Planetenschleuder

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In diesem Augenblick sprang die Beleuchtung des kilometerlangen Ganges auf ein fahles Rot um, und die Sirenen schrillten. Rogers hatte Alarmstufe I ausgelöst: »Schiff im Gefecht!« Wir hörten, wie in jedem Block die Feldgeneratoren aufheulten, als die Abschirmung auf 125 Prozent erhöht wurde. Ein Zittern lief durch den Corpus der MARQUIS DE LAPLACE, als die virtuellen Gyroskope die Trimmung verstärkten und das Schiff auf seiner Drift im Neptun-Orbit förmlich festnagelten. Ein alter Kreuzer hätte jetzt die Bugschilde ausgefahren und die Torpedoschächte geöffnet. Zu allem bereit! Es war zu spüren, wie die MARQUIS DE LAPLACE tief durchatmete, die Muskeln anspannte und sich dem stellte, was da auf sie zukam. Sie hatte einen Treffer einstecken müssen und war auf die Bretter gegangen, aber jetzt berappelte sie sich und besann sich ihrer Stärken.

»Drehen Sie das Schiff um 75 Grad um die Längsachse«, brüllte Jennifer. »Er soll uns nicht am Kiel treffen, sondern an Backbord.«

Sie musste schreien, da Sie den Kommunikator online auf die Automatik geschaltet hatte und ihn in der Hand hielt, um ständig die neuen Informationen von dem spielkartengroßen Display ablesen zu können.

»Wer kriegt schon gern einen Schlag in die Magengrube, wenn er ihn mit einem Ellenbogencheck abwehren kann!«

Und obwohl diese Metapher das Manöver, das sie plante, nicht ganz genau wiedergab, wusste ich plötzlich, was sie vorhatte. Es war ganz einfach! Wie alles Geniale war es so simpel, dass man sich fragte, warum man nicht selbst darauf gekommen war. Ich hätte sie küssen mögen, wie ich so neben ihr dahinrannte. Andererseits ging mir jetzt auf, war nur der Plan genial und einfach. Die Ausführung würde ziemlich schwierig werden, und es blieben uns dafür keine zehn Minuten mehr.

»Serviceschacht geöffnet«, hörte ich Rogers' verzerrte Stimme. »Die operativen Einheiten sind informiert. Viel Glück!«

Wir hatten das Ende des Ganges erreicht. Vor uns glitten die Türen der Schachtöffnung auseinander. Ein gelblich pulsierendes Licht fiel uns von dort entgegen. Als der Unterdruck mit sanftem Zischen entwich, bildete sich ein hellgelber Nebel, der theatralisch aus der offenen Tür wallte. Ohne auf die Kabine zu warten, sprang Jennifer in den senkrechten Schacht hinunter. Das Generatorfeld, das die künstliche Schwerkraft ersetzte, erfasste sie und ließ sie langsam nach unten schweben. Ich folgte ihr. In regelmäßigen Abständen, die die abgehenden Decks anzeigten, bänderten orangefarbene Reifen den Schacht, die im Rhythmus der Alarmsirenen aufglühten. Um die Schleusen spielten kleine Wölkchen aus Wasserdampf, die in dem unwirklichen Licht wie wattige Flammen um die Abzweigungen der horizontalen Gänge waberten. Ich sah hinauf, wo eben Jill Lambert in den Schacht gehechtet kam und langsam hinter uns herabschwebte. Dreißig oder vierzig Stockwerke über ihr war eine der automatischen Kabinen zu erkennen, die für gewöhnlich hier verkehrten, während es unter unseren Füßen um mehr als 100 Stockwerke senkrecht nach unten ging. Nur gut, dass wir als Mitglieder der fliegenden Crew daran gewöhnt waren, Begriffe wie oben und unten nicht allzu verbindlich zu nehmen. Wir spürten, dass das Schiff mit seiner Drehbewegung begonnen hatte. Da die stabilisierende Wirkung der virtuellen Gyroskope im Inneren des Serviceschachtes von den Feldgeneratoren überlagert wurde, wurden wir immer wieder leicht nach links abgedrängt. Das gewaltige Schiff rollte um uns herum, während wir uns gleichsam durch seine Hauptschlagader in die Herzkammer vorarbeiteten.

Jennifer hatte die Schleusenkammer erreicht, die uns zur Segmentkupplung führen musste. Sie wartete damit, die Schleuse zu betätigen, bis ich und Jill neben ihr aufgesetzt hatten.

»Reynolds«, brüllte sie in den dampfdurchzogenen Schacht hinauf. »Wo bleiben Sie denn?!«

Das Echo ihres Rufes hallte sekundenlang in der riesigen Hohlröhre wider. Dann kam unser WO mit einem Sprung, von dem schwer zu sagen war, ob er sich einem Stolpern oder einem beherzten Hechter verdankte, in den Schacht gestürzt. Jennifer betätigte die Schleuse und ließ sie in geöffneter Stellung einrasten.

Wir rannten in gestrecktem Lauf auf das Kleine Drohnendeck hinaus. Im ersten Sektor der Backbordseite erkannte ich eine mittelschwere EVA-Drohne, deren Triebwerke gerade heulend warmliefen. Dahinter glitt langsam und majestätisch das Hangartor nach oben und gab den Blick auf die nächtliche Leere des Raumes frei. Wir hielten auf das Shuttle zu, dessen Status Jennifer noch im Laufen über den tragbaren Kommunikator abfragte. Zwei Techniker standen davor. Als sie uns kommen sahen, nahmen sie Haltung an. Der kleinere von ihnen, ein schnauzbärtiger Corporal, salutierte.

»Dr. Rogers hat uns informiert«, bellte er. »Sie gehört Ihnen, alle Systeme arbeiten einwandfrei.« Er drückte mir das Masterboard in die Hand und knallte die Hacken zusammen. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Sir!«

Jennifer riss mir das Board aus der Hand und kletterte in die Kanzel. Während ich auf Reynolds wartete, warf ich einen skeptischen Blick durch das Hangartor in die Weiten des Alls diesseits der Neptunbahn hinaus. Obwohl nichts zu sehen war außer dem blassen Sternenhintergrund, der durch die Innenbeleuchtung des Decks abgeblendet wurde, quälte mich die Vorstellung, man müsse ganze Wolken von Asteroiden herantrudeln sehen.

Reynolds sah aus, als sei er mit einer ziemlich harten Bruchlandung in der Schleusenkammer aufgeschlagen. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er schüttelte den Kopf und zwängte sich an mir vorbei auf die Ladefläche der EVA.

»Alles in Ordnung«, stöhnte er.

Immerhin hatte er einen Großteil seines Rückstandes so wieder wettgemacht. Er musste sich in einem beherzten Sprung 30 Decks nach unten katapultiert haben.

Lambert hatte an Jennifers Seite Platz genommen. Jetzt drückte auch ich mich neben Reynolds auf einen der hinteren Sitze. Eigentlich waren die EVAs nur auf zwei Personen ausgelegt, die bei Außenarbeiten an der Hülle des Mutterschiffs zu tun hatten.

»Dann mal los«, rief ich zu den beiden Pilotinnen nach vorne. »Uns bleiben acht Minuten!«

Jennifer haute in Rekordzeit die Module rein und zog die Maschine hoch, während die Einstiegsluke noch gemächlich zuglitt und mit leisem Schmatzen einrastete. Die beiden Techniker waren zur Seite getreten und hatten die Hände an die Mützenschirme gelegt. Die Drohne stieg einige Meter an, senkte dann die Schnauze wie ein Kampfstier, der die Hörner nach unten nimmt, und schoss auf das geöffnete Hangartor zu. Während wir über die vorderen Sektoren des Kleinen Drohnendecks hinwegrasten, sah ich, wie überall Arbeiter und Mechaniker in ameisenhafter Geschäftigkeit dabei waren, Drohnen und Shuttles zu sichern, die Robotkräne aufprallsicher zu verankern und die Feldgeneratoren zu prüfen, die auf vollen Touren liefen, um die Abschirmung zu gewährleisten. Auch hier schrillten die Sirenen ihren markerschütternden Rhythmus durch die Halle, die im pulsend roten Licht zu wanken schien. Wachtrupps und Sanitätsstaffeln kamen aus den Schleusen geströmt wie Termiten aus einem Leck ihres ockerfarbenen Baus. Durchsagen, Kommandos und hupende Signale tönten durch den kilometerlangen Raum. Das Schiff bereitete sich auf eine gefährliche Prüfung vor, vielleicht sogar auf eine tödliche Verwundung, dennoch wirkte die tausendfache, bis ins Kleinste koordinierte Aktivität belebend. Angst und Unsicherheit fielen von mir ab, als wir im Tiefflug auf das schwarze Rechteck zurasten. An den Sternen, die jenseits des Hangartores sichtbar waren, konnte man die Drehbewegung ablesen, die die MARQUIS DE LAPLACE ausführte. Die Sterne schienen in einem beschleunigten Untergang über die Backbordseite wegzusacken. Plötzlich verzerrte ein Schlingern diese Bewegung. Das Schiff rollte.

»Achtung!«, kreischte Jill.

Das offene Tor war plötzlich um etliche Bogengrad nach unten gerutscht. Wir hielten direkt auf die obere Strebe zu, die das Tor zur Deckenkonstruktion hin begrenzte. Mit einem Fluch drückte Jennifer die Maschine nach unten und erhöhte den Schub, um die Unwucht aufzufangen, die durch die Eigenträgheit der Drohne hervorgerufen wurde. Wir wurden aus unseren Sitzen gehoben und zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Aus den Seitenfenstern sah ich, wie kreisförmige Druckwellen, die sich konzentrisch ausbreiteten, durch das ganze Deck liefen. Hundert Meter entfernt löste sich ein Shuttle aus seiner Verankerung und stürzte zur Seite, wobei es mehrere Arbeiter unter sich begrub. Ein Treibstofftank explodierte in einer blauen Pilzwolke, deren Donner durch die Halle rollte. Im gleichen Augenblick durchbrachen wir das Kraftfeld, das die Atmosphäre im Inneren des Schiffes hielt, und schossen in den schwarzen Raum hinaus.

»Was war das?«, fragte Jennifer konzentriert.

»Verflucht«, stöhnte Reynolds.

Ich wußte nicht, ob sich das auf den schweren Unfall bezog, dessen Zeuge wir gerade noch geworden waren, oder ob er sich beim Sturz durch den Serviceschacht nicht doch eine Verletzung zugezogen hatte.

Der Sternenraum lag ruhig und unbewegt vor uns. Milliarden Lichtpunkte standen regungslos im dichten schwarzen Samt. In der Ferne, auf einer Fünf-Uhr-Position, sah man die dunkelblaue Scheibe des Neptun. Zwei seiner Monde zogen als winzige felsgraue Sicheln vor dem riesigen nachtfarbenen Gasball dahin.

Jennifer stieg einige hundert Meter über die MARQUIS DE LAPLACE auf und zog die EVA dann herum, um auf die Längsachse des Mutterschiffes einzuschwenken. Wie immer, wenn ich mich längere Zeit nicht außerhalb des Schiffes befunden hatte, überwältigte mich der Anblick seines gewaltigen silberglänzenden, das Sternenlicht spiegelnden Titancorpus'. In den vielen Monaten, die wir während der letzten Warp-Passage auf der Rückreise vom Sirius-System an Bord verbracht hatten, war das Schiff uns eine Heimat geworden, dass wir seine Atmosphäre für so natürlich wie die irdische und seinen metallenen Boden für so festgegründet wie die Mutter Erde hielten. Erst jetzt wurde uns wieder bewusst, wie verloren und verletzlich unsere künstliche Heimat, ihren titanischen Dimensionen zum Trotz, war.

 

Allerdings hatten wir jetzt nicht die Zeit, weit genug in den Raum hinauszufliegen; wir hätten uns mehrere Kilometer von den silbernen Flanken des Schiffes entfernen müssen, um die MARQUIS DE LAPLACE in ihren ganzen majestätischen Ausmaßen, vom schlanken und eleganten Bug mit seiner konisch zulaufenden Schnauze, in der jetzt eine furchtbare Wunde klaffte, bis zum kilometerweit abgelegenen Heck mit seinen klobigen Reaktorblocks in den Blick bekommen zu können. In der geringen Höhe, in der wir über ihre Aufbauten, Segmentkammern und Ebenen aus Stahl hinwegglitten, konnten wir kaum die Abmessungen der jeweiligen Decks überblicken, deren verschachtelte Strukturen unter uns zurückfielen. In großer Geschwindigkeit zogen die Segmente VI und V, jedes mehrere Kilometer lang, unter uns dahin. Gewaltige Landschaften aus durchscheinenden Carbonglasfenstern, hinter denen man insektenhafte Aktivitäten ahnte, und weitläufigen Hochplateaus aus schimmerndem Titanstahl. Man hätte Tage gebraucht, um diese Schluchten und Gebirge aus poliertem Metall zu durchwandern, wenn man als Fußgänger auf ihnen gestrandet wäre, und doch war es nur ein Ausschnitt, der mittlere Teil des Rumpfes der fliegenden Stadt, die seit vielen Jahren die Heimat von zehntausend Menschen war.

Niemand an Bord der EVA sagte ein Wort. Schweigend sahen wir zu, wie Sektor nach Sektor unter uns dahinzog. Auch der offene Kanal, über den wir mit der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE verbunden waren, war verstummt. Dort hatte man anderes zu tun, als Konversation zu betreiben. Wir konnten nur hoffen, dass Rogers alles, was er für uns tun konnte, bereits in die Wege geleitet hatte, bis wir vor Ort eintrafen.

Wieder schien es, als ob ein Zittern über das Schiff hinlief. Es hatte seine Drehbewegung eingestellt und lag jetzt wieder ruhig auf seiner Bahn. Aus vereinzelten Vorsprüngen an den Außenpunkten der Segmente sahen wir die blauen Ionenstrahlen der Steuerdüsen, die die Lage des Schiffes im Orbit korrigieren sollten. Es schien ihnen allerdings nicht zu gelingen, seine Masse stabil zu halten. Wie ein leckgeschlagener und antriebsloser Tanker, der von den Brechern hin und her geworfen wird, dümpelte es in seiner unsichtbaren See aus Leere und Gravitation.

Auf einem stummen Videomonitor verfolgte ich die ersten Schadensmeldungen, die vom Kleinen Drohnendeck einliefen. Es hatte eine schwere Plasmaexplosion gegeben. Ein Shuttle war zerstört. Mindesten drei Techniker waren ums Leben gekommen. Was für Kräfte mochten das sein, die das Schiff so durchwalkten?

Endlich tauchte Segment IV unter uns auf, das Große Drohnendeck, dessen viermal acht riesige Hangartore bereits weit geöffnet waren. Mehrere Dutzend Drohnen, Shuttles und EVAs hatte man schon in Sicherheit gebracht und in einen Parkraum einige Kilometer jenseits des Bugs des MARQUIS DE LAPLACE zurückgenommen. Andere kleinere Fluggeräte, v.a. unbemannte Robotdrohnen, bewegten sich in entgegengesetzter Richtung, um sich unter das Heck des Schiffes zu flüchten. Man verteilte alles, was sich im Großen Drohnendeck befunden hatte und was nicht niet- und nagelfest war, auf zwei ungefährdete Positionen.

Gerade parkte die Enthymesis II aus und schob sich bei Kleiner Fahrt langsam rückwärts aus ihrem riesigen Hangar. Der Explorer war mächtig im Vergleich zu den winzigen Shuttles, die um ihn herumwimmelten, und klein im Vergleich zum langgestreckten Leib des MARQUIS DE LAPLACE, die sich nach vorwärts und rückwärts als silberflimmernde Ebene im Weltraum verlor. Wieder einmal fiel mir auf, wie bullig die Explorer waren. Kraftpakete, die es an Geschwindigkeit, Transportkapazität und Reichweite mit jedem anderen Schiff der Union, mit Ausnahme ihres eigenen Mutterschiffs, aufnehmen konnten. Sie waren die Arbeitspferde der interstellaren Explorationen, hässliche, grobschlächtige, quadratschädlige Monster, die aber bis jetzt noch jedem Sturm getrotzt hatten.

Meter um Meter schob sich die Enthymesis II unter uns aus ihrer weiträumigen Garage. Aus größerer Entfernung hätte es ausgesehen, als gehöre die MARQUIS DE LAPLACE der Klasse der Lebendgebärenden an, die aus ihrer Taille kleinere und größere Wesen ausstieß. Auf der Brücke, nur wenige Meter unter uns, erkannte ich Colonel Kurtz, der salopp die Hand an die Schläfe legte und grinsend salutierte. Ich konnte mir vorstellen, dass dies eine Aktion ganz nach dem Geschmack des alten Draufgängers war. Er hatte mehr Bruchlandungen gebaut und mehr Schiffe zu Schrott geflogen als alle anderen Mitglieder der fliegenden Crew zusammen. Trotzdem schaffte er es irgendwie, um alle Disziplinarmaßnahmen herumzukommen und als einer der besten Piloten der Union zu gelten. Hochdekoriert war er jedenfalls. Er brachte es fertig, für jede gescheiterte Mission eine weitere Auszeichnung zu erhalten. Ich grüßte zurück und nickte ihm feixend zu.

»Sag ihm lieber, er soll ein bisschen hinmachen«, schimpfte Jennifer. »Wir haben nämlich nur noch fünf Minuten!«

Dann riss sie die Maschine herum und gab vollen Schub. Wir flogen eine enggezogene Spirale und schossen unter den klobigen Stelzenfüßen des 300 Meter langen Explorers in den Hangar hinein. Jill atmete tief durch, als sie die Hände von der Konsole nahm. Jennifer hatte uns eines ihrer gefürchteten Manöver gezeigt. Jetzt übergab sie an die Automatik der EVA, ließ die Türen aufgleiten, an denen noch die Spannung des Generatorfeldes britzelte, legte mit lässiger Geste den Hebel um, der die Parksequenz der Drohne aktivierte, und sprang dann aus drei Metern Höhe auf die stählernen Planken des Großen Drohnendecks hinunter.

»Warum macht sie so etwas?«, keuchte Reynolds.

Wir warteten, bis die Drohne abgesunken war, und sprangen dann ebenfalls hinaus. Jennifer war schon an dem Technikertrupp vorbeigerannt, der an der vorderen Steuerbordstelze Aufstellung genommen hatte, um ihr das Schiff zu übergeben.

»Weil sie es eilig hat«, gab ich zurück.

Wir liefen unter der schwarzen Masse des Explorers hindurch. Es war zu hören, wie seine Systeme anliefen. Die Triebwerke strahlten bereits Hitze ab, die Korrekturdüsen glühten dunkelrot, die Leuchtsignale, die überall in die Stelzen und die Aufbauten eingelassen waren, sprangen flackernd an. Ohne stehen zu bleiben, nahm ich die Meldung des Leitenden Technikers ab.

»Hat sie genügend Sprit?«, rief ich dem Mann, einem blutjungen Officer, zu.

»Tausend Tonnen Plasma«, gab er zurück. »Wir hatten nur zwei Minuten, aber das Baby ist voll bis unters Dach.«

»Das werden wir jetzt nämlich brauchen«, rief ich und bedeutete dann ihm und seiner Crew, sich in Sicherheit zu bringen. Das Deck musste vollständig evakuiert werden. In drei Minuten durfte sich kein Mann und kein leerer Blechkanister mehr hier befinden.

Wir kletterten die Rampe hinauf und rannten den zentralen Korridor hinunter, der an der Messe vorbei zur Brücke führte. Hier waren wir zuhause. In völliger Finsternis, bei ausgeschalteter Schwerkraft und volltrunken hätte ich mich in diesen Gängen zurechtgefunden. Zusammengenommen hatten wir viele Jahre hier verbracht, davon die eine oder andere abenteuerliche Stunde, die uns innerhalb der Crew und mit dem Schiff untrennbar zusammengeschweißt hatte.

Jennifer saß schon auf ihrem angestammten Platz, dem gravimetrischen Sessel am Hautbedienplatz der Ersten Pilotin. Jill warf sich neben sie auf den Platz der Zweiten Pilotin und machte sich sofort an ihren Anzeigen zu schaffen, während Reynolds und ich unsere Plätze im rückwärtigen Bereich der Brücke einnahmen und die Gravitationsgurte unserer sensoriellen Sitze aktivierten. Der WO holte sich den Online-Abgleich mit dem Hauptrechner der MARQUIS DE LAPLACE auf den Schirm. Neben Jennifer hatte er die wichtigsten Aufgabe bei der bevorstehenden Millimeterarbeit.

»Quick Time Boot«, rief Jennifer der Automatik zu. »Nur primäre Systeme. Statusbericht kannst du dir sparen.«

Vertraute und anheimelnde Geräusche waren zu hören. Die Eingangsluken schlossen sich. Zischend entleerten sich die Schleusenkammern. Überall im Schiff glitten die Schotte zu und rasteten mit hartem metallischen Krachen ein. Das langsam ansteigende Brummen war zu hören, mit dem die Feldgeneratoren die Außenabschirmung aufbauten. Ein leichtes Vibrieren zeigte an, dass die Maschinen Leistung aufnahmen und bereit waren, die gewaltigen Kräfte zu entfalten, zu denen diese bulligen Ackergäule fähig waren.

»In Ordnung, Kinder«, sagte sie und schaute sich in der Runde um. »Drei Minuten ...«

Gewohnheitsmäßig gab ich ihr das GO!, und gewohnheitsmäßig nickte sie es lächelnd ab. Gut dass Rogers in diesem Augenblick nicht sehen konnte, wie wir die neuverteilten Hierarchien missachteten.

»Achtung«, stieß sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor – und das war gut so, denn wenn wir uns nicht festgehalten hätten, wären wir von den Gravitationsgurten stranguliert worden. In einer einzigen 500 Meter langen Ausscherbewegung jagte sie die Enthymesis rückwärts aus dem Hangar und in den Raum hinaus. Ich hielt die Luft an und versuchte meinen Magen unter Kontrolle zu behalten. Plötzlich lag wieder die Außenfront der MARQUIS DE LAPLACE vor uns. Zwei Hangars neben uns parkte gerade noch die Endeavour aus, ein wenig behutsamer, als wir das getan hatten. Das Große Drohnendeck war vollständig geräumt. Einige Serviceteams rannten noch zu den Ausgängen, sonst war niemand mehr zu sehen.

In einem salto mortale rückwärts warf Jennifer den Explorer über Kopf nach hinten, holte dann ein wenig aus und flog von der Unterseite her wieder die MARQUIS DE LAPLACE an. Sie steuerte auf Sicht, bremste erst in letzter Sekunde ab und suchte dann die Notfallkupplung der unteren Ausstiegsschleuse.

»Jennifer, Liebes«, sagte ich sanft. »Denk bitte daran, dass du jetzt einen Explorer fliegst und keine EVA mehr. Du hast 300 Meter hinter dir und 20 000 Tonnen, keine zwei Sitzreihen wie in einem Taxi ...«

»Bullshit!«

Sie spuckte das Wort verächtlich neben sich. Dann steuerte sie die Enthymesis manuell an die fünf Meter große halbkugelförmige Schleusenöffnung heran.

»Ankuppeln«, befahl sie und übergab an die Automatik.

Während sie die Hände von der Konsole nahm, sie im Nacken verschränkte und sich zurücklehnte, schob das Schiff sich selbsttätig die letzten paar Meter an den Nabel des Mutterschiffes heran, umfasste die Schleuse mit der Bugspange und ließ den tonnenschweren Stahlring einrasten. Ein hohles Knacken war zu hören, als die beiden Schiffe fest miteinander verbunden waren. Zischend wurde der Druckausgleich hergestellt. Auch die Kommunikation lief jetzt wieder über die Kontakte, die in die Schleusenkammer integriert waren.

»Okay, Reynolds«, sagte Jennifer, die sich mit einem Seitenblick zugleich der Hilfe Lamberts vergewisserte, »dann geben Sie mir mal den Kurs.«

Ich löste die Gravitationsgurte und stand auf. Am Handkommunikator öffnete ich einen Kanal.

»Rogers«, rief ich. »Wir wären so weit! Reichen Sie uns die Daten rüber!«

Nach einer Verzögerung, die mein Herz um einen Schlag aussetzen ließ, war der Ex-General in der Leitung.

»Wurde auch langsam Zeit«, brummte er. »Sie haben noch zwei Minuten zwanzig. Die Bahndaten sind unverändert. Die exakten Informationen spielt Frankel Ihnen in dieser Sekunde rüber.« Er hielt inne, aber es war zu spüren, dass er noch etwas sagen wollte. »Mh«, räusperte er sich dann, »ich bin zwar immer noch nicht überzeugt, dass das funktioniert, was Sie sich da ausgedacht haben, mhm, aber ...« er brachte den Satz nicht zuende.

Auf der Hauptleitung war Frankel zu hören, der den beiden Pilotinnen die Daten, die er ihnen gleichzeitig überspielte, erläuterte.

»So weit, so gut«, sagte er gerade. »Das ist unsere aktuelle Bahnprognose. Ich bitte sie mit Vorsicht zu genießen.«

»Woll'n mal sehen«, machte Jennifer und beugte sich über ihr Bedienfeld. »So wie er reinkommt, schlägt er in die 30er und 40er Decks. Da sind die Plasmatanks.«

Ich spürte, wie mein Zwerchfell sich verkrampfte. Daran hatten wir noch überhaupt nicht gedacht! Ein Treffer in die Tanks würde zu einer Megatonnen-Explosion führen, die von den mittleren Segmenten nur Strahlung übriglassen würde. War es nicht vernünftiger, abzukoppeln und sich in Sicherheit zu bringen? Aber Frankel war noch nicht fertig.

»Außerdem ist unser Deepfield nach wie vor auf einem Auge blind, was das räumliche Sehen bekanntlich einigermaßen erschwert.«

 

»Wie ist die Vorhersagegenauigkeit?«, fragte Jennifer.

»Plus, minus zehn Meter«, meldete Reynolds sich in ihrem Rücken zu Wort, »und das Ding trudelt wie ein Melkeimer, der eine holprige Wiese herunterrollt.«

»In Ordnung«, sagte Jennifer so ruhig, als ginge es um einen Dreisatz bei der Aufnahmeprüfung zur Akademie. »Heben wir das Baby also ein wenig an.«

»Rogers!«, schrie ich in den Kommunikator. »Sie müssen die Tanks abpumpen!«

Ich benutzte nur den Audiokanal, aber trotzdem sah ich sein verächtliches Grinsen vor mir, als er antwortete: »Damit haben wir schon begonnen, Commander.« Das letzte Wort dehnte er in einer Süffisanz, die mir fehl am Platze schien. »Allerdings dauert es noch eine Weile, bis die Containments leer sind. Sie können sich ja vorstellen, wieviel Plasma da oben lagert ...«

Wir saßen auf einer gewaltigen Bombe! Nein, wir waren unter ihrem Bauch festgepinnt. Rogers hatte recht gehabt: die Detonation, die es gleich geben würde, würde man noch auf der Erde sehen können.

Ich zwang mich, mich nicht von Panik überwältigen zu lassen.

»Dann blasen Sie das Zeug in den Orbit«, herrschte ich Rogers an. »Oder glauben Sie, dieses Risiko vertreten zu können?«

Quälende Sekunden schwieg der tote Kanal mich an. Vermutlich überlegte er, ob er auf diesen Tonfall reagieren sollte.

Ich atmete einige Male tief durch. Dann wandte ich mich an Jennifer, die gerade die Zündungssequenz für das Haupttriebwerk einleitete.

»Darling«, sagte ich mit bezähmter Unruhe. »Das ist Wahnsinn. Wir können die Bahn nicht genau genug berechnen, und du kannst das Manöver auch nicht schnell und präzise genug durchführen.«

Hatte ich ihr damit den letzten Stachel geliefert? Jedenfalls warf sie den Kopf in den Nacken, dass ihr Pferdeschwanz erregt zwischen ihren Schultern pendelte, und verschmolz sie mit ihrer Konsole.

»Das werden wir ja sehen!«

Dann gab sie vollen Schub.

Ich stand da und sah zu Reynolds hinüber, der mir von seinem Sessel aus einen besorgten Blick zuwarf. Ich nahm Platz, aktivierte den Monitor und verfolgte das Drama am Schirm.

Jennifer hatte Vollgas gegeben. Das Triebwerk lief auf 100 Prozent. Natürlich geschah überhaupt nichts. Fünf Sekunden vergingen, zehn, fünfzehn.

Die Haupttriebwerke der Enthymesis-Explorer sind baugleich mit denen der MARQUIS DE LAPLACE, nur dass das Mutterschiff über zwölf Reaktoren verfügt, während die Explorer sich jeweils mit einem begnügen müssen. Es sind Hochleistungsbrennkammern auf der Basis von Hydrogenplasma, die einen Schub im Megatonnenbereich erzeugen und ein Schiff von der Masse der Enthymesis auf eine Geschwindigkeit im unteren Promillebereich von c beschleunigen können.

»Major«, war Frankels Stimme in der Kommunikation zu hören. »Berücksichtigen Sie, dass das Schiff eine Eigenelastizität hat. Bei seitlichem Schub wird es in der Mitte nachgeben und sich biegen wie ein Schilfrohr im Sommerwind.«

Obwohl die Abschirmung auf vollen Touren lief, war der Donner des Triebwerks ohrenbetäubend. Starke Vibrationen erschütterten das Schiff, das sich verbissen in die stählerne Bauchseite der MARQUIS DE LAPLACE bohrte.

»Für unsere Belange vollkommen gleichgültig«, gab Jennifer zurück. »Hauptsache, das Baby kommt ein paar Meter in die Höhe.«

Ich starrte gebannt auf meinen Schirm. Dreißig Sekunden Brenndauer waren verstrichen. Im freien Flug hätte die Enthymesis jetzt schon auf mehrere tausend Stundenkilometer beschleunigt. So klebte sie an der gewaltigen Masse der MARQUIS DE LAPLACE, die sich um keinen Millimeter rührte.

»Bedenken Sie ebenfalls«, fing Frankel wieder an, »dass 80 Prozent der Schiffsmasse im Reaktorblock in den hinteren Segmenten liegen. Er wird wie ein Fixpunkt wirken; bestenfalls wird sich der Rest des Schiffes wie ein Türflügel in der Angel darum herumdrehen.«

Vierzig Sekunden. Uns blieben keine zwei Minuten mehr. Jennifer erhöhte den Schub auf hundertzehn Prozent.

»Dann lassen Sie«, fuhr sie Frankel an, »diese Erkenntnis in Ihre Berechnung einfließen, statt mir was vorzuquatschen!«

»Das geschieht bereits«, gab der Stellvertretende Leiter der Planetarischen ungerührt zurück. »Aber ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam, dass unsere Hauptsteuerung schwer angeschlagen ist.«

»Lecken Sie mich mit Ihrer Steuerung«, fluchte Jennifer.

Mit indigniertem Knacksen erlosch der Kanal. Jill hatte die Hände von ihrer Konsole genommen. Mit aufgerissenen Augen und zitternder Stimme wandte sie sich an die Erste Pilotin.

»Wir schaffen es nicht«, jammerte sie. »Sollen wir nicht doch lieber das Haupttriebwerk ...?«

»Sind denn alle wahnsinnig geworden?!«, tobte Jennifer. »Lassen Sie das Haupttriebwerk. Das hier ist Millimeterarbeit.«

»Eben«, ergriff Reynolds jetzt das Wort. »Bis jetzt haben wir aber noch nicht einen Millimeter gewonnen, nicht einen einzigen ...«

Ich starrte auf die Grafik. Der Pfeil der prognostizierten Bahn des Asteroiden zielte auf die mittleren Decks des Segments IV, mindestens 20 Meter über dem Großen Drohnendeck. Jennifer ließ ihren gravimetrischen Sessel herumwirbeln.

»Reynolds«, rief sie mit einem Ton in der Stimme, der mich frösteln ließ, »haben Sie nichts, was Sie mir geben können?«

Das Triebwerk brannte röhrend vor sich hin, aber es war, als hätten wir uns vorgenommen, einen Berg zur Seite zu schieben. Ob wir zu zweit, zu dritt oder zu viert die Ärmel hochkrempelten und Hand anlegten, war ganz einerlei.

»Ich könnte«, sagte Reynolds in seiner langsamen Art, »die Steuerdüsen der MARQUIS DE LAPLACE online auf Ihre Konsole legen und sie mit dem Triebwerk der Enthymesis zu synchronisieren versuchen. Das würde unseren Schub nur um wenige Prozent erhöhen, aber die Basis verbreitern, an der er ansetzt.«

»Warum haben Sie das nicht längst getan?«, herrschte sie ihn an.

Reynolds verschwand im Inneren seines Monitors.

»Das ist sehr riskant«, war Frankel jetzt wieder zu vernehmen. »Sie können die Düsen unmöglich manuell synchronisieren. Es sind mehrere tausend. Und wenn ihr Schub nicht abgestimmt ist, wird das Schiff anfangen zu rollen und dem Einschlag die verletzlichere Bauchseite bieten. Einen Treffer in die Flanke könnten wir vergleichsweise gut verkraften, aber die Konstruktion unserer Decks führt dazu ...«

Sein Satz wurde abgehakt wie eine Rinderzunge, die das Beil des Metzgers aus dem Kiefer löst. Jennifer hatte den Kanal geschlossen.

»Schwätzer«, sagte sie. »Seine Ausführungen haben mich schon längst gelangweilt.« Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Lambert, Reynolds, ich baue auf euch.«

Ich sah auf die Zeitanzeige. Wir waren jetzt unter einer Minute. Auf einer holographischen Projektion konnte ich die sekündlich aktualisierte Prognose des Aufschlagspunktes sehen, die in einem Radius von einigen Metern über der Backbordflanke der MARQUIS DE LAPLACE kreiste. Sie schien sogar leicht nach oben hin auszuwandern. Wenn darin ein Trend läge, wäre es vielleicht einfacher, die MARQUIS DE LAPLACE nach unten aus der Schussbahn zu ziehen, statt sie nach oben wegzuschieben. Aber eine Schubumkehr hätte weitere kostbare Zeit gekostet und das Triebwerk um 40 Prozent seiner Leistung reduziert.

Reynolds gab Jennifer das GO!

Plötzlich knackte der offene Kanal.

»Kümmern Sie sich nicht um Berechnungen und Instrumente«, sagte eine Stimme, die ruhig und erhaben im Raum zu schweben schien. »Vertrauen Sie einfach Ihrer Intuition, mein Kind.«