärm, Hitze und Ozongeruch, richteten sie sich auf. Sie setzten die Beobachtung fort. Abwechselnd reichten sie sich das Scheren-HoloSkop und spähten den Raumhafen von Sina City aus. Auf der ganzen Breite des nördlichen Horizontes, und Dutzende Kilometer in der Tiefe, wie sie der Nachführautomatik entnehmen konnten, bestand die Nacht nur aus startenden Schiffen. Große Zerstörer, Sternenkreuzer wie der, der über sie hinweggezogen war, Kampfschiffe und gewaltige Trägerplattformen, die Staffeln schneller Jäger bargen, erhoben sich aus ihren Hangars und stiegen donnernd in den Orbit auf. Überall standen Säulen aus gezähmtem Feuer in der Nacht. Schwarze Stahlwesen putzten ihr tödliches Gefieder und breiteten knirschend ihre kantigen Schwingen aus. Positionslichter, Signalstrahlen, starke Scheinwerfer und die blauen Rückstoßflammen veranstalteten ein exakt choreographiertes Ballett der Vernichtung. Über eine Stunde dauerte allein der Start eines Jagdgeschwaders, der in einem der östlichen Sektoren des riesigen Raumhafens stattfand. In unablässiger Folge, von monotonem, sirenenartigen Heulen begleitet, brachen hunderte Maschinen auf. Es sah aus, als feuere ein schwerer Raketenwerfer pausenlos in den teigigen Nachthimmel, aber jedes der weißblauen Lichtpakete, das stöhnend davonschoss, war ein schnelles, wendiges, bis an die Zähne bewaffnetes Kampfschiff. Ein überlichtschneller Jäger, dessen Besatzung darauf gedrillt war, Feinde durch den Hyperraum zu Tode zu hetzen und sie in Manövern, deren Elemente in den Quantenspeichern, unüberbietbaren Tloxi-Fabrikaten, abgelegt waren, zur Strecke zu bringen. Strategische Bomber entfalteten ihre weiten Tragflächen, unter denen in dichter Reihe taktische Projektile, thermische Plasmatorpedos und schwere Antimaterie-Bomben hingen. Jill zweifelte nicht daran, dass sie auch mit Annihilationswaffen bestückt waren. Eine Staffel nach der anderen röhrte im Tiefflug über sie hinweg, zog dann hoch, schaltete auf Kernantrieb um und bohrte sich in den weichen Wolkensaum, an dessen unterem Rand mit fahlem, aschigem Glosen der Morgen zu dämmern begann. Längst hätten sie sich zurückziehen müssen. Aber sie hingen gebannt in der Deckung der Mauer, die unter dem anhaltenden Motorendonner schwankte, und zählten die Schiffe und Geschwader. Eine einzige dieser Maschinen, konnte eine Metropole in Schutt und Asche legen, einen Konvoi vernichten oder einen Planetoiden zu Staub mahlen. Jede der Staffeln, die stundenlang über sie hinwegjagten, konnte eine Welt auslöschen, eine Erde sterilisieren. Die Streitmacht, die sich da auf den Weg machte, war die Große Sinesische Flotte. Keine Macht im bekannten Universum konnte sich ihrer Feuerkraft entgegenstellen. Ein einziges Mal in der Geschichte der interstellaren Auseinandersetzungen, hatte eine Armee der Union es gewagt, mit ihr anzubinden. Dieser Konflikt war in der Schlacht von Persephone kulminiert. Aber seither waren Jahrzehnte vergangen. Sina hatte nicht nur gleichgezogen, sondern sich auch mit der Annihilationstechnologie einen Vorteil verschafft, dem die Menschheit nichts entgegenzusetzen hatte. Doch allein durch ihre schiere Quantität konnte diese Armada jeden Widerstand erdrücken. Es war die größte interstellare Streitmacht, die die Galaxis je gesehen hatte; keine bekannte Macht im Universum war ihr gewachsen.

Obwohl sie die Sonne nicht aufgehen sahen, die hinter wächsernen Wolkenschichten verborgen blieb, erlebten sie den Tagesanbruch im Freien. Das kalte farblose Licht von Sina lag auf der Landschaft aus Trümmern und Ruinen, während am Raumhafen der Aufbruch der gewaltigen Flotte andauerte. Schließlich zogen sie sich in das Bunkersystem zurück, um dort den Tag zu verbringen und sich auszuruhen. In einem unterirdischen Stollen, halb in einer Pfütze aus Plasmarückständen und Schmieröl sitzend, an die nasse Wand gelehnt, lauschten sie dem fernen Grollen, dessen Ausdauer die Stunden zermalmte wie die Faust eines Riesen einen zerbröselnden Stein. Von Tloxi umgeben, die die Ausgänge sicherten und ansonsten in einer Art von unansprechbarem Stand By verharrten, hockten sie da. Jill hatte sich an Taylors rechte Seite geschmiegt. Mit mechanischen Bewegungen stopften sie nach nichts schmeckendes Granulat in den Mund und starrten über ihre Fußspitzen hinweg auf den feuchten Boden, auf dem braunschwarze Algen siedelten.

»Ist das jetzt ein gutes Zeichen für uns?«, fragte Lambert irgendwann.

Nichts hätte die verzweifelte Absurdität ihrer Lage besser zum Ausdruck bringen können. Taylor antwortete nicht. Obwohl sie mehr als vierzehn Stunden unterwegs gewesen waren, vom Abend bis in den fahlen sinesischen Vormittag hinein, fanden sie keinen Schlaf. Wie ausrangierte Puppen, die man achtlos fortgeworfen hatte und die mit verdrehten Gliedern in der Ecke lagen, lehnten sie aneinander, kauten, schwiegen und sahen vor sich hin. In regelmäßigen Abständen zog Jill die Nase hoch.

Die Nacht reichte von drei bis etwas über acht Uhr. Dort herrschte Finsternis; eine Art von Finsternis, an die zu gewöhnen ihm bisher nicht gelungen war. Auf dem Kugelkompass erstreckte sie sich von vierzig bis hundertdreißig Grad. Ein riesiger Vorhang aus Dunkelheit und Nichts. Er achtete darauf, ihn im Rücken zu haben, wobei auch das die beklemmende Wirkung nicht linderte. Manchmal stahlen sich Bänke und feine Filamente vor und ragten seitlich ins Blickfeld, selbst wenn er dieses penibel auf zwölf Uhr ausgerichtet hatte. Was war unangenehmer: dem Grauen ins Gesicht zu sehen – oder eine Entität, über deren Qualität man bislang nichts Verlässliches herausgefunden hatte, in seinem Rücken zu wissen?

Commodore Wiszewsky zog es vor, ihr den Rücken zuzuwenden. Das war eine Geste der Nichtachtung, die man naiv nennen konnte. Was ich nicht sehe, existiert auch nicht. Aber er verfügte über einen ausreichenden Vorrat sonstiger Sorgen, sodass wenigstens die undurchdringbare Materie seiner Aufmerksamkeit entzogen bleiben durfte.

Die MARQUIS DE LAPLACE dümpelte in den Ausläufern der Dunkelwolke. Das lichtjahrweite Vorkommen der unbekannten und auf hartnäckige Weise unerklärlichen Substanz hatte keine scharf umrissenen Grenzen. Es begann und endete nicht abrupt, sondern verlief über Milliarden Kilometer. Hier bildete es ein Halo, das peu a peu alles Licht verschluckte, Energie absorbierte, ohne sie in anderer Form wieder abzugeben, wodurch sie dem Hauptsatz der Thermodynamik widersprach, und sogar Warpsignaturen verschlang. Die Dunkle Materie, die keine Masse aufwies, aber ein schwaches Äquivalent von Gravitation erzeugte, bildete sich in riesigen Kissen, Flocken, Streifen und Wolken entlang der Bruchstellen der Raumzeitgeometrie. Hier im Kleinen Korridor, wo die Lokale Gruppe in einem jahrmillionenlangen Prozess auseinanderdriftete wie ein Kontinent entlang eines großen Grabenbruchs, warf der überdehnte Raum unermessliche Mengen der rätselhaften Substanz aus. Ihr Volumen musste nach Millionen Kubiklichtjahren gemessen werden. Ihre Gravitationswirkung, die die Experten von der Planetarischen Abteilung mittlerweile exakt vermessen hatten, entsprach der Masse einiger Dutzend Milchstraßen. Die scheinbare Masse der Lokalen Gruppe, soweit sie aus diesem Gravitationseffekt resultierte, hatte sich durch die Entdeckung allein dieser Dunkelwolke mehr als verdoppelt. Dadurch hatte die galaktische Drift einer radikalen Neuberechnung zugeführt werden müssen. Und Tiefenscannings, die man mit dem Deepfield durchgeführt hatte, hatten ergeben, dass außerhalb der Lokalen Gruppe, im großen Korridor und in anderen Richtungen, weitere Wolken schwebten, deren Gravitationsäquivalent sich auf viele tausend Milchstraßen summierte.

 

Wiszewsky war diese Substanz unsympathisch. Materie musste eine Masse haben, oder sie hatte überhaupt nicht zu sein. Der seltsame Zwischen- und Zwitterzustand der Dunklen Materie verstimmte ihn. Er forderte seinem Schulwissen eine Revision ab, zu der er sich nicht mehr bereitfand, auch wenn es nach irdischer Zeit schon über einhundert Jahre alt war. Stattdessen zog er es vor, der Dunkelwolke den Rücken zuzukehren. Er hatte die MARQUIS DE LAPLACE eben so weit in das wabernde Nichts einfliegen lassen, dass sie für einen außenstehenden Beobachter verborgen sein musste und dass auch die Emissionen, die der Betrieb des Schiffes unweigerlich mit sich brachte, von der Wolke absorbiert wurden. Der südliche Horizont, bezogen auf die Schiffsachse, war ganz von dem treibenden Schwarz bestimmt. Nur nach vorne, der Blickrichtung der Schnauze folgend, hatte man freie Sicht, die geringfügig verschleiert, aber immer noch eindrucksvoll genug war.

Abends, wenn die administrativen Routinen ihn in die immer deprimierendere Freizeit entließen, pflegte der Commodore sich in den Ausguck zurückzuziehen, eine 360°-Panorama-Kugel, die sich zwei Decks über seiner privaten Suite befand. Der gravimetrische Sessel war arretiert und auf die Längsachse der MARQUIS DE LAPLACE ausgerichtet. Hier sitzend, konnte Wiszewsky sich entspannen. Zur Linken sah er, von grauen Schleiern etwas getrübt, die Milchstraße und die anderen Hauptgalaxien der Lokalen Gruppe. Zur Rechten wellten sich die orangeroten und schwefelfarbenen protostellaren Nebel der Eschata-Region in der Protogalaxie M42. Und geradeaus, über den Antennenwald des Schiffsbugs hinweg und dem leicht einwärts gekrümmten Verlauf des Kleinen Korridors folgend, konnte er sogar das überwältigende Galaxienfeld der Großen Mauer ausmachen. Fern, schwach leuchtend, ein Vorhang aus grobkörnigem, purpurfarbenem Licht. Entfernt vergleichbar dem Anblick der Milchstraße am Erdenhimmel, wenn auch tausendmal größer und zehntausendmal so weit entfernt. Denn jeder der rötlich im Wasserstoffspektrum irisierenden Lichtpunkte war eine eigene Milchstraße.

Er kam hierher, um nachzudenken. Aber auch, um nicht nachdenken zu müssen. Es war eher ein ergebnisloses Grübeln und Sinnen, ein Brüten und Dahindämmern, dessen Gegenstand kaum zu formulieren und auszusprechen gewesen wäre. Der erschöpfte und illusionslose Zustand, dem er sich hier oben oft für ganze Nächte überließ, glich eher dem ziellosen und mahlenden Kreislauf der Schlaflosigkeit, der manischen Selbsttätigkeit der immergleichen Ängste, Befürchtungen und traumatischen Überlegungen, als einem bewussten und rationalen Nachdenken. Und dennoch suchte er den meditativen, manchmal allerdings auch albtraumhaften Zustand immer wieder auf. Denn wirklich zu bedenken, bei hellem Tageslicht besehen, gab es im Grunde wenig. Anfangs hatte er noch die Tage gezählt, seit die Crew der ENTHYMESIS unter Umständen verschollen war, die noch immer ungeklärt waren und denen etwas Mysteriöses anhaftete. Dann waren es Wochen gewesen, schließlich Monate. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen war, seit der Explorer selbststeuernd ins Große Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE eingeflogen war, von einer Sonde heimbeordert, von der Automatik geführt, mit menschenleerer Brücke. Seither fehlte von Norton und den anderen jede Spur. Das Geisterschiff, dessen Auftauchen in dieser Öde ein Affront gegen jede vernünftige Erwartbarkeit war, hatte sie in den Warpraum verschleppt. Über das Warum und Wohin hatten sich seit Monaten alle Spekulationen totgelaufen.

Wiszewsky seufzte. Das Alleinsein war der einzige Zustand, in dem er die metaphysische Einsamkeit, in der er hier draußen lebte, ertragen konnte. Manchmal ließ er die Kugel mit klassischer Musik beschallen. Aber auch das schien ihm zunehmend unangemessen. Selbst die erhabensten Klänge eines Bach, eines Mozart, eines Anton Bruckner kamen ihm unpassend vor angesichts der Weite und Öde, in die er immer manischer hinausstarrte. Er kam sich dabei vor wie ein Teenager, der eine Filmdiva, eine Königin, eine Göttin mit peinlicher Pennälerlyrik bedrängte. Dann zog er die Stille und das Schweigen vor.

Entgegen seiner früheren Gewohnheit, die ihm Svetlanas Nähe hatte unentbehrlich erscheinen lassen, fand er sich auch damit ab, auf ihre Anwesenheit und ihre körperliche Berührung zu verzichten, die er über Jahre hinweg kaum preisgegeben hatte. Ihre Unbekümmertheit, die ihn während des Betriebs aufgeheitert und erfrischt hatte, wurde ihm ungenießbar. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er ihr Geplapper und ihr pausenloses Herumgefummel an seinen Händen, seinen Ohren, seinem Haar enervierend fand. Und so zog er sich in den Ausguck zurück, eine winzige, an alte Planetarien erinnernde Kuppel aus polarisiertem Elastilglas, die kaum fünf Meter im Durchmesser hatte und wo er mit der unbegreiflichen Gleichgültigkeit der Schöpfung allein sein konnte.

Eine Zeitlang hatte er sich mit Laertes, dem selbsternannten Chefideologen der MARQUIS DE LAPLACE, zu unregelmäßigen Zusammenkünften in den kleinen Bars und SkyLounges getroffen, deren es unzählige an Bord des riesigen Schiffes gab. Aber der alte Philosoph hatte sich sowohl als Ratgeber, wie auch als Tröster ungeeignet erwiesen. Er dachte in Maßstäben, in denen der individuelle Tod nicht der Rede wert und das Verschwinden der Menschheit eine Belanglosigkeit war. Die aktuellen politischen oder physikalischen Ereignisse trotzten ihm kaum ein Schulterzucken ab. Und so hatte der Commodore auch diese Gespräche, wo nicht eingestellt, doch ihren Rhythmus immer langwelliger zu gestalten gewusst. Das Alltagsleben auf der MARQUIS DE LAPLACE ging seinen Gang. Die weiteren Geschehnisse lagen im Dunkeln. Die machtpolitische und militärische Lage war ebenso verworren und undurchdringlich wie die ekelerregende und nichtvorhandene Wolke, die er gesehen hätte, wenn er seinen gravimetrischen Sessel um 180° herumgeschwenkt hätte – wozu er sich aber nicht verstand.

Und doch war heute etwas anders. Zum erstenmal seit Monaten und Jahren döste er nicht schlechtgelaunt und schlaflos in die Unendlichkeit hinaus. Er wartete. Er musterte den Horizont, dieses im freien Kosmos so allgegenwärtige und erdrückende Etwas, nicht mehr wie ein alter Poet, der träumerisch aufs Meer hinausblickt, sondern wie ein Mann, der fest mit einem ganz bestimmten Ereignis rechnet und es mit fiebernden Pulsen herbeisehnt. Er hatte sich zu einer Handlung entschlossen, die ihm schon lange als Ultima ratio bewusst gewesen war, die in die Tat umzusetzen er jedoch immer wieder aufgeschoben hatte. Er war sich über das Risiko und die Unwiederholbarkeit des Schrittes im klaren. Aber es kommt bei jeder Phase der Passivität der Punkt, an dem man die Aktion dem Nichtstun vorzuziehen beginnt und sich zu Entscheidungen hinreißen lässt, die rational nicht mehr zu erklären sind. Sie speisen sich aus der Leere, die man mit ihnen füllt. Sie schlagen eine Bresche in die Zeit, die ein horizontloser Ozean zu werden drohte und die nun wieder ein gerichteter Strom ist. Lieber noch ein schäumendes Katarakt als das ortlose Überall und Nirgendwo. Wiszewsky wusste, dass ein Außenstehender seine Tat als Kurzschlusshandlung würde bewerten müssen. Er wusste auch, dass er sich der größten Herausforderung gegenübergesehen hatte, die das Raumfahrtzeitalter an den menschlichen Geist stellte, und dass er vor ihr versagt hatte. Nicht neuartige Antriebe, dachte es in ihm, während er die Unendlichkeit kontemplierte, nicht stärkere Reaktoren, raffiniertere Mathematiken oder größere Schiffe waren die eigentliche Herausforderung, die das intergalaktische Saeculum an den Menschen richtete, sondern mit der Leere fertig zu werden, mit der Weite, mit der blanken Unermesslichkeit, die den Geist angriff und das Sein infrage stellte. Jahrelang dazusitzen und zu warten und das Nichts vor Augen zu haben – das war eine Prüfung, der Wiszewsky sich am Ende nicht mehr gewachsen fühlte.

Und die Ereignisse schienen ihm recht zu geben. Plötzlich ging etwas vor. Er spürte, dass sich etwas ergab. Dazu war es nicht nötig, dass Alarm gegeben wurde oder dass sein privater Kommunikator, dessen Code nur eine Handvoll Menschen an Bord des Schiffes kannten, aktiviert wurde. Er war mit dem ganzen Leib der MARQUIS DE LAPLACE – trotzdem große Segmente herausgelöst worden waren, immer noch mehr als zehn Kilometer Titanstahl – so verwachsen, dass er mit dem sechsten Sinn registrierte, wie etwas passierte. Es bedurfte keiner Sirenen und keiner aufgeregten Adjutanten. Er hatte es selber in die Wege geleitet, und er hatte es herbeigewartet. Außer Svetlana und den Mitarbeitern seines engsten Beraterstabes wusste niemand, was unternommen worden war. Umso größer würde die Überraschung nun für die vieltausendköpfige Besatzung werden.

Und während er noch spürte, wie das Schiff unter ihm erwachte, wie Instrumente ansprachen, Blinklichter rotierten, Mannschaften auf Posten kommandiert wurden und tausenderlei automatische Routinen anliefen, sah er es schon. Der Anblick trieb ihm das Wasser in die Augen. Sie kamen von der Backbordseite, um eine Ausbuchtung der Dunkelwolke herum, die eine frühere Entdeckung verhindert hatte. Die Bewegung war erst schemenhaft, dann wuchs sie rasch zu einer kompakten Machtdemonstration heran. Aus einer flächigen Ansammlung weißer und blauer Lichtflecken stachen einzelne hervor. Ihr Strahlen schwoll an, gleichzeitig bekam es einen schwarzen Corpus. Die Flotte war sehr weitläufig auseinandergezogen. Nur die größten und nächsten Schiffe waren als solche zu erkennen. Sie schwebten in einem Hof von Positionslichtern wie Klumpen von Neutronen in der flimmernden Elektronenwolke. Ein schweres Schlachtschiff führte den Verband. Obwohl er noch nicht offiziell alarmiert worden war, wusste Wiszewsky, dass es auf allen Frequenzen den Friedenscode der Union funkte. Es musste ein neugebautes Schiff sein. Als die MARQUIS DE LAPLACE vor etlichen Jahren den erdnahen Raum verlassen und die leidgeprüfte Menschheit sich selbst überlassen hatte, hatte die Union über kein Schiff mehr verfügt, das größer als ein ziviler Frachter war. Aber das hier war eindeutig ein Zerstörer. Er wurde eskortiert von einer gewaltigen Armada sekundärer Unterstützungsschiffe, deren Funktionen im einzelnen nicht auszumachen war. Eines davon setzte gerade eine Drohne aus. Wiszewsky konnte den gleißenden blauen Lichtpunkt erkennen, der sich von der klobigen schwarzen Schiffsmasse löste. Er rechnete damit, dass eine Delegation in einem kleinen Shuttle herüberkommen würde, als der Lichtpunkt so hell aufglühte, dass die Kuppelautomatik selbsttätig die Polarisierung der Elastalscheiben verstärkte. Die blendende, weißblaue Kugel schoss mit irrwitziger Geschwindigkeit nach rechts davon – und verschwand in einem letzten Lichtblitz. Offenbar hatte sie einen Warpkorridor geöffnet. Während der Commodore sich noch fragte, was das zu bedeuten habe, britzelte und prickelte es quer durch die noch unkörperliche Wolke, in der er nur das Geschwader kleinerer Hilfsschiffe vermuten konnte. Das ganze Feld loderte auf, als sei es von einem Ionensturm getroffen. Und Dutzende der einzelnen Lichtpunkte folgten dem Beispiel des ersten, der sich in den Hyperraum katapultiert hatte. Wiszewsky kratzte sich am Kopf. Dann aktivierte er den Kommunikator, dessen Meldung er schon seit geraumer Zeit unterdrückt hatte, und begab sich hinunter in seine Suite, um die Galauniform anzulegen.

Ein untersetzter Mann im Feldgrau der Neuen Union kam mit kurzen, aber energischen Schritten auf die Brücke gestiefelt. Einige Offiziere und Adjutanten begleiteten ihn. Er hatte einen kreisrunden Schädel, graues Stoppelhaar und einen weißen, ebenso kurz gehaltenen Bart. Seine Augen leuchteten im Blau des Nordatlantiks, sein Gesicht war von Wind und Wetter zu braunem Leder gegerbt. Er sah eher aus wie ein alter Seemann als wie ein General – als den ihn die Epauletten auswiesen –, der einen intergalaktischen Kreuzer befehligte. Wiszewsky wusste, dass die Union ihre Kommandanten noch immer gerne aus Fregatten- und Corvettenkapitänen rekrutierte. Dieser Mann konnte jedenfalls nicht verbergen, dass er in seiner Jugend noch leibhaftig zur See gefahren war; auch wenn dies mehrere Jahrzehnte zurücklag.

 

Er nahm Wiszewsky gegenüber Haltung an, salutierte und machte Meldung in einer Art, die nachlässig war, aber nachlässig, wie nur ein von der Zeit verschliffener eiserner Drill sein konnte. Diese Form von Laxheit war durch Welten vom Schlendrian jüngerer Offiziere geschieden.

»General Andresen«, bellte er. »Kommandant des Schweren Kreuzers EREBUS, Führer der Teilstreitkräfte, die ...«

Wiszewsky winkte ab. »Ersparen Sie uns das«, sagte er. »Ich bin Commodore Wiszewsky, Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE. Seien Sie herzlich willkommen!«

Er drehte sich zu Svetlana um, die in diesem Moment auf die Brücke gelaufen kam. Der Alarm, der das Schiff durchtoste und die Ankunft der Flotte ankündigte, hatte sie geweckt, als sie über einem ihrer geliebten HoloFilme eingeschlafen war. Im gleichen Augenblick war schon Wiszewsky die feldgestützte Wendeltreppe von seinem einsamen Auslug heruntergekommen und hatte sie angeschnauzt, sich zurecht zu machen. Eine Minute nach ihm war sie fertig und folgte ihm auf die Brücke, wo die fremde Delegation, wohl eine Abordnung der Erdregierung, begrüßt wurde. Sie trug die Uniform der Fliegenden Crew und hatte ein weißes Barett auf ihre Mähne gezwickt, deren lodernde Strähnen in der Eile nur mit ein paar GraviSticks zusammenzuhalten gewesen waren. Jetzt spielte sie sich an Wiszewskys Seite, aber er ließ es nicht zu, dass sie sich bei ihm unterhängte, sondern hielt sie mehrere Schritte auf Abstand. Sie blinzelte den Männern, die eben aus Richtung der Schleusenkammer gekommen sein mussten, mit langen schwarzen Wimpern zu und vergewisserte sich, dass ihr Kragen und der samtene Kopfschmuck richtig saßen.

»Es freut mich, dass Sie so rasch erschienen sind.« Wiszewsky musste den Impuls unterdrücken, den General in die Arme zu schließen. Er wollte nicht sentimental erscheinen. Aber dann gab er sich doch einen Ruck, überwand die fünf Schritte, die ihn von Andresen trennten, und reichte dem Schlachtschiffkommandanten die Hand. Der Skandinavier erwiderte seinen Händedruck mit knochenbrecherischer Kraft. »Vor allem freut mich das unerwartet zahlreiche Erscheinen.« Er sah zur großen Panoramafront hinaus, wo hunderte von Positionslichtern und Korrekturdüsen leuchteten und blitzten. »Mit einer solchen Armada hätten wir nicht zu rechnen gewagt.« Er ließ den Blick versonnen auf dem überwältigenden Anblick ruhen, der ihm noch immer unwirklich und traumhaft vorkam.

General Andresen zog seine Hand zurück, eine rote Faust mit gelben Stoppeln auf dem Handrücken. Commodore Wiszewsky setzte dazu an, Svetlana Komarowa und den Mitarbeiterstab vorzustellen, der sich nach und nach auf der Brücke einfand.

»In Anbetracht des Ernstes der Situation«, schnitt Andresen ihm das Wort ab, »schlage ich vor, dass wir gleich zur Sache kommen.«

Wiszewsky verzog das Gesicht. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihm übers Wort fuhr, schon gar nicht so ein ungehobelter Haudegen, den man vermutlich aus dem Ruhestand geholt hatte, den er sich vor Island mit Angeln vertrieben hatte. Aber die Ankunft dieser gewaltigen Flotte erfüllte ihn mit solcher Hochstimmung, dass er großzügig darüber hinwegsah.

»Nicht ernster als während der vergangenen drei Jahre«, sagte er wegwerfend. »Im Gegenteil: jetzt, da Ihre Streitmacht hier ist, wüsste ich nicht, was an der Situation noch ernst sein sollte.«

An Stirn und Schläfen von Andresens Rundschädel traten blaue Adern hervor. Ihm war anzusehen, dass er dem Commodore nicht ganz folgen konnte; zumindest vermochte er seine gleichmütige Haltung nicht zu teilen. Er dachte einen Augenblick nach.

»Wie dem auch sei«, räusperte er sich. »Ich darf Ihnen die allerherzlichsten persönlichen Grüße von Commander-General Frank Norton und Major Jennifer Ash überbringen. Sie sind, um keine Zeit zu verlieren ...«

Wiszewsky hob langsam die Hand. Der letzte Halbsatz Andresens, den er deutlich hervorgehoben hatte, hallte noch im Raum wider. Der Commodore fasste sich an den Kopf.

»Was sagen Sie da?«, fragte er mit einem stimmlosen Flüstern.

Andresen starrte ihn an, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Auch seine Begleiter murmelten ungeduldig und scharrten mit den Füßen.

»General Norton und Major Ash lassen Sie herzlich grüßen«, wiederholte Andresen mit Betonung, als spreche er mit einem Schwerhörigen. »Sie waren Gäste auf der ENTHYMESIS, haben sich jetzt aber weiter verfügt, um in der gebotenen Eile das Notwendige zu veranlassen.«

Wiszewsky glotzte ihn an, als habe er ihn vor allen Leuten ins Gesicht geschlagen. Svetlanas Mund klappte auf, um sich so rasch nicht wieder zu schließen. Auf die Mienen der Stabsoffiziere malte sich offene Bestürzung. Andresen war inzwischen überzeugt, dass die lange Exposition unter die intergalaktische Strahlung die komplette Besatzung dieses Schiffes habe verblöden lassen.

Der Commodore sah an seiner Schulter vorbei zur großen Panoramafront hinaus und musterte mit verkniffenen Augenlidern das weit auseinandergezogene Lichterfeld der Flotte. Tatsächlich: eines der größeren Schiffe, in mehreren Kilometern Distanz längsseits zur MARQUIS DE LAPLACE und in gemessenem Abstand hinter dem Heck der EREBUS, war die ENTHYMESIS. Die ENTHYMESIS, wie Wiszewsky sich schwindelnd sagen musste, während der Boden sich unter ihm drehte. Die ENTHYMESIS I, die einer ganzen Flotte von leistungsfähigen und robusten Explorern den Namen gegeben hatte.

»Ich begreife überhaupt nichts mehr«, stammelte er und sah Andresen mit solcher offenen Ratlosigkeit an, dass es dem General einen Stich gab.

Im Kopf des Commodore ging alles durcheinander. So sehr er sich auch bemühte, Ordnung in seine Gedanken und Empfindungen zu bringen, konnte er doch nicht verhindern, dass sich die Informationen in seinem Schädel immer wieder überschlugen, umkreisten, vertauschten und verknäuelten. Das dort draußen war die originale ENTHYMESIS, Nortons Flaggschiff, das unter chaotischen Umständen im Zusammenhang mit dem Jupiter-Ereignis auf der Erde zurückgeblieben war. Einige Kilometer entfernt, im Hangar des Großen Drohnendecks, befand sich die ENTHYMESIS II, die der Crew während der Jahre der Diaspora als Ersatz hatte dienen müssen, jenes Schiff, das vor nunmehr etlichen Monaten unbemannt und führerlos von der Mission zum Geisterschiff zurückgekehrt war. Wie sollten Frank und Jennifer von einem zum anderen, vom Nachbau zum Original gelangt sein? Worte wie Teleportation und Quantenbeamen blitzten durch Wiszewskys Hirn. Er rang sich ein Lächeln ab.

»Halten Sie von mir, was Sie wollen«, sagte er gequält, »aber ich verstehe kein Wort.«

Andresen überwand ein Moment der Irritation. Er hatte nicht damit gerechnet, den Kommandanten dieses Schiffes, dessen Name ihm den allerhöchsten Respekt einflößte, und Oberbefehlshaber der Kolonialtruppen auf einem so geringen Kenntnisstand anzutreffen, wie es offenbar der Fall war. Er wusste seinerseits nur wenig über Nortons Erlebnisse.

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