Planetenschleuder

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jennifer musste meine Gedanken gelesen haben, oder die gleichen Stichworte hatten bei ihr ähnliche Erinnerungen freigesetzt: Jedenfalls lächelte sie mir von ihrem Platz an Laertes' Seite zu und deutete eine Kusshand an.

»Die Jahrzehnte«, war Rogers unterdessen fortgefahren, »die man damals als unzumutbar lang empfunden hatte, sind mittlerweile abgelaufen; wir könnten jetzt über die Technologie verfügen, die man damals zu entwickeln für unnötig gehalten hat.«

»Nichts vergeht schneller als die Zeit«, sagte Laertes.

»Das ist wahr«, gurrte Svetlana, deren weißrussischer Akzent verführerisch rollte. Sie war auf Wiszewskys Knie geklettert und saß nun wie ein Schulmädchen in seinem Schoß, während sie liebevoll sein ergrautes Haupt tätschelte.

Wiszewsky, der es selbst bei geheimen Sitzungen ablehnte, auf die Gegenwart der Komarowa zu verzichten, räusperte sich und ergriff zur Ablenkung das Wort.

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Herren, handelt es sich bei diesem, bei besagtem Theorem um ein künstliches Verfahren, nicht um ein natürliches Phänomen.«

»Das ist vollkommen richtig, Sir«, beeilte Rogers sich zu sagen.

Reynolds wiegte nachdenklich den Kopf.

»Jedenfalls«, wandte er ein, »ist es bisher nicht möglich gewesen, das Auftreten von Annihilationsphänomenen in der Natur nachzuweisen.«

»Was wohl auf dasselbe hinausläuft«, versuchte Frankel sich rasch zu profilieren.

»Behalten Sie Ihre Haarspaltereien für sich«, fuhr der Commodore fort. »Falls es sich bei dem von uns beobachteten und erlittenen Vorgang also tatsächlich um ein solches Phänomen gehandelt haben sollte, müsste es von jemandem herbeigeführt worden sein.«

»Korrekt«, bellte Rogers, »und Sie können gleich hinzufügen, dass kein Mitglied der Union über eine solche Technologie verfügt.«

»Stehen wir also vor der Frage«, schloss Wiszewsky und fuhr den Zeigefinger aus, »wer steckt dann dahinter?«

Laertes nickte dem Kommandanten anerkennend zu. Vermutlich richtete sich dieser Zuspruch vor allem auf die saubere und schnörkellose Durchführung des Syllogismus, als dass damit schon die Freude über ein Ergebnis verbunden gewesen wäre. Aber es war doch zur Kenntnis zu nehmen, dass Wiszewsky sich ermannen und demonstrieren konnte, dass er logischen Denkens fähig war.

»Dann war es tatsächlich ein Beschuss«, kreischte Jill auf, als sie den Vortrag zu Ende gehört und verdaut hatte.

»Genau, mein Kind«, sagte Dr. Rogers finster. »Und es gibt nur eine Macht in der Galaxis, der die technischen Ressourcen zuzutrauen sind und die auch über die Perfidie verfügt, sie einzusetzen.«

Die Atmosphäre im Messeraum gefror. Das freundliche Weiß seiner Wände wurde fahl und eisig. Wie wenn Nebel sich über einen Gletscher schiebt, wurde das Licht zugleich matter und greller; es löste alle Konturen auf. Wir hörten die Klimatisierung summen wie einen einsamen Wind, der über eine Ebene streicht. In den Elastanverkleidungen knackten die Feldgeneratoren wie sprödes Eis.

»Sie sprechen«, haspelte Lambert mit zitterndem Stimmchen, »von den Sinesern?«

»Ich wäre vorsichtig mit solchen Anschuldigungen«, kam Jennifer einer Antwort Dr. Rogers' zuvor. Ihre Stimme war hart. »Seit der Schlacht von Persephone lebt die unierte Menschheit mit ihnen im Frieden, der im Vertrag von Lombok ...«

»Erzählen Sie mir nichts von Persephone«, donnerte Rogers, der in letzten Sekunden dunkelrot geworden war. »Dieser Stillhaltefrieden, der ihnen unter dem Eindruck unseres militärischen Triumphes bei Persephone, an dem ich nicht ganz unbeteiligt war, abgetrotzt wurde, existiert für sie nur auf dem Papier, das sie genauso missachten wie alle anderen menschlichen Institutionen auch. Wer die Sineser kennt, und ich behaupte sie zu kennen, weiß, dass sie keine Sekunde zögern würden, diesen Vertrag zu brechen und ihre Schmach ungeschehen zu machen, wenn ihnen die Mittel dazu in Hand gegeben wären.«

»Und Sie glauben«, fragte ich, »dass sie nun über solche Mittel verfügen?«

»Der Verdacht drängt sich einem auf«, tobte er mit ungebremstem Zynismus.

Jennifer hatte sich wieder erhoben. Ich wusste, wenn es sie nicht mehr in ihrem Sessel hielt, wurde es gefährlich. Auch ließ sie sich von Rogers' aufbrausendem Temperament nicht nur nicht einschüchtern, sondern gerne provozieren.

»Bis jetzt haben wir keinerlei Anhaltspunkte«, sagte sie. »Nur eine improvisierte physikalische Hypothese, ohne jede wissenschaftliche oder politische Stichhaltigkeit.«

»Bringen Sie mich nicht in Rage«, keuchte der Chefplanetologe und Sieger von Persephone, dem man ansah, dass dies bereits geschehen war. »Und verschonen Sie mich mit einer Politik, die die Schuld daran trägt, dass wir heute mit leeren Händen vor dieser Herausforderung stehen.«

Jennifer baute sich breitbeinig vor ihm auf, die Hände in die schlanken Hüften gestützt, den Kopf in den Nacken geworfen, und funkelte ihn an.

»Wir haben keinen Beweis«, sagte sie standhaft, »keine Stellungnahme ...«

»Warten Sie auf ein Bekennerschreiben?!«, brüllte Rogers. »Da kenne ich die Halunken aber besser.«

»Dr. Rogers«, versuchte Wiszewsky jetzt glücklicherweise zu schlichten, »Major, ich bitte Sie.«

Die beiden Kampfhähne ließen voneinander ab. Jennifer warf sich herum, dass ihr Pferdeschwanz waagerecht um ihre Schultern flog, und kam zu mir herübergestapft. Plötzlich nahm sie die Rolle der Komarowa ein und ließ sich auf der Armlehne meines Sessels nieder, um sich schmollend an mich zu schmiegen. Ich legte den Arm um sie.

»Gehen wir«, fuhr der Commodore fort, »einmal davon aus, dass es sich wirklich um ein Annihilationsereignis handelt, dass es sich um eine Technologie handelt, die das Phänomen ausgelöst hat, dass die Sineser oder eine andere Macht im Besitz dieser Technologie sind und dass sie entschlossen sind, sie gegen uns einzusetzen ...«

»Das sind gewaltige viele Annahmen«, nörgelte Laertes.

»Was, frage ich Sie, können wir ihr entgegensetzen?«

Laertes sah pfiffig vor sich hin, sagte aber nichts. Er schien sich an der philosophisch unhaltbaren Kette von Voraussetzungen zu weiden, die jeden logischen Schluss zu einer Absurdität verkommen ließen. Frankel und Rogers schwiegen vor sich hin, ebenso Jill, von der man nur ein ängstliches Wimmern hörte. Jennifer hing schniefend an meiner Schulter, während Svetlana unbeteiligt Wiszewskys Haupthaar zupfte. Der Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE sah hilfesuchend von einem zum anderen. Seine Miene spiegelte rasch wechselnd Ratlosigkeit, Zorn, Verzweiflung und Resignation.

Endlich erlöste Reynolds uns von der Marter. Er sah nicht von seinen Händen auf, in denen er ein sehr interessantes unsichtbares Objekt zu wenden schien, und seine Stimme klang in der angestrengten Stille brüchig und irgendwie verloren.

»Nichts«, sagte er, »überhaupt nichts.«

Kapitel 3. Der Thronsturz

Das Leben an Bord eines großen Schiffes richtet sich streng nach der Borduhr, die in Jahrtausenden nicht eine Nanosekunde abweicht; so kommt es, dass man, im Gegensatz zu den lächerlich kurzen Entfernungen terrestrischer Reisen, bei interstellaren Expeditionen niemals einem Jet Lag ausgesetzt ist. Außerdem ist die Atmosphäre an Bord exakt kontrolliert und reguliert, sodass man vor Vollmond oder plötzlichen Wetterumschwüngen verschont bleibt. Das Leben ist sehr viel tiefer in seinem Rhythmus eingefahren. Essens- und Schlafenszeiten sind jahraus, jahrein auf die Minute genau dieselben, das gilt auch während der Explorer-Einsätze, solange nicht etwas Unvorhergesehenes eintritt. Das alles führt dazu, dass man an Bord eines so großen Schiffes wie der MARQUIS DE LAPLACE wesentlich tiefer schläft. Und umso irritierender ist es, wenn man doch einmal aus dem Tiefschlaf geweckt werden sollte.

Dies geschah an diesem Morgen um 3.15 Uhr Bordzeit.

Jennifer war schon aus dem Bett gesprungen, während ich langsam zu mir kam und mich mühselig aufrappelte. Wie eine Indianerin auf dem Kriegspfad war sie im Augenblick hellwach und Herrin ihrer überscharfen Sinne. Sie schlüpfte in ihre Uniform, die an einem sensoriellen Haken aus der Wand gefahren kam. Die Alarmsirenen schrillten. Ich fasste mir an den Kopf, tastete die Form meines schmerzenden Schädels ab und versuchte mir darüber klar zu werden, dass dies kein bestialischer Traum war, sondern gemeine Realität. Mein Körper war ein Sack voll durcheinandergeworfener Knochen, die sich zu keinem Ganzen ordnen wollten. Ich richtete mich stöhnend auf und nuschelte etwas vor mich hin, von dem ich selbst nicht wusste, was es hätte heißen sollen. Vermutlich war es nichts anderes als ein schlaftrunkener Fluch.

»Alarm aus«, befahl Jennifer der Automatik. »Wir sind wach. Polarisation aufheben!«

Die selbstverdunkelnde Scheibe hellte sich auf und ließ den endlosen Sternenraum durchscheinen. Indem ich aufstand und nach meiner Hose suchte, erhaschte ich den Anblick der dunkelblauen Sichel des Neptun, der im rechten unteren Eck unseres Panorama-Ausschnitts schwebte. Die Aussicht schien friedlich. Der Kosmos glänzte in unpersönlichem Schweigen. Schräg über uns hob sich ein einzelner Stern leicht von der flimmernden Lichtflut ab; das mochte die Sonne sein.

Die Sirene verebbte, aber das markerschütternde Heulen klingelte noch lange in den Ohren nach. Ich zappelte mich in meine Uniformjacke und klickte mechanisch die Knöpfe zu.

Alarmstufe I, blinkte unsere Konsole.

Jennifer hatte ihr Haar gebündelt und mit einem Elastilband zusammengefasst. Jetzt öffnete sie einen Kanal.

»Ash an Brücke«, rief sie in den Kommunikator, »was ist los?!«

Die Antwort kam ohne die geringste Verzögerung.

 

»Feindliches Objekt im Anflug!«

Das war Rogers' Stimme.

Auf den Gängen hörten wir das Getrappel schlaftrunkener und aufgepeitschter Schritte. In weiter entfernten Sektoren glitten krachend die schweren Schotte zu. Vor dem Fenster tauchte die Endeavour auf, die seit einigen Tagen längsseits lag und nun ihren Abstand zum Mutterschiff vergrößerte. Mein Bewusstsein dröhnte. Was sollte das heißen, ein »feindliches« Objekt? Und wie lauteten unsere Befehle? Sollten wir die Enthymesis bemannen?

»Auf die Brücke«, sagte Jennifer und rannte mit leicht federnden Sprüngen an mir vorbei. Als wir auf den Gang hinaustraten, erlosch auch dort gerade die Sirene, während das pulsende orangerote Licht andauerte. Ich fragte mich wieder einmal, warum man in Alarmsituationen die Leute zusätzlich konfus machen musste. Der schmale Gang, der aus dem Wohntrakt der Angehörigen der fliegenden Crew direkt auf die Brücke führte, schien erfüllt zu taumeln. Schräg gegenüber öffnete sich die Tür von Jills Kabine. Mit zersträhntem Haar und blau unterlaufenen Augen strauchelte sie auf den Korridor hinaus.

»Wenn so der Urlaub aussieht«, fluchte sie, »möchte ich lieber wieder einen Einsatz fliegen.«

»Vielleicht bekommst du dazu gleich Gelegenheit«, rief Jennifer und rannte los.

Ich schob Jill an mir vorbei und lief dann hinter den beiden Frauen her. Hinter mir hörte ich ein lautes Gepolter, das von unterdrückten Flüchen begleitet wurde. Ich sah mich um und erkannte Reynolds, der auf den Gang hinausgestürzt kam. Irgendetwas stimmte mit seinem Gürtel nicht, und er versuchte im Laufen seine Schuhe anzuziehen, wodurch er sich in verrenkten Sätzen vorwärtsbewegte.

Wir kamen in die Concordia-Halle, wo die einzelnen Gänge aufeinandertrafen. Der große Vorplatz der Brücke war von hektischer Aktivität erfüllt. Bewaffnete Einheiten rannten in Vierer- und Achtergruppen zu ihren Positionen. Technisches Personal verteilte sich auf die Decks und Sektoren. Sanitätsstaffeln prüften ihr Equipment und hielten sich an den neuralgischen Punkten bereit. Ich sah einen schweren, zehn Meter langen Torpedo aus dem Arsenal der Planetarischen, der auf einem Schwebewagen zu den Backbordschächten gefahren wurde. Vor dem Eingang zur Brücke hatten doppelte Wachmannschaften Posten bezogen. Als wir auf sie zustürmten, salutierten sie und traten auseinander. Die grünlichen Scannerstrahlen blitzten, dann glitt die Tür auf und wir rannten hindurch.

»Was immer es ist«, schrie Rogers gerade, »schießen Sie es ab!«

Ein Sergeant der Sicherheitsmannschaft stand vor ihm stramm und blinzelte in dem menschlichen Orkan, der eine Armlänge vor seiner Nasenspitze tobte.

»Worauf warten Sie noch«, brüllte der General a.D., »das war ein Feuerbefehl!«

Der Sergeant nahm langsam die Hand von der Schläfe und sah Rogers unsicher an.

»Sir«, sagte er leise, »ich weiß nicht, ob es ...«

»Sie sollen nicht lamentieren, sondern handeln«, tobte der Texaner. Er war jetzt ein Lava spuckender Vulkan, dem sich nichts und niemand in den Weg stellen konnte. Das schien in diesem Augenblick auch der Gruppenführer einzusehen.

»Aye, aye«, bellte er und knallte zackig die Hacken zusammen. Dann nahm er den Kommunikator aus der Brusttasche und öffnete einen Kanal.

»Captain Feng«, hörten wir ihn rufen. »Sie haben Feuerbefehl! Bestätigen Sie: Feuerbefehl für Rohr I, II und III!«

Die MARQUIS DE LAPLACE verfügte als ziviles Schiff nur über eine kleine militärische Einheit, eine eher symbolische Schutztruppe, die bei interstellaren Einsätzen mitflog, um den Selbstschutz des Schiffes zu gewährleisten. Zur Zeit der Sinesischen Kriege hatte man sie aufgerüstet und ein Schlachtschiff aus ihr gemacht, das einen schweren Verband anführte und mit diesem vor Persephone obsiegt hatte. Aber seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lombok, mit dem die sinesischen Ambitionen eingedämmt schienen, hatte man sich wieder auf die Durchführung der zivilen Explorationen besonnen.

Das Schiff war unbewaffnet, wenn natürlich die Bastler von der Planetarischen einige Spielzeuge in ihren Arsenalen ausgetüftelt hatten, die auch einen Militär ins Schwärmen bringen konnten; Antimaterie-Torpedos etwa, die zur seismischen Erschütterung extrasolarer Systeme eingesetzt wurden. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Rogers gerade drei solcher Waffen zum Einsatz freigegeben hatte.

Wir hatten dem alten, vor sich hinschäumenden Haudegen nur aus respektvollem Abstand zugenickt und uns gehütet, ihm nahe zu kommen. Stattdessen nahmen wir vor dem großen Schirm Aufstellung. Wir erkannten das Symbol der MARQUIS DE LAPLACE und die Umlaufbahn, einen hohen exzentrischen Neptun-Orbit. Feine Linien markierten die geodätischen Quadranten und gaben so eine Vorstellung von den Abmessungen des angezeigten Ausschnitts. Von oben rechts näherte sich ein kleiner roter Pfeil, der direkt auf unsere Position zuhielt. Ich überschlug die Situation.

Die MARQUIS DE LAPLACE war nach wie vor manövrierunfähig. Der Triebwerksblock war wieder angekoppelt worden. Einige Techniker, die sich beim Abkoppeln zufällig in den menschenleeren Hallen der Segmente XI und XII befunden hatten, hatten die klobigen Reaktoren in Millimeterarbeit wieder an den amputierten Rumpf des Mutterschiffes herangesteuert und sie manuell angedockt, was eine handwerkliche Spitzenleistung war. Gestern Nachmittag waren sie wir Helden auf der Messe begrüßt und von Commodore Wiszewsky persönlich ausgezeichnet worden. Dennoch blieben die Reaktoren ausgeschaltet. Der instabile, zusammengeflickte Zustand unserer Automatik erlaubte es nicht, die hochkomplexen Plasmaspulen in Betrieb zu nehmen. Außerdem war unsere Hauptsteuerung nach wie vor schwer angeschlagen, sodass wir es nicht wagen konnten, das riesige Schiff zu manövrieren. Mit toten Triebwerken und halbleeren Tanks trieben wir im Schwerefeld des Neptun. Und jetzt raste also wieder ein unbekanntes Objekt, und scheinbar zielgerichtet, auf uns zu.

Ich trat an der Brüstung. Jenseits der riesigen Elastilkuppel, die die Brücke der MARQUIS DE LAPLACE überwölbte, dehnte sich der unbewegte Sternenraum. Drei magnesiumfarbene Lichtstrahlen blitzten auf, als die Torpedos hundert Decks unter uns abgefeuert wurden, und schossen als sich rasch abkühlende Punkte in den Raum hinaus.

»Torpedos abgefeuert«, hörte ich den Sergeanten schnarren. Rogers nickte ihm nur zu und starrte dann über ihn hinweg auf den großen Schirm.

»Sir«, führte der Mann noch an, »ich bitte Folgendes zu bedenken ...«

Ich begann seine Renitenz allmählich zu bewundern, wenn auch etwa so, wie man einen Seiltänzer oder Fassadenkletterer bewundert. Obwohl man niemals auf die Idee käme, sich selbst einem solchen Risiko auszusetzen, nötigt einem der Wahnsinn Respekt ab. Er schien tatsächlich einen Einwand vorbringen zu wollen.

»Ihre Meinung interessiert hier nicht«, brüllte Rogers und wischte ihn mit einer Handbewegung beiseite. »Sorgen Sie dafür, dass die Schächte augenblicklich wieder bestückt werden, und halten Sie sich für weitere Befehle bereit.«

Der Sergeant knickte zusammen und verkrümelte sich.

Die Torpedos waren jetzt schon viele Dutzend Kilometer entfernt und mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen. Ich begab mich wieder zum großen Schirm und nahm gewohnheitsmäßig, ganz als befänden wir uns auf der Brücke der Enthymesis, hinter Jennifer Aufstellung. Sie hatte sich über die Bedienfelder unter dem großen Schirm gebeugt und fragte dort Daten ab, die in sich überstürzender Eile einliefen. Dabei sprach sie sich halblaut mit Reynolds ab, der an einem Monitor neben ihr Platz genommen hatte.

Auf dem Schirm erkannte ich die drei grünen Lichtpunkte, die sich frontal dem roten Symbol entgegenwarfen, welches diagonal, über die ganze Breite der Anzeige hinweg, auf die MARQUIS DE LAPLACE zuhielt. Mir fiel auf, dass sie wesentlich langsamer waren. Daher versuchte ich, die Geschwindigkeit des unbekannten Objektes zu überschlagen, so weit sie sich von seiner Bewegung über die Quadrantengrenzen her ablesen ließ. Das Ergebnis, zu dem ich kam, schien mir unglaubwürdig. Irritiert studierte ich die Statuszeilen am rechten Rand des Schirms. Es musste sich um eine logarithmische Anzeige handeln, die den Raum in jedem Quadranten um jeweils eine weitere Zehnerpotenz gestaucht darstellte. Aber ich fand keinen Hinweis auf eine derartige Darstellung.

»Jennifer«, rief ich nervös, obwohl ich keine zwei Schritte hinter ihr stand, »wie ist denn der Maßstab ...?«

Sie sah nicht von ihrer Konsole auf, an der sie mit fliegenden Fingern Berechnungen durchführte.

»So, wie er angegeben ist«, gab sie mechanisch zurück.

Das konnte nicht sein! Irgendwo musste sich ein Fehler eingeschlichen haben. Hilfe suchend sah ich mich um. Auch Rogers stand steif auf seinem Kommandostand und starrte auf den Schirm. Frankel hatte neben ihm Position bezogen und ratterte leise irgendwelche Daten herunter, die er von einem Masterboard ablas.

»Verdammt«, entfuhr es mir, »wie schnell ist denn das Ding?!«

Jennifer murmelte eine Zahl zwischen den Zähnen, die mir utopisch vorkam. Ich schüttelte unwillig den Kopf.

»Und in weniger als zwei Minuten wird es einschlagen«, sagte Lambert mit gläserner Stimme. »Schon seine schiere Impulsenergie wird uns zerreißen.«

»Was heißt hier schon?«, fragte ich entgeistert.

Auch Rogers war auf seinem Gefechtsstand, der mich immer an die Schranke im Gerichtssaal erinnerte, aus seiner Versteinerung erwacht.

»Was ist das für ein Scheißding?!«, brüllte er.

»Ein Artefakt«, sagte Frankel jetzt laut. »Unzweifelhaft. Länge zwanzig Komma fünf Meter, Masse dreizehn Komma sieben Tonnen, Geschwindigkeit ...« Er stockte.

»Und es kommt direkt auf uns zu«, schloss Reynolds an seiner Stelle. »Kein natürliches Objekt kann eine solche Geschwindigkeit erreichen, selbst ein Komet im Aphel nicht.« Er blickte über die Schulter zu mir auf und ließ mich seine ratlose Miene sehen. »Und, wie ich hinzufügen darf, auch kein künstliches, das uns bekannt wäre.«

»Glauben Sie«, schluckte ich, »dass es einen Sprengkopf trägt?«

»Ausschließen können wir gar nichts«, entgegnete er eilig. »Aber Lambert hat recht: Angesichts dieser Impulsgeschwindigkeit ist das beinahe gleichgültig. Es wird uns auch so der Länge nach aufschlitzen wie ein scharfes Messer den Bauch eines Fisches.«

»So weit wird es nicht kommen«, hörten wir Rogers vor sich hinknurren, der gebannt das Rendezvous verfolgte, das sich am großen Schirm vorzubereiten schien. Ich spürte, wie eine Nervosität an der Schwelle zur Panik mich ergriff. So sieht man eine Lawine auf sich zukommen, wenn man begreift, dass man ihr nicht ausweichen kann.

Ich hatte den Einwand des Sergeanten nicht verstanden, aber ich konnte mir vorstellen, worauf er hinauslief. Die Drohnen, die die Planetarische verwendete, um Asteroiden oder kleinere Planeten in seismische Schwingungen zu versetzen, waren vergleichsweise grobe Arbeitsgeräte, ferngesteuerte Geologenhämmer sozusagen, die nicht unbedingt dazu geeignet waren, einen feinen Nagel in die Wand zu schlagen. Sie waren nicht schneller und ihre Treffgenauigkeit war nicht größer, als es nötig war, um von einem niedrigen Orbit die Oberfläche eines Planeten zu treffen, an einem beliebigen Punkt, wie man hinzufügen musste. Es war, als hätte man mit einem Boxhandschuh auf eine Mücke eingeschlagen, eine Mücke wohlgemerkt, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit vorbeigesaust kam.

»Serg!«, rief Rogers, der sich mit weißen Fäusten in die Brüstung krallte, »halten Sie sich bereit, gegebenenfalls sofort eine zweite Salve abzufeuern, falls« – seine Stimme klang ungewohnt kleinlaut –, »falls das hier schief gehen sollte.«

»Oh mein Gott«, winselte Jill.

Ich trat dichter an Jennifer heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann wurde es ganz still auf der Brücke. Gebannt starrten wir auf den Schirm und sahen mit an, wie die drei Torpedos auf den Fremdkörper zuhielten. Die drei Geraden, die die Ionenantriebe der Drohnen in den leeren Raum jenseits der Neptunbahn schrieben, wurden zu Vektoren, die sich in dem vorausberechneten Kollisionspunkt mit der Bahn der rätselhaften Sonde trafen. Atemlos verfolgten wir die lautlose Annäherung über tausende von Kilometern hinweg auf der schweigenden Matritze des Vakuums. Die letzten Sekunden vor dem tödlichen und rettenden Rendezvous.

Die drei grünen Lichtpfeile, die sich in einer Ausscherbewegung voneinander entfernt hatten, liefen aufeinander zu. Sie bildeten die Kanten einer sich rasch verjüngenden dreiseitigen Pyramide und vereinigten sich dann zu einer schlank ausgezogenen Speerspitze, die sich dem rätselhaften Eindringling entgegenstellte. Eine Phalanx von verheerender Zerstörungskraft, in deren Schutz wir uns dennoch nicht sicher fühlten. Die drei Punkte verschmolzen zu einem einzigen, der schnurgerade auf den entgegenkommenden zustrebte. Wir hielten die Luft an.

 

Dann blitzte die Megatonnenexplosion auf. Trotz der gewaltigen Entfernung, in der sich das Drama abspielte, war die blaue Lichtkugel, die sich vor uns im Raum entfaltete, sogar mit bloßen Augen auszumachen. Die Polarisation der Kuppel wurde selbsttätig verstärkt, sodass die Sterne über uns erloschen und die Detonation von der Farbe weißglühenden Stahls zu einem winzigen Punkt abgeschwächt wurde. Gleichzeitig raste eine Wand aus lärmendem Licht auf uns zu. Unwillkürlich duckten wir uns. Ein dunkles Stöhnen war zu hören, als die Feldgeneratoren der MARQUIS DE LAPLACE aufheulten.

Unsere Augen irrten über den großen Schirm, dessen Anzeige erloschen war. Die automatische Nachführung der optischen Kameras und der Radaraugen schweifte durch den Raum, der von einer verheerenden Druckfront aus Energie und ionisierten Partikeln durchzogen worden war. Es war, als kämen wir aus unseren Löchern gekrochen und sähen uns in einer Wüste um, über die gerade ein Orkan hinweggefegt war, nur dass die Wüste der leere Raum war und der Orkan eine Antimaterie-Katastrophe, stark genug, einen Planeten wie einen chinesischen Gong erzittern zu lassen.

Die Generatoren verstummten, die Polarisation der Kuppel hellte sich auf. Der unversehrte Sternenraum glänzte über uns.

»Schadensmeldung«, keuchte Rogers. Aber er kam nicht dazu, die einzelnen Stationen abzufragen.

Auf dem großen Schirm erschien wieder ein Bild. Es flackerte und war unscharf, als arbeitete die entsprechende Kamera an der äußersten Auflösungsgrenze. Wir sahen einen winzigen grauen Punkt, der vor dem verwischten Sternenhintergrund dahinzog. Im gleichen Augenblick begannen auch wieder Daten auf die verschiedenen Konsolen einzuprasseln. Reynolds stützte den Kopf in die Hand, als könne er irgendetwas nicht fassen. Frankel warf sein Masterboard auf eine Konsole, trat an die Brüstung und starrte wortlos in den Raum hinaus.

»Na wird's bald«, fluchte Rogers, »nennen Sie das Meldung machen?!«

»Sie ist noch da«, sagte Reynolds leise, »oder wieder. Keine Ahnung ...«

»Was soll denn das heißen«, fragte ich. Das Gefühl, in letzter Sekunde gerettet worden zu sein, sackte noch rascher in sich zusammen, als es sich nach dem Durchgang der Schockwelle hatte einstellen wollen.

Jennifer schuftete wir ein Berserker an ihrer Konsole.

»Die Sonde«, erklärte sie dann. »Sie setzt ihren Flug fort.«

»Wie ist das möglich?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern, dass ihr vorhin so eilig aufgebundener Pferdeschwanz sich wie eine brünette Woge brach und wieder über ihren Rücken flutete.

»Sie verschwand exakt im Rendezvouspunkt«, teilte sie uns ihre Beobachtungen mit, »und ging, irgendwie, entlang der Längsachse durch uns hindurch. Sie oder ihr Geist.«

»Und jetzt?«

»Genau null Komma neun Sekunden oder elfhundert Kilometer später«, sagte Jennifer, »tauchte sie hinter unserem Heck wieder auf.«

»Das begreife ich nicht«, hörte ich mich sagen. »Willst du andeuten, dass dieses Ding in einer Sekunde über tausendzweihundert Kilometer zurücklegt?«

Obwohl das den zuvor angestellten Geschwindigkeitsberechnungen entsprach, wollte ich die Zahl nicht glauben. Das wäre zwanzig schneller als unsere schnellsten Schiffe. Das Ding war unaufhaltsam, von der sonderbaren Durchtunnelung, die es an der Explosion und der MARQUIS DE LAPLACE vorbeigeführt hatte, ganz zu schweigen.

»Oder sein Geist«, wiederholte Jennifer matt. »Ich verstehe es nicht.«

Plötzlich stand Rogers neben uns. Er hatte sich so leise angeschlichen, dass ich zu Tode erschrak. Er beugte sich über Jennifer und fragte rasch einige zusätzliche Daten ab. Dabei schien er gegen seinen Willen fasziniert.

»Eine Warp-Sonde«, stellte er nach einer Weile fest. »Sie haben eine Warp-Sonde konstruiert.« Er pfiff leise durch die Zähne wie ein Schwebebillard-Spieler, der anerkennen muss, dass der Gegner einen unwiederholbar raffinierten Stoß angebracht hat. »Die verdammten Schweinehunde«, knurrte er tief in der Kehle.

»Das Ding ist unaufhaltsam«, sagte Reynolds nüchtern.

»Dagegen haben wir keine Chance?«, wimmerte Jill, die mit ängstlich geweiteten Augen um sich sah.

»Na mal langsam«, rief Rogers plötzlich aus und schlug mit der Faust in die flache Hand. In seinen geröteten Augen glitzerte ein Triumph, der mir im Augenblick nicht ganz nachvollziehbar war. »Obwohl mir die Technik staunenswert erscheint«, führte er aus, »einen Warptunnel bei diesen Geschwindigkeiten zu öffnen und durch ein Objekt, das ein Zehntel der Masse einer einzigen Warpspule hat, wir haben sie doch ausgetrickst!«

»Mit Verlaub«, sagte Frankel, ohne seinen Platz an der gekrümmten Elastilscheibe aufzugeben. »Warptechnik ist seit zwei Generationen Standard.«

»Bei großen Schiffen und auf interstellare Distanzen«, wandte Rogers ein, der in eine zunehmende Begeisterung geriet. »Dieses Ding hier hat einen Warptunnel geöffnet, der kaum mehr als 1000 Kilometer lang und nur rund eine Sekunde stabil war. Das ist eine neue Qualität.«

Er gerierte sich, als sei ihm selbst dieser Coup gelungen, und nicht einer fremdartigen Macht, von der wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum mehr wussten, als dass sie uns in Aggression begegnete.

»Und doch«, wiederholte der Ex-General, »wir haben sie bezwungen. Trotz der überlegenen Technik; sie konnten den Warptunnel nicht schnell genug wieder verlassen, um uns gefährlich werden zu können. Wir haben sie in den Hyperraum geschickt, und in diesem ist sie an uns vorbeigerauscht.«

Er klopfte sich selbst auf die Schulter und beglückwünschte sich zu diesem riskanten und gelungenen Manöver. Auf dem Schirm, der immer grober gerastert wurde, sah man die Sonde, die ihren Flug unbeeindruckt durch die Weiten des Raumes fortsetzte.

Für einige Sekunden schwiegen wir. Rogers kostete den unverhofften Rausch aus, in den ihn sein Sieg nach Punkten versetzte. Wir starrten auf den Schirm. Jill schnäuzte sich laut und umständlich die Nase. Ich bemerkte, dass der Sergeant einige Schritte auf uns zukam, bereit weitere Befehle entgegenzunehmen. Er wagte es nicht, Rogers anzusprechen. Allerdings war es bei der Geschwindigkeit, mit der die Sonde von uns fortraste, auch vollkommen töricht, ihr weitere Torpedos hinterherzuschicken. Genauso gut hätte man ein Düsenjet mit Gummibändern beschießen können.

Nach einer Weile räusperte sich Reynolds. Ich kannte diese linkische Art von ihm, sich Gehör zu verschaffen. Für gewöhnlich verhieß sie nichts Gutes. Wenn er sich auf der Brücke der Enthymesis so hören ließ, hatte er wieder eine ganz besonders schlechte Neuigkeit parat.

»Sir«, begann er zögernd. »Ich störe Ihre Freude nur ungern, aber ich vermag Ihren Optimismus leider nicht zu teilen.«

Rogers nahm ihn nicht wahr; das war die einfachste Methode eines Vorgesetzten, sich unliebsame Einwände von Untergebenen vom Hals zu halten.

»Sondern?«, fragte ich. »Machen Sie Meldung WO Reynolds.«

»Ich fürchte«, druckste er herum, »wir waren gar nicht das Ziel dieses Flugkörpers.«

Langsam, wie aus Trance erwachend, kehrte Rogers in die kalte fahle Gegenwart zurück.

»Was sagen Sie da, WO?«, herrschte er Reynolds an, der unwillkürlich zusammenzuckte.

»Die Sonde«, sagte er langsam, »setzt ihren Flug ohne Kurskorrekturen fort. Ihre Bahn zielte offensichtlich nicht auf uns.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?