Schlacht um Sina

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»Ist das herrlich«, jubelte Jennifer. »Endlich ein Schiff, mit dem man online kommunizieren kann, ohne sinesische Hieroglyphen. Und ordentlich aufgemotzt haben sie die Alte!«

Obwohl wir auf der Passage eigentlich nur Gäste waren und die ENTHYMESIS offiziell dem Kommando eines altgedienten Captains unterstellt war, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, selbst den Hauptbedienplatz einzunehmen und den Piloten dazu zu verdonnern, die zweite Konsole einzunehmen.

»Alle Systeme arbeiten einwandfrei«, meldete sie. »Aber wir haben jetzt wesentlich mehr Saft unter der Haube. Von den militärischen Spielereien ganz zu schweigen.«

Ich ging auf der Brücke hin und her und registrierte die sanften Erschütterungen, mit denen der Reaktor des Explorers anlief. Noch konnte ich es nicht glauben. Alles war unwirklich. Die wohlvertraute Umgebung kam mir fremdartig und phantastisch vor.

Nachts hatten erschreckende Albträume mich gequält. Sinesische Geschwader waren ins Sonnensystem eingebrochen. Überall, von der Merkurbahn bis zum Uranus-Orbit, öffneten sich Warpkorridore aus denen unzählige schnelle Jäger hervorquollen wie Wespen aus ihrem Nest. Schwere Schlachtschiffe tauchten in die Erdumlaufbahn ein und nahmen die Batterien in den Ringen unter Feuer. Ikosaeder-Kampfstationen wälzten sich über ganze irdische Flottenverbände und vernichteten alles, was in ihre Reichweite kam. Warpraumsonden materialisierten sich vor sämtlichen Planeten und attackierten sie mit Annihilationswaffen. Eine Welt nach der anderen wurde aus ihrer Bahn geworfen und stürzte in die Sonne. Am Ende war auch die Erde nicht mehr als eine zerstäubte Partikelwolke, die flirrend im Raum hing und von den Protuberanzen unseres Zentralgestirns aufgeleckt wurde.

Ich erwachte um sechs Uhr morgens, maltraitiert und zerschlagen, wie ich es von keiner schlaflosen Nacht hätte sein können. Draußen graute gerade ein kalter Morgen. Vielleicht der letzte, den ich über einen irdischen Horizont würde steigen sehen. Das Bett neben mir war leer. Ich fand Jennifer auf dem Balkon, wo sie nackt in der Frostluft saß und meditierte.

Kaufmann erwartete uns im Elevatorschacht. Er geleitete uns noch bis zur ENTHYMESIS, die aufgetankt und vollständig munitioniert im Zentrum des großen Kuppelkreuzes stand. Wir verfolgten gemeinsam, wie das sinesische Shuttle verladen wurde. Auf einer komplizierten Abfolge von Generatorschächten, Kraftfeldern, Hebebühnen und Schwenkkränen hatte man es bis vor die weit geöffnete Steuerbordrampe der ENTHYMESIS bugsiert. Jetzt schwebte das erstaunliche Gefährt, das uns einmal rings um den Äquator des gesamten Kosmos getragen hatte, wenige Meter vor der Luke des Drohnendecks unseres Explorers. Die Laderäume der ENTHYMESIS waren mit warpfähigen Lambda-Ionensonden, Antimaterietorpedos, Brennzellen und Zusatztanks vollgestopft. Nicht zuletzt hatten wir vier leichte Jäger und mehrere hundert Mann an Bord genommen. Aber ein Winkel war noch ausgespart geblieben. In ihn dirigierten die Techniker, unterstützt von feldgetriebenen Robotern jetzt das Shuttle, das sonderbar plump, wie ein gemästeter Käfer, in den unsichtbaren Seilen der Gravitationsgeneratoren hing. Es war in der Zwischenzeit repariert, gewartet, auf Uniertes Englisch umprogrammiert und betankt worden. Die unverwüstliche Technik stand für neue Herausforderungen bereit. Für die Passage allerdings musste es mit einem Touristenplatz in der vollgepfropften Drohnenkammer der ENTHYMESIS vorlieb nehmen.

Als die Ladeklappen sich surrend schlossen und mit hydraulischem Schmatzen verriegelten, drückten wir Kauffmann die Hand und verabschiedeten uns von ihm. Ich hatte diesen korrekten, karrierebewussten Beamten, der so auf seine gewienerten Schuhe, den Sitz seiner Krawatten und die manikürten Fingernägel bedacht war, liebgewonnen. Beinahe hätte ich ihm vorgeschlagen, uns zu begleiten. Was er wohl gesagt hätte, wenn wir jenseits der Milchstraße aus dem Warpkorridor herauskamen? Aber er passte weder auf ein militärisches Schiff, als das wir die ENTHYMESIS jetzt wohl oder übel ansehen mussten, noch unter die raubeinigen Kolonisatoren der Eschata-Region. Sein Platz und seine Aufgabe war hier, in der Zivilverwaltung, wo er seine Fäden ziehen und seine Intrigen spinnen konnte. Es kamen größere Herausforderungen auf ihn zu, als er selbst zu diesem Zeitpunkt ahnte. Er war der Meinung, im Augenblick unseres Starts sei er uns los und aller von uns verursachten Probleme ledig; und wir sahen nicht ein, weshalb wir ihn nicht in diesem Glauben lassen sollten. Mit einem letzten Nicken wandte er sich ab und ging mit seinen weichen Schultern und seinem irgendwie femininen Gang zum Elevatorschacht zurück. Wir stapften die Backbordrampe hinauf und gingen an Bord.

Als alle Systeme hochgefahren waren und grünes Licht zeigten und als Jennifer mir über die Schulter hinweg das Good-to-go-Zeichen machte, fragte ich die Staffelführer ab. Die ganze Flotte war in Geschwader untergliedert und diese wiederum in Staffeln. Jede Staffel bestand aus zwölf bis fünfzehn Maschinen und unterstand einem Staffelführer. In rascher Folge gingen deren Okays bei mir ein. Ausnahmslos alle Maschinen waren bemannt, munitioniert, betankt und startklar. Es bereitete mir ein archaisches Vergnügen, die Außenmikrophone auf Automatik zu schalten und über einen offenen Kanal dem gewaltigen Dröhnen zu lauschen, das die kilometerlange, kreuzförmige Halle erbeben ließ. Hunderte starker Feldgeneratoren liefen heulend an. Reaktoren wurden angefahren, Ionentriebwerke waren zur Zündung bereit. Warpspulen warteten darauf, dass die Plasmakammern ihnen die nötige Energie zuführten, um lichtjahrweite Korridore auszureißen und, auf über tausend Hertz oszillierend, die Galaxis zu durcheilen. Die letzten Serviceroboter flitzten zwischen den warmlaufenden Maschinen hin und her. Hier wurde noch ein Tankschlauch entfernt, dort ein Druckausgleich hergestellt. Dann zogen die Mechanikerteams sich zurück. Die Luft in der Halle brodelte und kochte. Die Schmiede der Titanen war zum Leben erwacht, wo Hephaist und seine Gesellen die Waffen für einen neuen troianischen Krieg in ihren unterirdischen Essen härteten.

Als ich mich von der Einsatzbereitschaft der Flotte überzeugt hatte, ließ ich mich mit dem Tower verbinden, der wie ein Schwalbennest über uns unter der Decke der gewaltigen Felskonstruktion hing. Ich verspürte ein letztes Zögern. Noch war nichts geschehen. Aber schon in wenigen Minuten war alles unumkehrbar. Jennifer sah sich fragend nach mir um. Ihre Finger flatterten nervös über dem Hauptbedienpult, wie Kolibris, die darauf warteten, ihre Saugrüssel in die goldenen Nektarkelche einer prächtigen südamerikanischen Heliconia zu tauchen. Sie selbst schien ein einziger menschlicher Feldgenerator zu sein, der Funken sprühte, blaue Lichtbögen auswarf und reines Plasma aus allen Fugen schwitzte. Draußen donnerten tausend startbereite Maschinen. Die Herzen von mehreren tausend auf mich persönlich vereidigten Männern und Frauen schlugen höher im herrlichen Tumult dieses unerwarteten Morgens.

»Hangartor öffnen!«, befahl ich.

Ein vielstimmiger Jubel brach sich in der riesigen Halle. Die Piloten ließen ihre Turbinen aufheulen. Die Staffelführer riefen einzeln ihre Mannschaften und tauschten ritualisierte und verschlüsselte Anfeuerungen aus. Das Licht der großen Strahler, die die Halle bisher in ein hartes Weiß getaucht hatten, erlosch. Der grüne Widerschein der Bedienfelder und Armaturen war für einen Moment das einzig Sichtbare. Noch zweihundert Meter entfernt wurde ein schmaler Spalt erkennbar, der rasch zu einem breiten Rechteck in die Höhe wuchs. Die Jäger und Kampfbomber der ersten Reihe hoben ab und flogen in den sonnigen Morgen hinaus. Ihnen folgte nun Welle auf Welle. Noch während das riesige Hangartor nach oben wegglitt und den Blick auf die vorfrühlingshafte Gebirgslandschaft freigab, katapultierten die Maschinen sich in Dreier- und Fünferreihen über das Hochtal hinweg, drehten scharf bei und verschwanden am krokusfarbenen Himmel.

Als die Reihe an uns kam, musste Jennifer die ENTHYMESIS zunächst behutsam aus ihrer Parkposition lösen, die um neunzig Grad gegen die Längsachse der Halle verdreht war. Zentimeterweise schob sie das bullige Schiff um die Biegung des Kuppelkreuzes. Natürlich hätte sie das Park-Off auch dem Ersten Piloten oder der Automatik überlassen können, aber das kam für sie nicht infrage. Zu lange schon hatte sie den geliebten Explorer vermissen müssen. Selbst wenn man die ENTHYMESIS II mit einbezog, die uns seit der Nacht von Pensacola als Ersatz hatte dienen müssen, waren viele Monate vergangen, seit sie am Hauptbedienplatz eines großen Schiffes gesessen hatte. Und dieses Schiff, die erste und einzige ENTHYMESIS, hatte sie seit mehreren Jahren nicht mehr fliegen können.

Sie richtete uns auf die Hauptachse der großen Halle aus und beschleunigte rasch zum Hangartor. Wir jagten über das Gebirgstal hinaus und stiegen dann schnell weiter auf, während die Felsgipfel der Teton-Range und die in sie eingemauerte Bunkerstadt steil zurückfielen. An unserem Heck folgte Staffel nach Staffel. In dichten, deltaförmig gespreizten Wellen fluteten die Geschwader aus der unterirdischen Festung und steuerten im Formationsflug den erdnahen Orbit an. Was für ein Anblick! Hunderte von Maschinen, nur wenige Meter Luft zwischen den Flügelspitzen, donnerten über die friedliche Landschaft. Dort unten musste der Himmel sich verdunkeln und in einem stählernen Gewitter grollen, als er von Turbinenlärm gepflügt und vom Tosen der Feldgeneratoren umgewühlt wurde. Wir gewannen rasch an Höhe. Die Atmosphäre lichtete sich um uns, als die letzten streifigen Zirrostratus, die auf einen klaren, aber kalten Tag hindeuteten, unter uns zerflockten. Am Horizont zeichneten sich, wie weit entfernte Schwärme von Zugvögeln, weitere Geschwader ab. Sie stiegen von anderen Bunkerstädten und unterirdischen Werften in den Anden, den europäischen Alpen, den Massiven Zentralasiens auf. Und all diese Maschinen vereinigten sich mit uns zu einer einzigen stahlgrauen Wolke, die sich am Firmament verflüchtigte und in die ewige Nacht des Alls eintauchte.

 

Wir passierten die Ringe. Myriaden im Sonnenlicht funkelnder Brocken und Splitter, die kleinsten feiner als Staub, die größten von den Ausmaßen einer Stadt. An einem der großen Trümmer kamen wir dicht vorbei. Wir sahen die Station, die in seine sich träge drehenden sandfarbenen Massen eingebaut war. Die Besatzung stand an den Fenstern und jubelte uns zu. Der Richtkanonier winkte mit den Läufen seines schweren Zwillingsgeschützes. Die ganze Batterie bestand aus zehn solcher Kanonen, die wie die Stacheln eines riesigen Igels aus der unregelmäßig geformten Felsmasse hervorstarrten. Ein thermischer Reaktor im Inneren des einstigen Asteroiden versorgte sie mit Energie. Sie war Teil des äußeren Sperrgürtels, der, dem Verlauf der Ringe über dem Äquator folgend, die Aufgabe hatte, eine Invasion noch oberhalb der Atmosphäre abzuwehren.

Wir beschleunigten auf Fluchtgeschwindigkeit und verließen das Schwerefeld der Erde. Der blaue Planet mit dem silbernen Ring um die Taille fiel rasch zurück und wurde zu einem punktförmigen Saphir auf dem schwarzen Samt des Raumes. Die Flotte zog sich über mehrere tausend Kilometer auseinander. Ich hatte Funkstille angeordnet, um die Aufmerksamkeit der sinesischen Sonden nicht auf uns zu ziehen. Die Instrumente der ENTHYMESIS hatten die Späher übrigens längst geortet und die Koordinaten an den restlichen Verband weitergegeben. Zwar ging ich nicht davon aus, dass die Sonden per se gefährlich waren, aber man konnte es nicht wissen. Bei den Sinesern musste man auf alles gefasst sein.

Auf Subwarp-Geschwindigkeit flogen wir weiter. Ziel war zunächst der einstige Jupiterraum, wo die Flotte sich sammeln und den Sprung durchführen sollte. Das hatte zum einen praktische Gründe. Dort war jetzt genügend Platz. Das innere Sonnensystem war einfach zu kleinräumig, um die Warpreaktoren zu aktivieren. Wir mussten auch an die vielen Piloten denken, die über keinerlei fliegerische Erfahrung unter Echt-Bedingungen verfügten. Zum anderen lag darin ein psychologisches Moment. Zum Racheschwur traf man sich am besten am Grab dessen, dessen Tod man rächen wollte.

Auf der Höhe der Marsbahn und dann des Asteroidengürtels stießen weitere gewichtige Verbände zu uns. Es waren vor allem die sekundären Kapazitäten, die die Marsbasen und die Asteroidenwerften zur Verfügung stellten. Tank-, Munitions-, Versorgungs- und Lazarettschiffe. Gefechtsschiffe; das waren fliegende Feuerleitzentralen, denen im Gefecht die Aufgabe zukam, die vielen hundert Einzelmaschinen zu koordinieren und gleichzeitig ebenso viele feindliche Flugkörper im Auge zu behalten. Torpedoschiffe, die mit Ionensonden bestückt waren, die wiederum schwere Antimateriesprengköpfe trugen. Schließlich die versprochenen Truppentransporter: ihre Spanten aus gehärtetem Titanstahl bargen eigene Landungsschiffe, um Mannschaften auf fremden Welten absetzen zu können, und mehrere Divisionen an Infanteristen; sowie das schwere Schlachtschiff, ein Gigatonnenkreuzer, den man in weniger als zwei Jahren hier oben aus dem Erz der Planetoiden gestampft und auf den Namen EREBUS getauft hatte.

Hatte ich am Morgen mit starker Übelkeit kämpfen müssen, so überkam mich nun ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Welche Macht konnte dieser Armada standhalten?!

Wir näherten uns dem Jupiterraum. Ich ließ mich mit dem Kommandanten des Schlachtschiffes verbinden. Es war ein General Andresen; an den Namen glaubte ich mich vage aus der Akademiezeit zu erinnern. Ohne überflüssiges Vorgeplänkel kam er sofort zur Sache.

»Haben Sie sie auf dem Schirm?«

Jennifer ging online auf den großen Monitor und zeigte mir, was er meinte. Ich erkannte eine HoloKarte der völlig verwüsteten Jupiterregion. Einige der ehemaligen Monde des Monarchen hatten seinen Thronsturz überdauert. Gemeinsam mit einigen kleineren Bruchstücken und Trümmern, die aus Kollisionen der einstigen Trabanten hervorgegangen waren, bildeten sie eine instabile Wolke, die einen Radius von mehr als einer Million Kilometern einnahm und trudelnd um den gemeinsamen Schwerpunkt kreiste. Es waren nur noch wenige größere Körper, zwischen einigen Dutzend und über tausend Kilometern Durchmesser, aber mehrere Millionen Fragmente, vom Meter- bis zum Mikrometerbereich. Das ganze sah eher aus wie ein vorsintflutliches Atommodell, das die Verteilung der Elektronenwolken darstellte, als wie ein Planetensystem. Es konnte auch schön als Illustrierung davon herhalten, was geschah, wenn jemandem die Mitte abhanden kam und er des notwendigen Zusammenhaltes verlustig ging. Jedenfalls war es ein tödliches Gebiet, in das einzufliegen nicht ratsam schien. Nahe bei seinem Zentrum, den beiden Schwerpunkten einer Ellipse ähnlich, hob die Automatik zwei grüne Symbole hervor, in die sie das Hohheitszeichen der Sineser eintrug.

»Nur zwei?«, fragte ich ungläubig.

Jennifer hob die Achseln, ohne sich nach mir umzusehen. Aber sie hatte das Deepfield zurate gezogen und den gesamten Raum diesseits der Oort’schen Wolke hochauflösend gescannt. Anscheinend hatte sie keine weiteren Anzeichen auf die Anwesenheit feindlicher Schnüffler entdecken können.

Andresen antwortete wie aus der Pistole geschossen. »Gegenwärtig sind es nur zwei, und sie haben sich, was ungewöhnlich genug ist, auf einen sehr engen Raum zurückgezogen. Rein statistisch gesehen, dürfte in den nächsten Stunden wenigstens eine weitere hier eintreffen, und kurz danach wird vermutlich mindestens eine von diesen beiden Richtung Sina verschwinden.«

Jennifer hatte sich jetzt in ihrem gravimetrischen Pilotensessel zu mir umgedreht. Sie schnitt ein ironisches Gesicht. Der geschäftsmäßige, knorrige Ton des Generals schien sie über die Maßen zu amüsieren.

»Dann sollten wir es nicht so weit kommen lassen“, sagte ich. »Sie die linke, wir die rechte!«

Und da rechts und links im offenen Raum relative Begriffe sind, zeigte ich Jennifer auf der Konsole, welche der Sonden ich meinte. Sie markierte sie auf dem Schirm und schickte die entsprechenden Koordinaten an die EREBUS.

Ich befahl dem Rest der Flotte, zurückzubleiben und sich auf den Sprung vorzubereiten. Dann pirschten wir uns näher an den Jupiterraum heran. Die EREBUS und die ENTHYMESIS rückten einige hunderttausend Kilometer auseinander, um eine breitere Gefechtsbasis zu schaffen. Aber wir blieben dicht genug beieinander, um Kommunikation in Echtzeit zu gewährleisten. Bald sahen wir den Trümmerreigen mit bloßen Augen. Die großen, halbwegs unversehrten Monde standen abseits. Wie Schäferhunde eine Herde voller herumtollender Lämmer umkreisten sie in gemessenem Abstand das Chaos aus umeinandertrudelnden Felsbrocken und Gesteinstrümmern. Wir schoben uns bis an den Rand der instabilen Region heran, die immer noch von Gezeitenschocks und höherdimensionalen Entladungen durchtobt wurde. Der Volumendefekt, den die sinesische Annihilationssonde verursacht hatte, war noch immer nicht völlig ausgeglichen. Der Raum selbst konnte nicht gedehnt werden, um die Lücke innerhalb der Leere zu schließen. Hinzu kam, dass durch den Sturz des Jupiter und das Verschwinden seines Schwerefeldes ein weiterer Faktor, der den Raum komprimiert hatte, aus der Region abhanden gekommen war. Der Effekt war eine zusätzliche Dehnung der Raumzeitlinien, die der Überwindung des Defekts zusätzlich entgegenarbeitete. Eine Stauchung des Raumzeitkontinuums wäre nötig gewesen, um einige Milliarden Kubikkilometer schieren Volumens in die Lücke hineinzupressen. Am Ende, überlegte ich, musste man Dunkle Materie, wie sie sich an den ungleich größeren Dehnungsbrüchen der intergalaktischen Korridore bildete, heranschaffen, um das Loch zu kitten. Aber es war jetzt nicht der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen.

Fest stand, dass ein extrem instabiles Gebiet vor uns lag, von massiven Partikeln aller Art durchkreuzt und von Verwerfungen der Raumzeit durchtost. Und tief im Inneren, im schwarzen Auge dieses Orkans aus Geschossen und Energie, funkelten zwei Lichtpunkte, dort hockten die beiden sinesischen Überwachungssonden.

»Glauben Sie, sie sind gefährlich?«, wandte ich mich an General Andresen.

Jennifer äffte mich lautlos nach. Ihr missfiel es, dass ich mir die Blöße gab, einen Rat einzuholen. Aber auf derlei Spielchen war ich noch nie versessen. Wenn man etwas nicht wusste, sollte man danach fragen. Der Kommandant hatte jedenfalls mehr Erfahrung mit diesen Dingern als wir.

»Man muss damit rechnen«, hörte ich. »Jedenfalls agieren sie selbständiger, als wir das bisher von ihnen gewohnt sind. Sie verfügen über volle KI-Fähigkeit.«

Ich tauschte einige Blicke mit meinem Copiloten und den Adjutanten, die auf den rückwärtigen Plätzen der Brücke saßen. Sie alle hatten sich seit Jahren mit den Spähern beschäftigt. In dieser Zeit war keine der Sonden einer menschlichen Einrichtung nahegekommen. Aber sie waren auch nicht mit einem Akt der Aggression konfrontiert worden, wie ihn unser Ausrücken in ihren Augen ohne Zweifel darstellen musste.

»Knipsen wir sie aus«, entschied Jennifer, und in den Mienen der anderen las ich Zustimmung. Natürlich musste jedem klar sein, was das bedeutete: ein offener Affront, der das sinesische Imperium herausforderte! Im Grunde konnte ich froh sein, in Andresen einen so entschlossenen Kommandanten zur Seite zu haben. Er würde nicht zimperlich reagieren, wenn ich den Feuerbefehl gab.

»Bringen wir’ hinter uns.«

Jennifer gab Energie auf die Feldgeneratoren. Das Schiff erzitterte, blieb aber noch an seiner Position. Sie hatte unaufgefordert gehandelt. Das belustigte mich. Hatte sie sich eben noch um meine Autorität gesorgt, trug sie nun selbst dazu bei, sie zu untergraben.

»Andresen«, rief ich in die Kommunikation. »Sie gehört Ihnen!«

Die EREBUS war zu weit entfernt, als dass sie mit bloßem Auge sichtbar gewesen wäre, aber wir hatten das Schiff auf einem unserer Schirme. Dort sah ich, wie es die Bugschilde ausfuhr und die Geschütze nachführte. Dann flammte ein unsichtbarer, nur auf den Monitoren künstlich hervorgehobener Feuerstrahl aus den schweren phasengedoppelten Röntgenlasern. Die sinesische Sonde, die ich dem General überlassen hatte, verglühte in einer grünlich irisierenden Partikelwolke. Der Casus belli war geschaffen.

Jennifer fixierte ungeduldig mein Spiegelbild in der großen Frontscheibe. Sie hatte die Hand am Drücker und wartete auf den Feuerbefehl. Aber obwohl mir bewusst war, dass wir jetzt sehr schnell handeln mussten und dass ein Zögern von Sekundenbruchteilen verhängnisvolle Konsequenzen nach sich ziehen konnte, machte ich ihr ein Zeichen, noch zu warten.

»Also mein Teil des Jobs«, schnarrte Andresen, dann brach die Leitung zusammen.

Die zweite Sonde hatte ein Störfeld geschaltet. Ich trat nach vorne, direkt hinter die Lehne von Jennifers gravimetrischem Stuhl, und legte die Hände auf die Nackenpolster.

»Liebling«, knirschte Jennifer halblaut zwischen den Zähnen, »ich hoffe, wir machen nicht gerade einen Riesenfehler!«

Gebannt starrte ich zur Bugscheibe hinaus. Der Lichtblitz, in dem die erste Sonde zerschellt war, verrieselte langsam. Er hatte das wirbelnde Chaos im Inneren der Materiewolke erhellt. Hunderte von Körpern, die umeinander und um gemeinsame Schwerezentren kreisten und die für eine Nanosekunde harte Schlagschatten aufeinander warfen. Jetzt fiel das komplexe System wieder in das Halbdunkel der Jupiterregion zurück. Die Sonde hatte unsere Peilung aufgenommen, das konnte ich körperlich spüren. War sie bewaffnet? Konnte sie sich zur Wehr setzen? Hatte sie am Ende einen Annihilationsdetonator an Bord, der die ganze Zone zu Nichts verschlucken konnte?!

Ich wusste, jede Fiber meines bebenden Körpers wusste, dass ich handeln musste. Dennoch wollte ich abwarten. Ich hatte das Gefühl, dass ich aus der Reaktion dieses feindlichen Automaten Wesentliches ablesen, womöglich sogar lernen können würde.

»Sie scannt uns«, stellte Jennifer lapidar fest. »Gammaband, Pikometerauflösung.«

Unwillkürlich wich ich einen halben Schritt zurück, als könne mich das vor den unsichtbaren Kraftfeldern schützen, die sich gerade durch unser gesamtes Schiff tasteten.

»Sie dringt doch hoffentlich nicht durch!«, rief ich. »Deflektorschilde hochfahren, Außenhaut polarisieren, Abschirmung 120 Prozent!«

Aber noch ehe ich die Meldungen abwarten konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Im Zentrum der wirbelnden Partikelwolke wurde ein hellblauer Blitz sichtbar, das untrügliche Zeichen, dass ein starkes Ionentriebwerk gezündet worden war. Die Sonde kam auf uns zugeschossen. Es war ein zauberhafter Anblick, wie das Geschoss in Sekundenbruchteilen auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte und sich, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, seinen Weg durch das Chaos der herumtrudelnden Trümmer bahnte. Es schien sich in geheimnisvollen magnetischen Gleisen zu bewegen. Nach allen Richtungen ausweichend, tanzte es sich förmlich ins Freie. In Augenblicken hatte es die für uns unbetretbare Zone des ehemaligen Planetensystems durchquert und hinter sich gelassen. Es kam auf uns zugeschossen. Schon konnten wir Einzelheiten seiner Konstruktion mit bloßen Augen ausmachen.

 

»Frank!«, schrie Jennifer.

Ihre Hand zitterte einen Zentimeter über dem Auslöser. Die anderen Mitglieder der Crew hatten ebenfalls aufgeschrien und sich unwillkürlich in ihre Sessel gekrallt, als die Sonde wie ein stählerner Blitz auf uns losging – und wenige hundert Meter vor der Schnauze der ENTHYMESIS wieder zum Stehen kam.

»Warte«, sagte ich langsam.

Ich ließ die Automatik das Licht auf der Brücke löschen. Dann trat ich unmittelbar an die Bugscheibe heran. Aus dem Augenwinkel sah ich auf dem Monitor, wie Andresen seinen Geschützturm herumschwenkte. Wollte er mir das Ding vor der Nase wegschießen? Aber so weit würde ich es nicht kommen lassen.

Die sinesische Warpraumsonde hing keine Schiffslänge vor uns im Raum. Es war ein zwanzig Meter hoher, rauchgrauer Zylinder. Am Heck köchelte der Rückstoß des Ionentriebwerks blauweißen Dunst ins Vakuum. Die uns zugewandte Vorderseite wurde von zwei großen Halbkugeln bestimmt, die rechts und links an der konisch zulaufenden Spitze saßen. Sie beherbergten die Instrumente. Die KI-Einheit, die ich zu gerne für eine Millisekunde durchleuchtet hätte, aber ihre Abschirmung widerstand sämtlichen Anstrengungen unserer Scanner. Das Deepfield, das jede Bewegung und jeden Funkspruch im Sonnensystem registrierte und aufzeichnete. Der Quantenspeicher, der einige Tausend Exobyte fasste und in dem in diesem Augenblick sämtliche Informationen unseres Truppenaufmarsches niedergelegt waren. Jede Schiffskennung, jede Munitionsliste, jede Biographie jedes einzelnen Soldaten, die Positionsdaten jeder Batterie im Erdring, jeder Marsbase und jeder Werft diesseits der Asteroiden. Vielleicht auch eine Sprengladung zur Selbstzerstörung – oder eine Annihilationsgranate, die in dieser Sekunde scharf gemacht wurde. Die beiden opaken Halbkugeln erinnerten an die Facettenaugen eines großen todbringenden Insekts. Und genau so, wie eine auf der Stelle schwebende Wespe, hielt die Sonde ihre Position so dicht vor unserer Schnauze, dass wir sie mit einer Handfeuerwaffe hätten treffen können. Sie schien mich zu fixieren, nicht nur unser Schiff, die ENTHYMESIS, sondern mich persönlich, General Frank Norton, den Oberbefehlshaber der größten interstellaren Streitmacht, die die Unierte Menschheit jemals ausgesandt hatte. Und ich erwiderte diese Fixierung. Es war nur ein Automat, aber er starrte mich neugierig, abwartend, drohend und herablassend an. Unsere Blicke krallten sich ineinander, sie verzahnten sich wie Stahl, der sich bei einer tödlichen Kollision kreischend ineinanderfrißt. Es war ein Kräftemessen, und diese Begegnung entwickelte einen fürchterlichen Sog, dem ich mich nicht mehr zu entziehen vermochte. Jennifers spitzer Schrei erlöste mich daraus.

»Sie fährt den Warpgenerator hoch!«

»Feuer«, stöhnte ich.

Es war, als ließe eine riesige Pranke mich los – und als spüre ich erst jetzt, mit welcher Gewalt sie mich gepackt gehabt hatte.

Jennifer knallte die flache Hand auf die Konsole. Die Omega-Geschütze in den vorderen Torpedoschächten gaben zwei gedeckte Salven ab. Die Sonde zersprang in einem leuchtenden Rauchwolke, die gemächlich in der Schwerelosigkeit auseinanderrollte. Eine blaue Entladung prickelte über die Außenhaut der ENTHYMESIS, als die starken Scan- und Störfelder, die die Sonde auf uns geschaltet hatte, erloschen. Einige größere Bruchstücke verloren sich im Raum. Ich glaubte die KI-Einheit zu erkennen, einen kopfgroßen Kasten, der mit Sandwich-Platinen vollgestopft war und aus dem verschmorte Kabel heraushingen. Er schoss wenige Meter über uns hinweg und verschwand dann für immer in der Dunkelheit.