Ruinenwelt

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»Selbstverständlich Commander«, stieß er hervor.

Inzwischen war die ganze Crew um uns zusammengelaufen. Ich nickte Joonas zu, dass er vorläufig entlassen sei. Zunächst einmal musste ich mir eine Taktik zurechtlegen, ob ich den Vorfall auf sich beruhen lassen sollte oder ob es die Konfrontation wert war, um jeden Preis die Disziplin aufrechtzuerhalten, solange wir hier unten festsaßen und aufeinander angewiesen waren.

Wir sahen uns an, was der Shuttle-Pilot mitgebracht hatte. Legrand und Jennifer besahen sich natürlich zuerst den Hover. Sie erkannten, dass Jones, der Jyväläinens Bericht zufolge auch dieses Gerät repariert hatte, die komplexe Steuerungs-Elektronik einfach überbrückt und durch einen simplen Ein-Aus-Schalter ersetzt hatte. Natürlich funktionierten die höheren Ebenen nicht mehr, die Stimmerkennung und die Selbststeuerung zum Beispiel. Man konnte dem Hover keinen Auftrag mehr erteilen, den er dann selbsttätig ausführte. Die Positions-Tools und das Doppler-Feedback hatten geopfert werden müssen. Aber als rudimentärer geländeunabhängiger Lastträger war die Apparatur allemal zu gebrauchen.

Joonas hatte an die 100 Liter Trinkwasser mitgebracht, riesige Werkzeugsets, darunter auch mehrere hochauflösende optische Instrumente zur Untersuchung der Kleinstbauteile, eine Kiste voller selbstwärmender Essensrationen und für jeden von uns einige persönliche Dinge, die wir ihm auf seinen Zettel geschrieben hatten. Bei mir waren das zum Beispiel zwei Garnituren langer Unterwäsche. Die Frauen hatten sich hauptsächlich kosmetischen Bedarf bestellt. Es war ein bisschen wie bei Robinson, der sich eine ganze Existenz aus dem aufbaute, was er aus dem gestrandeten Wrack noch bergen konnte.

Später am Tag ging ich dann selbst zur ENTHYMESIS hinüber. Offiziell war das Ganze als Materialbeschaffung deklariert. Ich schob den leeren Hover vor mir her. Wie jeder Hausmann weiß, stellt man unmittelbar beim Auspacken fest, was man alles beim Einkaufen vergessen hat. So war es auch hier. Kaum hatte die Crew die neue Ausrüstung gesichtet und sich damit an ihre Arbeit gemacht, wurden auch schon erste Stimmen laut, die weiteres Equipment anforderten. In Stundenfrist ergab sich daraus eine umfangreiche Nachbestellung. Joonas erklärte sich bereit, noch einmal loszuziehen und den zweiten Einkaufszettel abzuarbeiten. An der unterwürfigen Art, in der er das vorbrachte, erkannte ich, dass er sich mit mir gut stellen und zugleich eine zweite Chance bekommen wollte, um auf den Ingenieur einzuwirken. Ich schnitt seine Andienungsbemühungen ab.

»Sie bleiben hier«, sagte ich, »und helfen den anderen bei ihren wissenschaftlichen Versuchen. Ich kann hier im Augenblick am wenigsten von Nutzen sein, also gehe ich diesmal selbst.«

Ich setzte eine neuerliche Liste auf, aktivierte den Hover, der ohne Last fast einen Meter über dem Boden schwebte – regulieren ließ er sich ja nicht -, und ging dann ohne weitere Erklärungen los. Jennifer sah mir mit einer Miene mütterlicher Besorgtheit nach. Sie wusste, dass ich Jones zur Rede stellen würde. Rogers rief mir zerstreut noch einen technischen Artikel nach, den ich mit Bleistift auf meinen Zettel kritzelte. Die anderen waren schon wieder in ihre Arbeit vertieft.

Ich stolperte über die geröllbedeckte Ebene auf die ENTHYMESIS zu, die jetzt im Gegenlicht des fahlen 3Alpha-X-Nachmittags in der Landschaft lag. Im Westen ballten sich dichtere Wolken zusammen, dunkle schwarzviolette Cumuli, in denen metallische Blitze wetterleuchteten. Silbrige Explosionen warfen sekundenlang schwarze Schlagschatten über die Felsen, die anschließend wieder in den ursprünglichen rotgrauen Dämmer zurückfielen. Dabei war es ganz still, und mir fiel auf, dass der Wind vollständig eingeschlafen war. Der Weg dauerte ohne den störenden Helm, das Ziel unmittelbar vor Augen, kaum eine Viertelstunde, während der ich mir eine Strategie zurechtlegen konnte. Als ich an der ENTHYMESIS ankam, verließ ich mich auf Joonas’ Auskunft, dass die Elevatoren wieder in Betrieb waren. Anders hätte auch er selbst das Material gar nicht aus dem Schiff herausbekommen. Anstatt zur hinteren Schleusenkammer aufzusteigen, steuerte ich also die große Backbordschleuse an, betätigte den Ruf und hörte auch sofort das hydraulische Singen im Bauch des riesigen Explorers, als der schwere Lastenaufzug herunterkam. Die Schleuse öffnete sich, ich ging hinein und deponierte den Hover in einem Eck der wohnzimmergroßen Kabine. Dann fuhr ich auf die Kommandoebene hinauf.

»Sir«, blaffte er mich an, »ich weiß genau, warum Sie kommen!«

Jones fing zu brüllen an, noch bevor das große Schott vor dem Aufzug sich vollständig geöffnet hatte. Das war schlechtes Gewissen, kompensiert durch Aggression. Er musste mich kommen gesehen haben. Vielleicht war es ihm sogar gelungen, die Außensensoren in Betrieb zu nehmen. Funktionierte am Ende die Automatik wieder? Ich wusste durchaus, was ich an diesem Mann hatte. Schließlich hatte ich ihn nicht aus Versehen für diese heikle Mission angefordert. Menschlich war er mir allerdings zuwider, und in der gegenwärtigen Situation musste ich darauf achten, dass mir nicht die Kontrolle über meine Crew entglitt. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, was noch auf uns zukommen würde.

»Ich bin der TI dieses Schiffes«, fing er wieder an und knallte die rechte Faust in die linke Hand.

Ich vergewisserte mich, dass der Hover sicher abgestellt war, und schaltete den Elevator auf Stand by. Dann schritt ich, an Jones vorbei, aus dem Aufzug.

»Nehmen Sie Haltung an«, sagte ich laut, deutlich und bestimmt, aber ohne zu schreien. »Und machen Sie Meldung!«

Er stand stramm und salutierte. Aber nur für eine Sekunde. Danach legte er wieder los. Er gestikulierte, drang unter Missachtung des vorgeschriebenen Mindestabstandes von einer Armlänge auf mich ein, berührte mich sogar an Schulter und Brust und redete ohne Unterlass.

»Ich weiß schon, weshalb Sie diesen Jyvälheini hergeschickt haben«, brabbelte er. »Aber ich kann nicht in ihr Pfadfinderlager. Dieses Schiff ist mein Baby. Ich fliege seit zwanzig Jahren auf ENTHYMESIS-Explorern. Und ich werde sie wieder flott bekommen. Wir können doch nicht ewig hier rumsitzen ...«

Ich brachte ihn auf Distanz. Er trug eine dieser Mechanikerhosen, die nur aus Werkzeugtaschen zu bestehen schien und vor Schmutz starrte. Auch seine Stiefel waren schwarz vor Öl. Sonst hatte er nur ein schmales Trikot an, wie es beim Armeesport verwendet wird, ein armloses Shirt mit dem Wappen der Union auf der Brust. Seine muskulösen Arme, sein Gesicht, sogar sein verfilztes Haar, alles an ihm war eingedreckt. Er sah aus, als habe er auf einer Ölbohrinsel Sonderschichten geschoben. Dazu kam das heisere Gebrüll und der ein wenig irre Ausdruck seiner stechend blauen Augen. Der Mann war völlig abgearbeitet und übernächtigt.

»Wie ist der Sachstand«, sagte ich so ruhig wie möglich. Diese Wendung hatte ich mir von unserem unsympathischsten Ausbilder abgehorcht. »Machen Sie doch endlich Meldung, Herrgottnochmal.«

Als er begriff, dass ich nicht unmittelbar auf seine Weigerung, das Schiff zu verlassen, einging, wurde er etwas friedlicher. Er begann aufzuzählen, was er hatte instandsetzen können. Hier war er in seinem Element. Die Liste war lang und eindrucksvoll. Allerdings fehlte auf ihr alles, was die höheren Funktionen des Schiffes ausmachte, die Automatik, die Abschirmung, die Sensoren und Kommunikationseinrichtungen. Nicht zuletzt war es ihm bislang unmöglich gewesen, das Triebwerk zu starten oder auch nur herauszufinden, warum es sich nicht starten ließ.

»In Ordnung«, sagte ich und nickte so anerkennend und begütigend, wie es mir möglich war. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«

Jetzt war er es, der mich ernst und abwartend musterte.

»Was diese andere Sache betrifft ...«

Sofort trat er einen Schritt zurück, kreuzte die bulligen Arme vor der Brust. Sein Gesichtsausdruck wurde um einige Größenordnungen abweisender.

»Sir!«, rief er halb warnend, halb verständnisheischend.

»Sie wissen«, sagte ich hart, »dass ich Sie dafür vor ein Militärgericht stellen kann?!«

»Ha!«, lachte er schrill auf. »Da müssen wir erst einmal von hier wegkommen!«

Ich hatte die Hand gehoben, um anzuzeigen, dass ich noch nicht fertig war.

Einige Sekunden lang bohrten sich unsere Blicke ineinander. Ich begriff, dass er Angst hatte. Nicht vor mir oder vor den Konsequenzen seines Handelns, nicht vor irgendwelchen Institutionen. Er fürchtete tatsächlich, dass wir hier unten festsaßen. Und wieder trat dieser eigentümliche Effekt auf: obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie wir das Schiff wieder flott bekommen sollten, teilte ich seine Angst nicht nur nicht, ich spürte sogar, als ich sie erkannte, eine große Ruhe und Überlegenheit in mir. Vielleicht lag es daran, dass ich den Gedanken an den Tod nicht fürchtete. Unwillkürlich wartete ich fast darauf, dass er weinend an meiner Brust zusammenbrechen würde, ein solches Gefühl der inneren Unangreifbarkeit hatte sich in diesem Augenblick in mir aufgebaut. Das tat er natürlich nicht. Aber die Art, wie ich seinem Blick standhielt, schien ihn doch etwas einzuschüchtern.

»Ich bin bereit«, sagte ich, wieder ganz ruhig und überdeutlich, »die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich weiß Ihre Arbeit zu schätzen und will, dass Sie sie fortsetzen.« Ich wechselte aus dem Durchgang, in dem sich die Szene abgespielt hatte, in die Messe hinüber und nahm mir erst einmal einen Kaffee aus der Maschine. »Meinetwegen bleiben Sie hier und kümmern sich weiter um das Schiff.« Ich zauberte den Hauch eines väterlichen Lächelns in meine Augenwinkel.

»Aber passen Sie auf sich auf«, setzte ich hinzu, »und schonen Sie sich etwas. Wenn Sie zusammenklappen, haben wir alle nichts davon.«

 

Er sah mich weiterhin starr an und erwiderte momentan nichts. Das war geradezu weise. Er war zu stolz, um mir für dieses kulante Verhalten zu danken, und zu intelligent, um billigen Triumph aus meinem Nachgeben zu schlagen, wie es ein primitiverer Charakter getan hätte.

Ich nippte an meinem Becher. Er wandte sich ab und ging zum großen Panoramafenster hinüber, das nach Norden hinausschaute. In der Ferne erkannte man das Shuttle und das hellblaue Kuppelfeld unseres Camps. Mehrere Minuten lang schwiegen wir beide. Die Waffen ruhten, aber es dauerte eine Weile, bis sich der Pulverdampf verzogen hatte.

»Sir«, sagte er schließlich in wesentlich moderaterem Tonfall, »wenn Sie diese Frage gestatten. Ich verstehe nicht ganz, warum Sie dort drüben ein Camp errichten und Indianerspiele veranstalten, während wir ohne Kontakt zum Mutterschiff sind und keine Möglichkeit haben, diesen verfluchten Planeten wieder zu verlassen.« Er drehte sich auf dem Absatz herum und kam wieder auf mich zu. Ich musste aufpassen, dass er sich nicht in Rage redete. »Die sind ja auch nicht blöd da oben«, rief er zornig. »Nochmal schicken die kein Schiff herunter. Da geben sie uns lieber auf, und wir können in dieser Schotterwüste krepieren.«

»Wir haben Vorräte ...«, wandte ich ein.

»Dann krepieren wir eben in einem Jahr«, schrie er.

»Dr. Rogers«, entgegnete ich jetzt, allein schon um auszuloten, wieviel Autorität dieser Name noch hatte, »Mr. Legrand und auch ich sind der Meinung, dass wir erst verstehen müssen, welche Einflüsse auf diesem Planeten herrschen und inwiefern sie unsere Schiffe stören. Wenn wir das herausgefunden haben, können wir eine Gegenstrategie entwickeln.«

Die Erwähnung des Leiters der Planetarischen Abteilung und nach Wiszewsky des zweiten Mannes auf der MARQUIS DE LAPLACE hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Jones runzelte zwar demonstrativ die Stirn, blieb aber still.

»Ich bin überzeugt«, sagte ich sonor, »dass es am Ende plötzlich ganz einfach sein wird. Irgendeine Kleinigkeit, die wir im Vorfeld übersehen haben und die wir schon längst herausgefunden hätten, wenn unsere Instrumente noch funktionieren würden.« Damit knallte ich ihm die Besorgungsliste vor die Brust: »Und jetzt helfen Sie mir bitte, diese Sachen zusammenzusuchen. Sie werden dringend benötigt, um unsere Lage weiter aufzuklären.«

Eine halbe Stunde später machte ich mich mit einem hoch beladenen Hover auf den Rückmarsch. Auch im Camp gab es Neuigkeiten. So war es Legrand gelungen, einen Satz altertümlicher Funkgeräte in Betrieb zu nehmen, die auf elektromagnetischen Wellen statt auf Quantenparallelität basierten. Wir verteilten sie in der Crew, um besser in Kontakt zueinander bleiben zu können, wenn jemand zur ENTHYMESIS ging oder die nähere Umgebung erkundete. Sie waren zu schwach, um damit zum Mutterschiff durchzudringen, aber sie reichten doch, die lokale Kommunikation über Rufweite hinaus aufrecht zu erhalten.

Rogers strolchte den lieben langen 3Alpha-X-Tag in der Termitenburg und in der Landschaft herum, wo er Gesteinsproben sammelte und nach weiteren Artefakten fahndete. Er war meinen Weisungen nicht unterstellt. Ich konnte da wenig machen. Aber auch die Versuche, die planetarische Störungsquelle einzukreisen und nach Möglichkeit zu bestimmen, machten in den nächsten Tagen Fortschritte. Ich kümmerte mich kaum darum, da der technische Jargon mir auf die Nerven ging. Obwohl ich es nicht gerne sah, wenn sie pausenlos die Köpfe zusammensteckten, musste ich es geschehen lassen, dass vor allem Jennifer und Legrand diesen Teil der Arbeiten unter ihre gemeinsamen Fittiche genommen hatten.

Lambert hatte sich ihrer hausfraulichen Qualitäten besonnen. Sie kümmerte sich mit Hingabe darum, im Camp für Ordnung zu sorgen, darauf zu achten, dass wir die Termine der Mahlzeiten einhielten und pünktlich zu Bett gingen. Joonas assistierte dem Wissenschaftlichen Offizier bei dessen Versuchen, während mein Technischer Ingenieur sich weiterhin hartnäckig weigerte, die ENTHYMESIS zu verlassen. Immerhin hatte er ein Funkgerät angenommen, das ich Joonas bei seinem nächsten Botengang mitgegeben hatte, und blieb so in Verbindung mit uns. Er hielt sogar mit Rogers und Legrand eine Art Fernkonferenz ab, in der die drei ihren aktuellen Wissensstand und ihre Erfahrungen bei der Instandsetzung wichtiger Gerätschaften austauschten. Mir blieb einstweilen wenig zu tun. Ich versuchte den Überblick zu behalten. Ansonsten hing ich meinen Gedanken nach und jonglierte auf meine laienhafte Weise mit Arbeitshypothesen über die Ursache unserer Gefangenschaft.

Legrand hatte erste Erfolge zu vermelden. Er hatte eine Art tragbares Labor konstruiert, wo beginnend mit einer simplen Diode, die mit einer Batterie verbunden war, unterschiedliche Schaltungstypen nach aufsteigender Komplexität angeordnet waren. Damit begab er sich in meiner und Jennys Begleitung in die blaue Kammer und spielte, mit maskenhaft angespanntem Gesicht und vor Angstattacken schlotternd, die Bauteile nacheinander durch, um herauszufinden, bis zu welcher Leitungsgröße, Schaltungsdichte, was weiß ich, die Instrumente noch funktionierten. Daraus leitete er Rückschlüsse über Frequenzbereiche und Feldstärken der Störung ab, die er in neuerliche, verfeinerte Versuchsaufbauten einfließen ließ. Ich fragte mich irgendwann, ob unsere Lebenszeit ausreichen würde, mit dieser Methode zu verwendbaren Ergebnissen zu gelangen. Aber da ich keine Alternative anzubieten hatte, hielt ich die Klappe und achtete lediglich darauf, dass er nicht allzu intim mit Jennifer flüsterte und wissenschaftlich großtat. Nach einiger Zeit musste er allerdings selbst einräumen, dass seine anfänglichen Fortschritte sich nicht hatten perpetuieren lassen. Seine großangelegte Arbeit war ins Stocken geraten. Er kam auf diesem Wege nicht weiter.

»Vielleicht ist es doch kein Feld«, sagte er ratlos, als wir abends im Camp beisammen hockten, »keine Störung, keine Strahlung, kein Impuls, und diese ganze Hypothese geht komplett in die falsche Richtung.« Er saß auf seinem Klappstuhl und raufte sich die Haare. Ich sah, dass er offen verzweifelt war. Wir standen wieder ganz am Anfang. Aber dann war es doch Rogers, der uns den entscheidenden Schritt vorwärts brachte.

Ich hatte ihn in den letzten Tagen kaum noch gesehen. Er streunte in der Ruinenanlage herum und war auch wiederholt in der blauen Kammer gewesen. Über seine dortigen Funde machte er sich eifrig Notizen. Wenn wir ihn darauf ansprachen, teilte er bereitwillig mit, was er entdeckt hatte – u.a. einen zweiten Eingang, der zu einer unterirdischen Kammer oder einer ganzen Abfolge von Kammern führte -, aber er hatte in der jüngsten Zeit darauf verzichtet, uns zum Mitkommen zu überreden. Ich schloss daraus, dass seine Exkursionen letztlich doch keine verwendbaren Ergebnisse gezeitigt hatten. Statt einer blauen Kammer gab es nun einen ganzen Trakt davon, den wir uns im Souterrain der schwarzen Schlote vorzustellen hatten. Aber über Sinn, Zweck oder Funktion dieser finsteren gekachelten Räume hatte auch Rogers bislang nichts herausgefunden.

Kapitel 6

Am fünften oder sechsten Tag unseres Aufenthaltes auf 3Alpha-X, als ich mit Legrand und Jennifer dabei war, einen Strahlungsdetektor unter Ausschaltung der komplexeren Kom-Funktionen wieder in Betrieb zu nehmen, kam der Alte, erregt keuchend und hysterisch herumfuchtelnd, die kurze Strecke von der Termitenburg zum Camp gelaufen.

»Das ist es«, rief er immer wieder und winkte mit den Armen, »das ist es. Ihr müsst euch das anschauen!« Er stolperte ins Lager und baute sich vor mir auf. Sein Gesicht war übersät mit hektischen roten Flecken. Der Wind zauste an den letzten wirren Strähnen seines schütteren weißen Haars. »Und behaupten Sie hinterher nicht wieder, ich hätte Ihnen nichts gesagt«, hechelte er ungeduldig, aber offensichtlich voller Hochstimmung.

Ich erhob mich von meinem Klappstuhl, reichte Joonas das halb ausgeweidete Innenleben des Strahlenscanners und zeigte mit dem Finger auf Jennifer, Legrand und Lambert.

»Mitkommen«, sagte ich. »Der Doktor hat wieder was gefunden.« Ein bisschen kam ich mir vor wie ein Familienvater, der begeistert und gelangweilt seinen Jüngsten auf die Wiese begleitet, wo er schon wieder eine Schnecke aufgestöbert hat.

Wir stapften nebeneinander auf die zertrümmerte Ruinenlandschaft zu.

»Dr. Rogers, Sir ...«, fing Jill diesmal schon prophylaktisch an zu jammern. Aber der Alte ließ sie gar nicht erst ausreden.

»Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, mein Kind«, sagte er besänftigend. Und über die Schulter hinweg fügte er, zu uns anderen gewandt, noch hinzu: »Es ist mir übrigens gelungen, die Infraschallquelle auszuschalten.«

»Wie haben Sie das gemacht?«, stieß Legrand hervor und steigerte sein Tempo, um zu Rogers aufzuschließen. Der oberste Planetologe schrieb aber nur ein ungefähres »Abwarten!« mit wedelnder Hand in die Luft.

Wir erreichten die Anlage. Vor uns erhoben sich die blauschwarzen zertrümmerten Türme der Termitenburg. Es war, nach 3Alpha-X-Zeit, später Nachmittag. Die erloschene Sonne stand niedrig in unserem Rücken und warf flaches, aber glühendes Licht auf die porösen Felsformationen. Es schien vom sichtbaren Violett in den unsichtbaren UV-Bereich hinüberzuspielen, denn überall im Geröll und an den hohen Schloten trat die Kristallstruktur plastisch hervor. Rote und neongrüne Adern schimmerten zwischen den schwarzen Massen, wie man es aus Mineralienkabinetten kennt. Wir standen neben dem brusthohen kreisrunden Säulenstumpf, der die blaue Kammer beherbergte, sahen forschend von einem zum anderen und nickten uns das OK zu. Sogar Lambert lächelte tapfer. Dann ließen wir unsere Lampen aufflammen und duckten uns durch den niedrigen Eingang in den sonderbaren emailleschimmernden Raum.

Rogers ging zielstrebig auf eine bestimmte Stelle der kobaltblauen Kachelfluten zu. Dort blieb er stehen und sah uns aufmerksam an. Wir hatten in gemessenem Abstand einen Halbkreis um ihn gebildet.

»Passen Sie gut auf«, sagte er feierlich. Dann berührte er eine der Kacheln, die er sich irgendwie gemerkt haben musste, in Brusthöhe mit der rechten Hand und eine zweite, vielleicht einen halben Meter daneben, mit der linken.

Wir starrten gebannt auf seinen Rücken und bemühten uns, die ganze Szene mit unseren Flammern möglichst gleichmäßig auszuleuchten. Für einige Sekunden geschah überhaupt nichts. Mir fiel aber auf, dass die beklemmende Stimmung, die während unseres ersten Besuches an dieser Stätte geherrscht hatte, nicht mehr vorhanden war.

»Moment«, sagte der Alte.

Jennifer eilte die zwei Schritte ihm zu Hilfe und nahm ihm den Strahler ab, den er unbequem unter die Achsel geklemmt hatte. Unwillkürlich traten wir alle näher heran. Es wurde ganz still. Fünferlei unterdrückte Atemrhythmen waren zu hören, wie sie sich zu avantgardistischen Interferenzen überlappten. Ich begann meinen Herzschlag zu spüren, aber im Gegensatz zu den Angstattacken des ersten Mals, trat nun eine fast unerträgliche Spannung auf.

Ich ging einen Schritt zur Seite, um besser verfolgen zu können, was Rogers dort anstellte. Er stand dicht an der blauen Wand, hatte die Augen in angestrengter Konzentration fast geschlossen und tastete mit den Fingern – als einziger von uns trug er keine Handschuhe – die glatten Kacheln ab. Seine Fingerkuppen schienen irgendetwas zu suchen. Er verließ sich ausschließlich auf sie. Ich stand nun eher seitlich von ihm. Meine rechte Schulter berührte die kreisrund in sich zurückgekrümmte Wand. Ich fokussierte das Licht meiner Lampe und meine Aufmerksamkeit auf die Fingerspitzen des Alten, die geheimnisvolle, mit dem Auge nicht festzustellende Linienmuster nachfuhren, die den Kacheln aufgeprägt oder in sie eingestanzt waren. Plötzlich glitt, noch bevor sonst etwas zu erkennen war, ein Anflug eines zufriedenen Lächelns über Rogers’ Gesicht. Er bewegte die Hände nicht mehr, sondern drückte mit steifen Fingern bestimmte Stellen auf den glänzendblauen Feldern. Dann nahm er die Hände fort und trat einen Schritt zurück. Ich hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick an Atemnot sterben zu müssen. Ein furchtbarer Druck lastete auf meinen Lungen. Wenn ich nicht gewusst hätte oder doch fraglos davon ausgegangen wäre, dass Rogers schon einmal ausprobiert hatte, was er uns hier demonstrieren wollte, ich wäre in blankem Wahnsinn aus dem engen Raum geflohen.

Der Alte hatte anderthalb Armlängen zwischen sich und die geheimnisvollen Felder gebracht. Nach wie vor sah er mit fast geschlossenen Augen und zufriedenem Gesichtsausdruck vor sich hin. Er hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet und wirkte nun wie ein Priester, der sich während der Eucharistiefeier für einen Moment zum Gebet sammelt.

 

Und dann geschah etwas, das zutiefst rätselhaft und verstörend war. Anfangs konnte ich nicht sagen, was sich verändert hatte. Ich spürte nur, dass etwas passiert war. Es war weder etwas zu hören noch zu sehen. Keine Vibrationen erschütterten den Raum, keine Stimme sprach zu uns. Aber dennoch geschah etwas. Rogers hatte etwas aktiviert. Vielleicht war es ein elektrisches oder sonstiges Feld, das er eingeschaltet hatte und das sich zwar nicht unserem Bewusstsein, aber doch – wie zuvor der angstauslösende Infraschall – unserem unterbewussten Sensorium mitteilte. Diesmal war es aber keine Furcht, die ich empfand, sondern einfach dieses unerklärliche und zugleich unwiderlegbare Gefühl, dass etwas Bedeutendes vor sich ging. Wir alle spürten es. Obwohl der Raum, in dem wir uns aufhielten, optisch, akustisch und olfaktorisch exakt derselbe war wie noch vor einigen Sekunden, war plötzlich alles anders geworden. Eine elektrische oder pseudoelektrische Spannung hatte auf uns übergegriffen, ein Kraftfeld hatte sich ausgebreitet und den Raum erfüllt. Was jetzt noch im sichtbaren und berührbaren Bereich geschah, war demgegenüber lediglich etwas Hinzukommendes, eine nachträgliche Dokumentation der Veränderung, die bereits vonstatten gegangen war.

Die sichtbaren und beschreibbaren Vorgänge, die zehn Sekunden, nachdem Rogers an den Kacheln den richtigen Auslöser gefunden hatte, einsetzten, bestanden darin, dass mehrere der blauen Rechtecke – nicht diejenigen, die er abgetastet hatte – zur Seite glitten, nach vorne fuhren oder auch rückwärts in der Wand versenkt wurden. An einer Stelle der runden Mauer wurde eine ganze Fläche, die fünf Kacheln im Quadrat maß, weggekippt. Sie gab ein schwarzes Feld frei, das matt und völlig opak war und am ehesten an einen ausgeschalteten Monitor erinnerte. Wieder an einer anderen Stelle fuhr ein massiver Teil der Wand nach vorne und klappte dabei in einem komplizierten dreidimensionalen Mechanismus zusammen. Es entstand etwas wie die Basis eines Pfeilers oder Pilasters, die im Winkel von 30° aus der senkrechten Wand vorsprang. Mehrere andere Kacheln änderten zwar ihre Position nicht, begannen aber zu leuchten oder zu blinken. Die feineren Strukturen, die dem lackartigen Blau aufgeprägt waren, flammten an manchen Stellen in grellen Rot- oder Gelb-Tönen auf. Irgendwann bemerkten wir, dass der Raum nun auch beleuchtet wurde, obwohl es uns nicht möglich war, eine Lichtquelle auszumachen. Wir waren instinktiv zurückgetreten, als die glatte Wand lebendig wurde und sich an manchen Stellen in den Raum hinausschob. Nun drängten wir uns in der Mitte der fünf Schritt weiten Kammer aneinander und löschten einer nach dem anderen unsere Lampen. Ein friedliches, milchiges, völlig gleichmäßiges Licht erfüllte die Kammer. Von irgendwoher schien ein leiser Summton zu kommen, aber das konnte auch auf Einbildung beruhen.

Als die Verwandlung zum Abschluss gekommen schien, getrauten wir uns wieder, uns zu bewegen. Jeder flüsterte irgendwelche Laute der Überwältigung vor sich hin, aber keiner sprach ein vernehmliches Wort.

»Fragen Sie mich nicht, was das ist«, brach Rogers nach mehreren Minuten das Schweigen. »Wenn man keine Eingabe vornimmt, verschwindet nach einer Viertelstunde alles wieder in der Wand.«

»Was für Eingaben?«, stammelte Legrand.

»Sieht es nicht aus wie ein Kommandostand, ein Kontrollraum, eine Kommunikationszentrale?«, fragte der Alte.

»Ich kann mir hundert Sachen ausdenken«, brummte Jennifer, »aber an nichts erinnert es mich wirklich.«

»Dies hier ...«, Rogers ging zu dem großen schwarzen Feld, das an einer Stelle freigeworden war, übrigens ziemlich genau gegenüber dem Eingang, durch den wir hereingekommen waren, »könnte das nicht eine Konsole sein?«

»Der Hauptbedienplatz«, sagte Lambert leise und blies Luft durch die Lippen.

Das schwarze Feld war etwa dreißig mal fünfzig Zentimeter groß. Es kam mir, als ich es jetzt genau betrachtete, so vor, als sei es nach der Enttarnung ein gutes Stück aus der Wand herausgefahren, über deren Niveau es jetzt um gut zehn Zentimeter hinausragte. Die glatte, aber völlig glanzlose Fläche war von zwei Reihen blauschwarzer Kästchen umgeben. Der Anblick des großen Rechtecks, in dem sich nichts spiegelte und auch das gerichtete Licht unserer Lampen keinerlei Reflexe hervorrief, war sonderbar beunruhigend.

»Ein Monitor«, sagte Jennifer unwillig, »klar.« Ihr war deutlich anzumerken, wie sie sich gegen alle vorschnellen Erklärungsversuche sträubte. Diese schien sie mit geradezu körperlichem Ekel von sich zu weisen.

»Ist doch nur so eine Idee«, meinte Rogers larmoyant und versuchte ihr beschwichtigend zuzugrinsen. Aber sie ging nicht darauf ein.

»Wenn wir«, fing Legrand jetzt in seiner langweiligen und umständlichen Art an, laut nachzudenken, »wenn wir einen Einblick in das Innenleben bekommen könnten ...«

»Ich habe keine Möglichkeit gefunden«, antwortete Rogers, »an den Mechanismus heranzukommen.«

»Keine Mutter, die man mit dem Vierkantschlüssel lösen könnte«, blaffte Jenny ungehalten.

Ich begriff nicht ganz, was sie daran so aufregte. Irgendwie mussten wir ja weiterkommen.

»Nicht überall im Universum müssen Schrauben rechtsdrehend sein«, sagte ich daher, um zu schlichten und das Ganze ein bisschen ins Lächerliche zu ziehen. »Es sind auch Welten denkbar, in denen Gewinde linksherum geschnitten werden.« Niemand hielt diese Äußerung einer Erwiderung für würdig.

»Glauben Sie, dass man die Verschalung öffnen könnte?«, wandte Legrand sich wieder an den Alten. »Um so etwas scheint es sich ja zu handeln.«

»Mit Gewalt meinen Sie?«, erkundigte sich Rogers.

»Das würde ich mir aber überlegen«, warf Lambert ein, die die ganze Zeit erstaunlich friedlich gewesen war.

»Wenn es nicht anders geht«, sagte Legrand. »Oder glaubt jemand, dass von dieser Apparatur eine Gefahr ausgeht oder dass die Geister ihrer Erbauer sich rächen könnten?«

Jenny warf mir einen hilfeflehenden Blick zu, war aber anscheinend entschlossen, nicht nochmals von sich aus Einspruch zu erheben.

»Es wäre mit Sicherheit«, versuchte ich mich salomonisch zu geben, »von großem Wert, wenn wir Einblick in die Funktionsweise dieser Mechanismen erhalten könnten. Aber vor Gewaltanwendung würde ich vorläufig noch zurückschrecken.«

Offensichtlich wurde diese Äußerung als generelles OK aufgefasst. Rogers und Legrand machten sich an einem der herausgefahrenen Felder zu schaffen. Jennifer schluckte irgendetwas herunter, das mich nichts anging, und beteiligte sich dann an der Inspektion. Wenig später schickten sie Jill ins Camp, um einige Werkzeuge zu holen. Ich ging mit ihr, um Joonas zu verständigen. Die beiden liefen wieder davon und verschwanden in der Termitenburg. Vielleicht konnten sie dort ja von Nutzen sein.

Ich blieb im Lager. Ich wollte die Experten bei ihrem Versuch, die blaue Kammer zu demontieren und irgendetwas in die Hände zu bekommen, was uns weitere Aufschlüsse ermöglichen konnte, nicht stören. Stattdessen holte ich mir einen selbsterhitzenden Kaffee aus dem Zelt und hockte mich damit auf einen der Klappstühle, die windschief und melancholisch im Geröll standen, umgeben von Gasflaschen, Pumpen, Werkzeug und Wasserkanistern. Der Kaffee in meinen Händen begann zu dampfen und wenig später zu kochen. Wir hatten herausgefunden, dass der Siedepunkt hier bei 82°C lag.

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