Ruinenwelt

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»Jones«, sagte ich zerstreut.

»Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst«, schmunzelte Jennifer im fahlen Gegenlicht. »Aber ich weiß auch, dass das deine Entscheidungen als Kommandant in der Regel nicht beeinflusst. Außerdem: wen hättest du jemals leiden können?«

»Ich kann dich leiden«, sagte ich wahrheitsgemäß, »und Rogers geht mir nur manchmal auf die Nerven. Was Jones betrifft ...«

»Er ist immerhin der Technische Ingenieur«, fiel sie mir ins Wort, was ich nur schwer verkrafte. »Vielleicht hätte er uns eher von Nutzen sein können als beispielsweise die arme Jill, die sich zudem hier draußen zu Tode ängstigt.«

»Ich werde morgen eine Rotation einführen«, erwiderte ich ungehalten. »Wir sind noch nicht in der Phase, in der uns Jones’ Ingenieurskünste besonders viel helfen können. Zunächst einmal müssen wir wissenschaftlich an die Sache herangehen.«

»Unser Auftrag lautet«, hielt Jennifer dagegen, die mir allmählich ein bisschen zu vorlaut wurde, »das Shuttle und seine Crew zu bergen und zur MARQUIS DE LAPLACE zurückzubringen.«

»Ich kenne meinen Marschbefehl«, brummte ich. »Wir müssen zu seiner Erfüllung die ENTHYMESIS wieder flott kriegen. Dazu«, fuhr ich rasch fort, ehe sie mir wieder dazwischengehen konnte, »müssen wir aber herausfinden, welche Kräfte sie lahmgelegt haben. Wir müssen, so gesehen, erst einmal Grundlagenforschung betreiben, ehe wir an die praktische Nutzanwendung gehen. Es ist unter diesem Aspekt zweifelhaft, ob wir unsere Zeit und unsere Ressourcen damit verplempern sollen, jede Wasserpumpe und jede Klospülung zu reparieren, solange wir nicht wissen, was hier unten los ist.«

»Aye, aye, Sir«, kicherte Jenny. »Du bist der Boss.« Sie drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Der kleine Scheinwerfer an ihrem Fußende modellierte jede ihrer Wimpern einzeln aus der blauen Dunkelheit.

»Im Übrigen ist das hier auch eine wissenschaftliche Mission ...« Ich war jetzt doch in Fahrt gekommen. »Die Prioritäten sind klar: das Überleben der beiden Teams sichern, die Rückkehr zum Mutterschiff ermöglichen, und drittens den wissenschaftlichen Ertrag der Exkursion mehren.« Ich gähnte und spannte die einzelnen Muskelgruppen an.

»Ich könnte sogar«, phantasierte ich noch, »die Prioritäten ändern. In Rogers hätte ich vermutlich einen starken Verbündeten dafür. In letzter Instanz ist die wissenschaftliche Exploration wichtiger als unser Überleben, sofern wir nur eine Möglichkeit finden, unsere Forschungsergebnisse noch ans Mutterschiff zu übermitteln.«

Kapitel 4

Jennifer langte nach der Helmlampe und schaltete sie aus. Dabei ließ sie das Licht noch ein paarmal aufflackern. »Wir können sie ja morsen«, sagte sie.

»Da bräuchten wir schon einen etwas stärkeren Scheinwerfer.« Ich ging aber bereitwillig auf jeden Vorschlag ein. »Die Bugflammer der ENTHYMESIS vielleicht. Wenn wir sie in Betrieb nehmen könnten. Allerdings stünde hier, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, der Aufwand kaum in einem vertretbaren Verhältnis zum erwartbaren Ergebnis.« Ich drehte mich auf meine gute Seite und bettete den Kopf in die Armbeuge.

»Wir müssen uns einfach darauf verlassen«, nuschelte ich noch, »dass die da oben auch ein bisschen mitdenken.«

Jennifer antwortete nicht mehr. Ich hörte noch, wie sie sich auf ihrer Matte hin und her warf. Dann wurde es still. Das Zelt ächzte und knarrte. Fünfzig Meter entfernt standen seltsame schwarze Gesteinsformationen. Ich glitt in einen unruhigen Schlaf hinüber, in dem ich von hohlen kariösen Zähnen und finsteren Drachenburgen träumte.

Irgendetwas beugte sich über mich, etwas Dunkles, Unidentifizierbares, Furchteinflößendes. Es berührte fast mein Gesicht, als es die Zähne fletschte und mir ein unverständliches Kauderwelsch entgegenknurrte. Ich winselte vor Angst, war aber unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Hatte man mich gefesselt, oder war ich gelähmt? Steif wie ein Brett lag ich da, während die fremdartige Kreatur sich an meinem Hals zu schaffen machte. Ich wünschte mir so sehr, dass es nur ein Traum wäre und dass ich daraus erwachen könnte, aber es war real. Nur begriff ich meinen ohnmächtigen Zustand nicht. Was hatten sie mit mir getan? Von irgendwo, als dröhnte es aus der innersten Tiefe dieses Planeten herauf, war ein gleichmäßiges mahlendes Donnern zu hören. Es erschütterte den Erdboden, als stampften riesige Maschinen in unterirdischen Fabriken vor sich hin. Etwas berührte meinen Hals, meine Wange, mein Ohr. Etwas Haariges strich aufdringlich über mein Gesicht. Der dumpfe Rhythmus schien sich zu beschleunigen. Welche Mächte waren da zugange? Ich hörte meine eigenen Schreie, aber fern, außer mir, als kämen sie von weit her und nicht aus meiner Brust. Ich wollte mich befreien, wollte um mich schlagen, das pelzige Ding an meinem Kinn loswerden. Aber es war unmöglich, auch nur ein Glied meines Körpers, ein Augenlid zu rühren. Das unterirdische Stampfen wurde stärker. Es durchdrang mich bei jedem Schlag, als wolle es mir von unten her das Rückgrat brechen und die Brust zermalmen. Und jetzt war etwas Feuchtes an meiner Stirn und wischte mir über das Gesicht. Irgendwo brüllte jemand...

Mit einem Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte, fuhr ich hoch und rang nach Luft. Diffuses Licht erfüllte das Zelt. Neben mir, am Rand meiner Liege, saß Jennifer und strich mir das schweißnasse Haar aus der Stirn.

»Erzähle mir bloß nicht, was du geträumt hast«, sagte sie.

Ich setzte mich auf und versuchte mich zu beruhigen. Mein Herz schmetterte in meiner Brust, als hätte ich eine sportliche Höchstleistung hinter mir. Als wollte es mir die Rippen zerschlagen.

»Du hast dich fast mit deinem Schlafsack stranguliert«, erklärte Jenny. »Kein Wunder, dass du schlecht schläfst.«

Sie half mir, den Reißverschluss zu öffnen, was gar nicht so einfach war, denn ich hatte den Schlafsack in der Längsrichtung zweimal um mich herumgedrillt. Ich stieg heraus. Auch mein Unterzeug war schweiß-durchtränkt. Ich gab zunächst nicht darauf acht, aber dann fiel mir ein, dass die Selbstregulierung der Wäsche nicht funktionierte. Also zog ich das Zeug aus und schlüpfte unmittelbar in den gepolsterten Schutzanzug. Das war zwar an einzelnen Stellen etwas unbequem, war aber im Moment nicht anders zu lösen. Auf der ENTHYMESIS würde Ersatz zu beschaffen sein. Immer noch war ich benommen und verwirrt. Als ich aufstand, schwindelte mir. Welch ein fürchterlicher Albtraum!

»Ich bin gekommen, um dich zu wecken«, sagte Jennifer. »Damit du dir das ansiehst.« Und ohne auf meinen derangierten Zustand Rücksicht zu nehmen, öffnete sie den pneumatischen Eingang und ging hinaus.

Ich schüttelte den Schlaf und seine Bilder von mir, die immer noch wie ein pelziger Gegenstand auf meinem wächsernen Gesicht lagen, und trat dann ebenfalls ins Freie. Das ganze Team stand wortlos beieinander und betrachtete den südöstlichen Horizont. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und sah es mir an.

Der Himmel war heller als während der Nacht. Einige magentafarbene Schleierwolken kräuselten sich im Zenit. Das Gestein schien zu glühen. Die Bergspitzen, die den Krater in weitem Rund umstanden, warfen violetten Schatten über die Ebene. Jenseits der schroffen Felsspitzen ging eben die erloschene Sonne auf. Wie bei einer fortwährenden Sonnenfinsternis wurde die schwarze Iris von den strengen Wimpern der heliumfarbenen Corona umspielt. Die feinen unstofflichen Bögen, die linsenförmig um das Zentrum gekrümmt waren, schimmerten in einem hellen opalisierenden Blau, wie die ätherischen Lider einer subtilen Gottheit. Sie umschlossen den toten Stern, einen anthrazitfarbenen Ball, der an die unbeleuchtete Seite des Halbmondes in einer lichten Sommernacht erinnerte. Obwohl die zerstörte Sonne keine Wärme mehr aussandte, emittierte ihre abgestoßene Gashülle doch genügend Licht, um die fremdartige und leblose Landschaft, in der wir uns befanden, zu verzaubern. Über Kilometer hinweg konnte das Auge jetzt jeden Stein unterscheiden, der klar und plastisch, wie gemeißelt, in dem unwirklichen, diffusen, blauvioletten Licht dalag. Langsam schob sich das Auge höher, als luge ein missmutiger Riese über den gezackten Horizont, ein einäugiger Gigant glotzte in die Caldera herein, ein geblendeter Polyphem. Die Plasmabögen spannten sich nicht völlig waagerecht um das Zentrum aus. Der rechte wies um einige Grad verkippt in die Höhe, während der linke noch am nördlichen Himmelssaum zu kleben schien. Der Anblick war verstörend und zugleich von gewaltiger Schönheit. Es war die Schönheit einer Ruine, die Pracht der Zerstörung, das Gleißen einer gefrorenen Explosion.

Wir standen lange, schweigend und in großen Abständen zueinander, als könne schon eine Berührung den Eindruck vernichten. Das Geröll, das zwischen unseren Füßen glühte, schien aus der Tiefe seiner Schwärze heraus plutonische Farben zu versprühen. Erst als das tote Auge schon mehr als eine Handbreit über dem zerfurchten Horizont aufgestiegen war, gingen wir langsam, einer nach dem anderen, still und nachdenklich, als hätten wir einer feierlichen Aufführung beigewohnt oder seien Zeugen einer bewegenden Messe gewesen, in das große Kuppelzelt, um uns zu stärken und den Tagesablauf zu besprechen.

»Man wird uns inzwischen mit den Satelliten fotografiert haben«, sagte Rogers und sog mit lautem Schlürfen seinen selbstwärmenden Porridge ein. »Sie sehen, dass die ENTHYMESIS unversehrt ist, dass wir das Camp ausgebaut haben. Sie wissen, über welche Vorräte wir verfügen. Natürlich können sie nicht im Einzelnen rekonstruieren, mit welchen Widrigkeiten wir hier zu kämpfen haben. Aber dass wir nicht wieder starten oder mit ihnen in KoÜberdrussntakt treten können, haben sie ja wohl gemerkt. Sie werden sich also hüten, auch noch ein drittes Schiff herunterzuschicken.«

 

»Sie meinen, wir sitzen hier fest?«, wimmerte Jill und vergaß vor Aufregung, an ihrem Kaffee zu nippen.

»Selbstverständlich sitzen wir hier fest«, sagte ich grob, »im Augenblick. Wir« – ich deutete auf die Mitglieder der ENTHYMESIS-Crew – »wären ja gar nicht erst hergekommen, wenn das Shuttle nicht von einer mysteriösen Kraft am Boden festgehalten würde.«

»Das ist alles kein Grund zur Besorgnis«, schaltete Jennifer sich ein und verdarb mir den ganzen Spaß. »Wir können ohne Weiteres ein halbes Jahr hier unten überleben. Danach müssen wir uns allerdings etwas einfallen lassen.«

Lambert verzerrte ihr Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse und starrte in ihren Becher.

Nach dem Frühstück, das natürlich ausschließlich von den ekligen, mir seit Jahrzehnten zum Überdruss bekannten selbsterhitzenden Mahlzeiten bestritten wurde, schickte ich Joonas zur ENTHYMESIS hinüber. Er sollte Jones ablösen und ihm soviel Wasser mitgeben, wie dieser tragen konnte. Außerdem gab ich ihm eine ganze Besorgungsliste mit, die Jennifer und Legrand in der Zwischenzeit erstellt hatten und die lauter vorsintflutliches Material enthielt, Schraubenschlüssel, Zangen, ordinären Kupferdraht und immer so fort. Er salutierte und marschierte über das Geröll davon. Wir übrigen machten uns an die Erkundungen der Termitenburg.

»Glauben Sie nicht, Sir, dass wir einige Vorsichtsmaßnahmen treffen sollten?«, fing Jill wieder an, als wir das Camp verließen. Sie hatte als einzige ihren Helm aufgesetzt und nestelte nervös an ihrer Offizierspistole.

»Dr. Rogers hat sich das alles schon mehrfach angesehen«, versuchte Legrand sie zu beruhigen.

Ich schüttelte nur den Kopf. Jenny hatte mir mit einer Geste zu verstehen gegeben, dass ich die Klappe halten sollte. Obwohl mir die wirren Traumbilder noch vor dem geistigen Auge standen, erwartete ich eigentlich überhaupt nichts von der Inspektion. Vulkano-plutonitische Dingsbumse, irgendwelches Bergarbeiter-Latein, hinter dem sich schwarze Steine verbargen, graue Steine, braune Steine, rote Steine. Wenn die Planetologen und Xeno-Geologen aus dem Häuschen gerieten, war es meistens ganz besonders langweilig, bestenfalls ekelhaft und hässlich, Lavaschorf, der aus den offenen Wunden der Weltkörper brach. Darin ähnelten sie ein bisschen den Chirurgen und ihren nichtssagenden und widerlichen Gesprächen: Was für ein herrliches Geschwür!

Wir gingen auf die schwarzen Türme zu. Der höchste ragte etwa fünfzehn Meter über der flachen Ebene auf. Wie seine niedrigeren Nachbarn war er seiner Spitze beraubt und offensichtlich hohl. Die Wandstärke schien nur einige Dezimeter zu betragen. Der Durchmesser des Hohlraum an der Basis maß vielleicht fünf Meter. Die anderen Türme waren kleiner, wiesen aber ähnliche Proportionen auf. Sie bildeten ein längliches, leicht halbkreisförmig eingekrümmtes Feld. Zwischen den Sockeln lagen Gesteinstrümmer herum. Ich hatte solche vulkanischen Formationen schon an mehreren Stellen auf der Erde und auf mindestens einem halben Dutzend weiterer Planeten gesehen. Im Grunde hätte ich gleich umkehren sollen.

»Ein bisschen gruselig ist es ja schon«, flüsterte Jennifer gerade, und verstärkte damit nur meine Entschlossenheit, hier nichts Weltbewegendes zu finden; – selbst wenn kleine grüne Schleimmonster mich plötzlich anspringen würden.

»Plutonische Gänge«, formulierte ich ad hoc eine erste These, »in Abfolge mit lockeren Ascheschichten aufgebaut und später freigewittert. Ähnliches gibt es auf Hawaii, in der Cascade Range, auf Proxima Centauri III ...«

»Sie hätten ein guter Geomorphologe werden können«, sagte Rogers, der zwei Schritte vor mir durchs Geröll stolperte. »Aber leider liegen Sie hier vollkommen falsch!«

Ich verstummte und trottete hinter den anderen her. Wir waren ja auch schon so gut wie da. Der Gruppe um die höchsten Schlote vorgelagert befand sich eine niedrigere Formation, die so flach und unscheinbar war, dass sie selbst aus der geringen Entfernung, in der unser Camp errichtet war, kaum auszumachen war. Sie schien aber die Hauptsache zu sein, zumindest entnahm ich das der Art, wie Rogers nun direkt darauf zusteuerte. Es handelte sich um einen kreisrunden Block – prima vista schien er jedenfalls massiv zu sein -, der etwa fünf Meter im Durchmesser hatte und brusthoch in der Landschaft stand. Gewissermaßen das Fundament eines nicht mehr vorhandenen Turms, bzw. – ich versuchte das Ganze auf meine vulkanische Hypothese umzurechnen – ein verfüllter Lavagang, der aufgrund des Druckes in der Magmakammer...

Ich kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen. Rogers war ein wenig um den runden Felsklotz herumgegangen. Dort klaffte eine Öffnung in dem glatten schwarzen Gestein, während gleichzeitig das umliegende Geröll deutlich absank. Der Durchbruch war, vom Boden gerechnet, nur etwa kniehoch, aber da sich an derselben Stelle das Niveau der Umgebung vertiefte, entstand so etwas wie ein abwärts gerichteter spiralförmiger Gang, den Rogers ohne Weiteres hinunterschritt, um sich schließlich, wo diese ihm nur noch bis zur Brust reichte, in die Öffnung hineinzudrücken.

»Ich bleibe draußen«, sagte Lambert schrill. »Jemand muss das Gelände sichern.«

»Sie tun, was man Ihnen sagt«, herrschte ich sie an.

»Wir gehen alle gemeinsam hinein«, schlug Jennifer vor, obwohl auch ihre Stimme ein wenig brüchig klang. »Was immer wir dort drinnen zu sehen bekommen werden, es wird gut sein, wenn wir möglichst viele Zeugen haben.«

Legrand war im Gefolge des Chefplanetologen schon verschwunden. Jenny schob Jill vor sich her, die am ganzen Leib zitterte. Dann duckte auch ich mich durch die erstaunlich ebenmäßige Felsspalte und tauchte in den Hohlraum ein. Anfangs erkannte ich überhaupt nichts. Das Team stand dicht beieinander. Irgendwo wurde mit Taschenlampen hantiert, deren Lichtkegel mir abwechselnd ins Gesicht schienen und mich blendeten oder wieder hinter vorgehaltener Hand abgedunkelt wurden. Es war noch einige Schritte abwärts gegangen. Mir schien, dass ich aufrecht stehen konnte. Von den Echos unserer Geräusche her schienen wir uns in einer Kammer von wenigen Metern Durchmesser zu befinden. Ich musste einen Moment der Klaustrophobie niederkämpfen, als wir fünf uns in der Enge vorwärtsschubsten. Endlich gelang es, mit einigen abgeblendeten Lampen für Beleuchtung zu sorgen. Wir traten auseinander. Das Erstaunen kam nicht sofort. Das wirklich Überraschende braucht eine Weile, um ins Bewusstsein zu dringen. Dann ist es umso verstörender. Wir befanden uns in einem kreisrunden Raum von mindestens fünf Metern Durchmesser und circa drei Metern Höhe. Er wirkte größer, als der Block, der ihn barg, von außen hatte vermuten lassen. Aber diesen Effekt kennt jeder, der einmal ein leerstehendes Einfamilienhaus besichtigt hat.

Die Wände waren glatt und von einem gleichmäßigen tiefen, unter Licht schimmernd reflektierenden Blau, ebenso die Decke und der Boden, sogar die Stufen, über die wir hereingekommen waren. Ja, es waren Stufen, wenn auch von hereingerutschtem Geröll bedeckt, und es war ein Raum, worin wir uns befanden, keine Höhle. Womit seine Wände bekleidet waren, ließ sich schwer sagen, aber es waren völlig regelmäßige Strukturen, rechteckig und glatt, wie Kacheln, und von einer künstlichen Farbe überzogen, wie Lack oder Emaille. Es konnte etwas von der Art gebrannter Ziegel sein, wie die blauen Kacheln an den großen Moscheen in Samarkand...

»Aber das ist ja ein Artefakt«, stieß ich hervor und starrte Rogers fassungslos ins Gesicht. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Behaupten Sie nicht«, gab der Alte zurück, »dass ich sie nicht angefleht hätte, es sich anzusehen!«

»Sie hätten uns ja ein Wort sagen können«, fauchte nun auch Jennifer, die schon gewohnheitsmäßig auf meiner Seite war.

Aber Rogers grinste nur wie ein stolzer Familienvater, dem dieses Jahr zu Weihnachten eine ganze besondere Überraschung gelungen ist. Er musste auch gar nichts sagen, ich begriff jetzt seine Begeisterung. Dutzende fremder Welten hatten wir gemeinsam für die Menschheit in Besitz genommen. Einige Male hatten wir auch Phänomene angetroffen, die man im allerweitesten Sinne als belebt bezeichnen konnte, – wenn sie auch in sämtlichen Fällen nicht entfernt das erfüllten, was wir auf der Erde als Definition von Lebewesen hätten gelten lassen. Für einen Wimpernschlag sah ich die seltsamen Eiswesen von Thule vor mir, zur spontanen Bewegung befähigte Gletscher, die ein primitives Gefäß- und Verdauungssystem aufwiesen. Oder die Kolosse, denen wir auf Lento begegnet waren, grobschlächtige Kerle von den Dimensionen eines Bergmassivs, die mehrere Wochen unserer Zeit benötigten, eine einfache Bewegung auszuführen. Auf anderen Welten hatten wir manchmal eine primitive Fauna von Bakterien oder harmlose Mikrofloren gefunden. Aber nichts, da hatte Rogers recht, was schon auf den ersten Blick der Intelligenz und Kunstfertigkeit entsprach, von der diese Kammer Zeugnis ablegte. Ganz gleichgültig, was wir noch herausfinden würden.

»Seht euch das an«, sagte Legrand aufgeregt.

Er untersuchte mit der Lampe in der Hand die blauen Kacheln aus der Nähe. Wir scharten uns um ihn. Tatsächlich waren die Segmente der Wandbekleidung nicht so glatt und einheitlich, wie sie sich dem ersten Blick darstellten. Feine Linien und geometrische Zeichnungen bedeckten die handgroßen rechteckigen Flächen. Rote, gelbe, schwarze Striche und Strukturen waren der Grundierung aufgeprägt. Ich überließ mich ganz meinen Assoziationen und fand, dass sie wie Leiterbahnen aussahen. Wie vergrößerte Abbilder von elektronischen Bauteilen. Wenn es auch wahrscheinlich war, dass da unsere gestrigen Diskussionen meine Wahrnehmung beeinflussten.

»Das sind keine Kacheln«, stellte Legrand fest.

»Eher Bedienfelder«, stimmte ich ihm zu und war selbst über diesen plötzlichen Einfall überrascht.

»Das habe ich mir auch schon überlegt«, sagte Rogers jetzt, aus seinem feisten Schweigen erwachend. »Es könnte eine Art Kontrollzentrum sein, findet ihr nicht?«

Wir starrten die ebenmäßigen blauen Segmente an. Im unruhigen tanzenden Licht unserer Lampen schienen Reflexe und Leuchtpunkte an den linearen Strukturen hin und her zu huschen. Oder waren es nicht doch selbstleuchtende Anzeigen? Messinstrumente und Konsolen eines fremdartigen Mechanismus? Irgendetwas stimmte nicht. Wieder drängten sich die düsteren Traumbilder in mein Bewusstsein.

»Ich habe Angst«, hauchte Jill mit bebender Stimme.

»Das hast du immer«, entfuhr es mir, was mir einen vernichtenden Blick Jennifers eintrug.

Aber wirklich, auch ich fühlte mich unwohl. Lag es an der stickigen dumpfen Enge in dem dunklen Raum, in dem wir zusammengepfercht waren?

»Sie alle haben Angst«, sagte Rogers jetzt sonor, »auch mir geht es so.«

Ich versuchte im ersten Moment, diese Wahrheit zu verdrängen. Wieviele fremde Planeten hatte ich betreten? Natürlich ist immer ein flaues Gefühl dabei. Darüber und über die klaustrophobische Situation hinaus war wenig dingfest zu machen. Den Rest an flimmernder Nervosität, an unterschwelligem Fluchtreflex wollte ich mir mit der charakteristischen Beklemmung oder gar Depression erklären, die auf eine Phase der Anspannung und Aufgeregtheit folgt. Wir alle waren mit angehaltenem Atem hier hineingekommen, und nun, da wir feststellten, dass es hier drin nichts zu fürchten gab, schlug die Entspannung unbewusst in ein neuerliches und sogar verstärktes Gefühl der Gefährdung um. Aber auch das war es nicht. Ich bemerkte, dass ich unruhig wurde. Der Schweiß brach mir aus, mein Puls beschleunigte sich. Ich wollte nur noch hier weg. Gleichzeitig spürte ich einen fast unbezwingbaren Druck auf der Blase. Verdammt, ich musste mich zusammenreißen!

Halb gelähmt von dem unerklärlichen Entsetzen und meiner Anstrengung, es nicht überhandnehmen und in Panik münden zu lassen, sah ich verständnislos zu, wie Rogers ein Blatt Papier von seinem Notizblock riss, es flach auf den Boden legte und ein wenig Staub darauf streute, der zur Genüge vorhanden war. Mit unguten Gefühlen verfolgten wir, wie sich der Staub zu einer spiegelsymmetrischen geometrischen Figur anordnete. Sie sah aus wie ein großer Schmetterling.

»Infraschall«, sagte der Alte feierlich. »Irgendwo befindet sich eine Vibrationsquelle, ob natürlichen oder artifiziellen Ursprungs, bleibt noch herauszufinden, die diesen Raum mit Infraschall durchdringt. Wir können ihn nicht hören, aber er beeinflußt unseren Organismus und löst unmittelbar Angst aus.«

Legrand atmete auf. Ihm schien das als Erklärung zu genügen. Jill drängte sich nur noch dichter an Jennifer, die wie eine große Schwester den Arm um sie legte. Sie zog die Stirn kraus und sah mich aus großen, angstvoll geweiteten Augen an.

 

Ich versuchte, diese neue Information in die Situation einzugliedern. Meine Angst war physikalisch erklärbar. Es gab also keinen Grund, sich ihr zu überlassen. Daran ernüchterte mich sofort die Schwäche dieser bewussten Einsicht. Der rasende Puls, der Schweiß, der mir inzwischen in dicken Bächen den Rücken herunterlief, der Drang, die anderen aus dem Weg zu stoßen und ins Freie zu rennen, verschwanden nicht im Geringsten. Man darf Angst haben, fiel mir der Spruch eines Ausbilders ein, man darf sie nur nicht überhandnehmen und sein Handeln bestimmen lassen. Das war leichter gesagt als getan. Ich atmete tief durch und zwang mich, mich zu konzentrieren. Irgendetwas stimmte immer noch nicht. Und wieder war Jill einen Sekundenbruchteil schneller als ich.

»Wir wissen aber nicht«, heulte sie, das fleckige Gesicht voller Tränen und Rotz, »wer diese Apparatur ersonnen hat und wozu. Bestimmt soll sie Eindringlinge abwehren.« Der Intellekt kam den malträtierten Eingeweiden, aus denen die kreatürliche Angst aufstieg, zu Hilfe und ersann Gegengründe gegen die dargebotene Erklärung.

»Dass diese – Stimmung künstlich erzeugt ist«, sagte jetzt auch Jennifer mit mühsam beherrschter Stimme, »heisst ja nicht, dass es nicht doch auch einen rationalen Grund zur Vorsicht gibt.«

Noch anders, überlegte ich. Die Eingeweide beeinflussten und steuerten den Intellekt, der sich gefälligst Gründe überlegen sollte, weshalb sie doch wieder recht hatten.

»Selbstverständlich wissen wir noch nichts über Erbauer, Funktionsweise oder Zweck dieses Gebäudes«, nickte Rogers, der seinen Stoizismus mit sichtlichem Vergnügen zur Schau trug.

»Vielleicht«, überlegte Legrand, grün im Gesicht und ebenfalls unter deutlichen inneren Kämpfen, »entspricht diese Beschallung im Kleinen dem Störfeld im Großen, das den ganzen Planeten abschirmt.«

»Können wir das nicht draußen bereden?«, schniefte Jill und machte sich von Jennifer los.

»Niemand handelt ohne meinen ausdrücklichen Befehl«, schnauzte ich sie an, die wimmernd in Jennys Arm zurücksank. Sonderbarerweise ging es mir danach tatsächlich besser. Die Angst war fast vollkommen verschwunden. Ein schwacher Rest war ganz in den Hintergrund meines Bewusstseins abgesunken. Ich zwinkerte den anderen vergnügt zu.

»Lambert hat recht«, sagte ich generös, obwohl ich sah, dass Rogers einen Einwand auf der Zunge hatte. »Besprechen wir das an der frischen Luft. Diese« – ich musste selbstherrlich schmunzeln – »Location scheint mir wenig geeignet zu einer ruhigen und sachlichen Erörterung, auch wenn sie selbst deren Gegenstand darstellt.« Ich zwinkerte den Frauen zum Zeichen, dass sie jetzt gehen konnten, zu. Legrand folgte ihnen rasch. Ich harrte mit dem Alten noch einige Augenblicke aus.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, erklärte ich. »Das ist schon jetzt die bedeutendste Entdeckung seit dem Beginn der interstellaren Explorationen.«

Er strahlte mich wortlos an. Zwischen uns lag das Blatt Papier auf dem Boden. Die Graphik darauf war immer noch filigraner und verästelter geworden. Das erste Kunstwerk von 3Alpha-X. Rogers hob es auf und schüttelte den Staub ab. Dann gingen wir hinaus.

Auch ich atmete auf, als ich wieder im Freien war. Ich will es nicht leugnen. Gemessen schritt ich von einem zum anderen. Ich klopfte Legrand auf die Schulter, als hätten wir gemeinsam einen besonders schweren Gang hinter uns. Fragend musterte ich Jennifer. Aber meine Erste Pilotin nickte mir beruhigend zu und lächelte tapfer. Dann tätschelte ich begütigend Lamberts Arm, die mir einen schniefenden Es-geht-schon-Blick zuwarf.

Nennen wir es das Großer-Bruder-Syndrom. Es gibt einen psychologischen Schwellenwert, an dem in einer gemeinsamen Gefahrensituation die eigene Angst paradoxerweise dadurch verschwindet, dass man begreift, dass man für die anderen verantwortlich ist. Man stellt sich selbst und die eigenen Gefühle zurück und betrachtet die Situation rationaler und objektiver, als es einem möglich wäre, wenn man sich allein zurechtfinden müsste. Sonderbarerweise ist es leichter, wenn man für die anderen mitdenken muss, und dreimal angenehmer, als wenn man sich von diesen anstecken und vereinnahmen lassen, einer Gruppendynamik, einem Herdentrieb, einer Massenpanik anheim fallen würde. Ich fühlte mich plötzlich richtig gut und marschierte vergnügt durch mein kleines Team, um mich nach dem Befinden meiner Leute zu erkundigen, bis Jennifer mich anraunzte, ich solle nicht so herumstolzieren. Wir kehrten vorläufig ins Camp zurück.

Kapitel 5

Ich ließ mich auf einen der Klappstühle fallen, die erratisch im Geröll herumstanden, und versuchte mir über das klar zu werden, was wir gesehen hatten. Im Südosten schaute das tote Auge starr über die Randberge. Die rechte Hälfte der Plasmawolke ragte asymmetrisch in die Höhe, als ziehe die erloschene Sonne fragend die Augenbraue hoch. Von der ENTHYMESIS kam jemand über die Ebene, ein Astronaut im weißen Anzug. Er schob einen Hover vor sich her, der mit Material beladen war, und kam gut voran. Als er sich unserem Camp näherte, erkannte ich, dass es Joonas Jyväläinen war. Sein blondes Dressman-Haar wurde vom Wind fotogen durchgestylt. Im Model-Gesicht mit dem kantigen Kinn und dem unintelligenten Ausdruck schwamm Ratlosigkeit. Ich stand auf, um seine Meldung entgegenzunehmen. Er baute sich vor mir auf, nachdem er den Hover abseits geschoben und abgelassen hatte, salutierte zackig und begann stotternd zu berichten.

»Jones, Sir«, haspelte er. »Er weigert sich, den Explorer zu verlassen.«

»Was heißt, er weigert sich?«, fragte ich.

»Er ...«, Joonas überlegte. Anscheinend kam er zu dem Entschluss, sich mit Aussagen, die militärgerichtlich verwendbar sein könnten, zurückzuhalten. »Er war eigentlich gar nicht ansprechbar«, fuhr er langsamer fort. »Er nahm mich kaum zur Kenntnis und reagierte auch nicht, als ich ihm Ihren Befehl überstellte. Stattdessen fluchte und brüllte er vor sich hin. Ich habe nicht sehr viel davon verstanden.«

»Haben Sie ihm meine Anordnung, den Schichtdienst betreffend, dargelegt?« Das wurde ja immer schöner. Wir waren vierundzwanzig Stunden auf dem Boden dieses Planeten, und schon gab es die ersten Fälle von offener Meuterei.

»Wie gesagt, Sir«, wand Jyväläinen sich. »Er hörte mir gar nicht zu. Der Technische Ingenieur schien mir geistig ein wenig verwirrt und überarbeitet. Er war von Kopf bis Fuß mit Öl verschmiert und redete unzusammenhängendes Zeug.«

Ich sah ihn nur an und wartete darauf, dass er fortfuhr. Ich sagte kein Wort und verzog keine Miene, achtete auch darauf, nicht die kleinste Handbewegung oder verharmlosende Geste zu beschreiben. Das ist eine ziemlich fiese Taktik, die man uns auf der Führungsakademie beigebracht hat. Vor allem unsicheren Charakteren kann man damit das Rückgrat brechen.

»Ffffhhh«, Joonas rang nach Luft. »Die ENTHYMESIS ist übrigens in gutem Zustand«, fiel ihm dann noch ein. »Die Elevatoren funktionieren wieder, ebenso die automatischen Schotten. Das ganze Schiff hat Licht, Wasser und Elektrizität.«

Ich starrte ihn an.

»Commander Norton, Sir ...« Er quälte sich. »Ich schwöre, ich habe ihn mehrfach aufgefordert, mir zuzuhören. Aber er schrie nur unverständliches Zeugs vor sich hin. Ich verstand etwas von Turbinen und Photonengeneratoren und Elementarzündern, die nicht brennen wollten ...«

»Sind Ihnen die Vorschriften im Zusammenhang mit Befehlsverweigerung vertraut?«, brach ich jetzt mein Schweigen.