Persephone

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Kapitel 2. Kontakt

Die MARQUIS DE LAPLACE war in eine hohe Umlaufbahn um den Asteroiden mit der zwanzigstelligen Kennnummer eingeschwenkt. Es war kein Orbit, wie ein Mond oder Planet ihn ermöglicht hätte. Dazu war die Masse des Körpers zu gering. Streng genommen waren es synchronisierte Bahnen, die in leichter Resonanz zueinander standen. Immerhin war die Tonnage der MARQUIS DE LAPLACE, die abermals als größtes Schiff der Menschheit gelten durfte, ebenfalls nicht zu verachten. Die beiden Massen – der Asteroid und die MARQUIS DE LAPLACE – umkreisten einander, sie drehten sich um ihr gemeinsames Gravitationszentrum und schrieben dabei eine helixförmige Struktur, eine langgezogene, zweigleisige Schleife in die Raumzeit.

Der Kommandant hatte Wert darauf gelegt, einen gehörigen Sicherheitsabstand zu dem Fundort einzuhalten. Andererseits hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, das Artefakt (die Gruppe von Artefakten) an Bord zu nehmen. Einige seiner Wissenschaftler hatten ihm das allen Ernstes vorgeschlagen und ihm versichert, von den Fundstücken gehe keinerlei Gefahr aus. Als ob man das wissen könne! Es war ein Präzedenzfall. Derartiges war in der Geschichte der Raumfahrt bisher nicht vorgekommen. In der Geschichte der Menschheit! Aber da war eben die Frage: Hatte man es mit einer Spezies zu tun? Oder nicht doch mit etwas noch ganz anderem?

Die Begeisterung über den Kontakt als solchen hatte das Ersterkundungsteam seinerzeit gepackt wie eine Designerdroge. Die Leute waren kaum noch in der Lage, rational zu agieren und sich vernünftig und nachvollziehbar zu artikulieren. Als dann noch herauskam, auf was man da im einzelnen gestoßen war, kannte die Zutraulichkeit der gestandenen Wissenschaftler keine Grenzen mehr. Es war eine Art hysterischer Erleichterung. Ein vorauseilender Rausch. Die Wesen war nicht biologisch, das machte die Umständlichkeiten der Quarantäne unnötig. (Machte es das?) Sie waren ihrem äußerlichen Bauplan nach humanoid, was die Fremdheitsschwelle drastisch senkte und sie zu dankbaren Objekten der Untersuchung machte. (War das so?) Sie kooperierten und erlaubten Einblicke in ihre Funktionsweise und Sprache – Sie hatten eine Sprache! –, was ein Goldenes Zeitalter interstellarer Zusammenarbeit und profitablen Technologietransfer in Aussicht stellte. (Tat es das?)

Alexander Wiszewsky stand am großen Panoramafenster der Backbordseite seiner Brücke und sah in den Raum hinaus, wo der namenlose Asteroid, dessen Kennziffer Generationen von Schülern würden auswendig lernen müssen, gerade noch als silbergrauer Lichtfleck auszumachen war. Ein stumpfer Brillant, ein körniger Brocken Sein in den Ozeanen des Nichts. Auf der Kommandoebene der MARQUIS DE LAPLACE herrschte konzentrierte Stille. Die Mission stand prinzipiell unter der Leitung der Planetarischen Abteilung. Aber natürlich liefen sämtliche Daten erst einmal hier auf. Direktor Dirk Schleuner, der amtierende Chef der Planetarischen, und Vizeadmiralin Doina Gobaidin studierten schweigend ihre holografischen Konsolen. Schleuner, hochgewachsen, mit graumeliertem Haar, hatte die Angewohnheit, ungefähr zweimal pro Minute in die Luft zu sehen und laut und vernehmlich zu seufzen. Wenn man ihn nicht kannte, konnte man meinen, er trage einen unerhörten seelischen Ballast mit sich herum. Aber es war einfach nur seine Art, sich angestrengt mit geistigen Problemen zu befassen.

Die Gobaidin strahlte die finstere Unnahbarkeit aus, die ihr Markenzeichen geworden war, seit sie erfahren hatte, dass nicht sie Kommandant Wheeler nachfolgen würde, sondern der deutlich jüngere und weniger erfahrene Wiszewsky. An Wheelers Seite hatte sie den Jungfernflug geleitet. Es gab Stimmen, die behaupteten, die eigentliche Verantwortung habe bei ihr gelegen, zumindest habe sie die meiste Arbeit gehabt. Als Wheeler, hochdekoriert und zweifelsohne als verdienter Held der Union in den Ruhestand gegangen war, rechnete alle Welt damit, dass sie ihn beerben werde, sie selbst natürlich auch. Aber es kam anders. Ohne diesen Schritt einer eigenen Begründung für würdig zu halten, verkündete die oberste Unionsführung – eine Clique unverheirateter Männer – bei der Vorstellung der nächsten Exkursion, dass diese unter dem Kommando eines gewissen Alexander Wiszewsky stehen werde, ebenfalls ein Veteran des Jungfernfluges und erfahrener Befehlshaber der Enthymesis-Flotte. Von nun an herrschte Eiszeit zwischen den beiden. Die Gobaidin war zu stolz, sich ein anderes Kommando geben zu lassen. Man hatte sie sogar mit Kusshand für eine Frühpensionsregelung vorgeschlagen. Aber auch das wies sie mit Empörung ab. Lieber blieb sie auf dem, was sie nonchalant als ihr Schiff bezeichnete, um dem grünen Jüngling, der Wiszewsky in ihren Augen war, noch das eine oder andere Jahr lang das Leben zur Hölle zu machen. Rein optisch schnitt sie schlecht neben dem hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Mann ab, der sogar während der Endphase der Fertigung dreieinhalb Jahre in die Hibernation gegangen war, um seinen Teint nicht zu sehr erschlaffen zu lassen. Die Gobaidin, deren Vorfahren vom Balkan stammten, war klein, von korpulenter Statur, ihre Haut war olivfarben, was die Gerüchte nährte, sie habe ein paar Schnipsel Zigeuner-DNS in ihrer Erbreihe – und nicht eben nur ein paar Schnipsel –, und ihr kurzes, haubenförmig drapiertes pechschwarzes Haar wirkte immer irgendwie ein bisschen fettig.

Wiszewskys Berufung, genauer gesagt: die Übergehung Doina Gobaidins, hatte einen Proteststurm bei Frauenrechtlern und Minderheitenverbänden entfacht, dabei würde sie nie öffentlich zugeben, dass sie eine Roma war. Die Führung der Union hatte alle Vorwürfe kategorisch von sich gewiesen. Der Oberbefehl über ein Schiff wie die MARQUIS DE LAPLACE werde nicht nach äußerlichen Kriterien wie dem Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit vergeben, sondern einzig und allein nach dem der besten Tauglichkeit, und die vereine nun einmal Alexander Wiszewsky auf sich.

Auch in der Crew der MARQUIS DE LAPLACE, von denen die meisten ebenfalls auf das neue Flaggschiff gewechselt hatten, war die Personalie auf Unmut gestoßen. Die Vizeadmiralin war beliebt. Sie galt als unerhört fleißig und zudem als schon beinahe übermenschlich fair und gewissenhaft. Sie arbeitete angeblich vierundzwanzig Stunden am Tag und die halbe Nacht. Aber sie hatte immer ein offenes Ohr für die Belange ihrer Besatzungsmitglieder, die sich auch nicht scheuten, sie in privaten oder genierlichen Fragen zu behelligen. Während des Jungfernfluges hatte sie die ganze Drecksarbeit gemacht und insgesamt mehrere Jahre weniger in der Hibernation verbracht als selbst ihr einziger und direkter Vorgesetzter, Kommandant Wheeler. Das hatte sie mit einem nicht mehr ganz taufrischen Äußeren bezahlt. Allerdings konnte nicht die Rede davon sein, dass ihr Wille oder ihre Einsatzkraft gelitten hatten. Arbeitswütig wie eh und je war sie die erste, die bei Schichtbeginn die Brücke betrat, die letzte, die sie verließ, und das auch nur, um in ihr schlichtes Büro zu wechseln, wo sie, so hatte es den Anschein, rund um die Uhr die Fäden der Mission in Händen hielt und via Stabslog anzutreffen war. Seit Wiszewskys Berufung hatte ihr Eifer, der vormals leicht und unaufgeregt gewesen war, allerdings etwas Verbissenes angenommen.

Die beiden duzten sich, weil sie das irgendwann vor über zweihundert Jahren – in Raumzeit gerechnet – einmal so angefangen hatten. Aber sie brachten es fertig, eine solche Schärfe in dieses Du zu legen, dass der kälteste und verächtlichste Kasernenhofton annehmlich dagegen geklungen hätte.

»Status«, sagte Wiszewsky in den Raum hinein.

»Einen Moment noch.« Schleuner fingerte auf seinem Display herum. »Wird gerade neu aufbereitet.«

Auf dem Hauptschirm erschien das Bild eines geodätischen Zeltes aus durchscheinendem Elastil. Es war vier Meter hoch, hatte einen Durchmesser von zehn Metern und befand sich im Inneren eines nicht allzugroßen, flachen Kraters.

Die Quarantänestation auf dem Asteroiden.

Die imaginäre Kamera, die eine Zusammenschaltung hunderter Einzelsensoren war, fuhr langsam auf das transparente Gebäude aus strapazierfähiger Folie zu und durchstieß sie scheinbar. Dann lag das Innere der Station vor den Betrachtern auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE, die sich in angemessenem Sicherheitsabstand befanden. Selbst eine thermische Bombe hätte der Abschirmung des Schiffes auf diese Entfernung nur ein Kopfschütteln entlockt.

Aber es waren nur fünf kleinwüchsige Humanoide, die in einem erstaunlich regelmäßigen Kreis beieinander standen und ungerührt die Prozeduren der Wissenschaftler über sich ergehen ließen. Die Wesen war so groß wie zehnjährige Kinder. Sie trugen blaue Anzüge, die an Maokittel erinnerten. Ihr »Haar« war ein bürstenförmiger Antennenwald aus Kupferdraht. Ihre Augen glimmten im teilnahmslosen Rot opto-elektronischer Elemente.

Mehrere Spezialisten der Union waren in dem Zelt beschäftigt. Sie trugen weiße Schutzanzüge und Helme. Sie untersuchten die Wesen, wobei sie aktive und passive Scanner und Sensoren einsetzten. Direkte Berührungen versuchten sie auf ein Mindestmaß zu reduzieren, auf invasive Methoden hatten sie bislang ganz verzichtet.

»So, da wären wir«, sagte Schleuner. »Das aktuelle Update ist jetzt aufgesetzt.«

Er ließ noch einen konzentrierten Blick über seine Anzeigen kreisen und trat dann einen Schritt zurück, um die aufbereiteten Bilder zu kommentieren.

»Die ersten Aliens, die wir treffen, sind keine Aliens, sondern Bots«, sagte er im Ton eines Referats, das ein Sachverständiger vor seinem Bereichsleiter hielt. »Dass sie humanoid sind – zwei Arme, zwei Beine, aufrechter Körperbau, ein Kopf mit zwei Augen – ist erst einmal irgendwie – schade. Da hatten wir uns etwas Spektakuläreres erhofft. Ich denke, daran dürfen wir zweierlei Hoffnungen knüpfen: zum einen wird die Menschenähnlichkeit aller Voraussicht nach rapide gegen Null gehen, wenn wir erst einmal zur Autopsie eines dieser Gesellen fortschreiten, zum anderen wird sie sich, was das rein Anatomische betrifft, vermutlich erklären, wenn wir erst einmal ihrer Erbauer ansichtig geworden sind, die sich ja wohl früher oder später bei uns melden dürften.«

 

»Schleuner«, sagte Doina Gobaidin mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme, und nicht eben nur mit einem Anflug.

»Vizeadmiralin?«

»Ersparen Sie uns ihre persönlichen Erwartungen oder Enttäuschungen«, sagte die stellvertretende Kommandantin streng. »Bringen Sie uns einfach auf den neuesten Stand.«

»Wie Sie meinen.« Schleuner räusperte sich.

Alexander Wiszewsky, der etwas näher an den Schirm herangetreten war, ignorierte den Zwischenwurf, während die anderen Wissenschaftler und Brückenoffiziere amüsierte Blicke wechselten. Dass die Gobaidin, seit ihrer Zurücksetzung, auch im täglichen Umgang schwieriger geworden war, gereichte ihr nicht nur zum Vorteil. Sie büßte viel von dem Charme ein, den sie zuvor verströmt hatte, und verlor auch die Sympathien der Crew, die sie ironischerweise in Wiszewskys Arme trieb. In seiner Strategie, sich als väterlich über allen Nickligkeiten stehender Patriarch zu präsentieren, der die MARQUIS DE LAPLACE weniger kommandierte als regierte, sammelte der neue Oberbefehlshaber Pluspunkte, vor allem bei den jüngeren Besatzungsmitgliedern. Diesen, die die Causa Gobaidin nicht durchschauten und denen sie auch herzlich gleichgültig war, erschien er wie ein gütiger Duodezfürst, der die dreitausend Personen umfassende Gemeinde an Bord des riesigen Schiffes sicher und unaufgeregt anleitete.

»Fahren Sie fort«, sagte er jetzt nur, ohne seine Vize eines Blickes zu würdigen.

»Bis jetzt«, erklärte Schleuner, »haben wir also nur den Augenschein und alles, was sich mittels einfacher optischer und nichtoptischer Sensoren in Erfahrung bringen lässt.«

Er holte Luft. Wiszewsky nickte ihm aufmunternd zu.

»Die Bots, denn darum handelt es sich, kommunizieren auf einer Frequenz, die derjenigen unserer Lokalen Kommunikation nicht unähnlich ist. Es sind Engstrahlverbindungen von limitierter Reichweite. Die Signale sind mit einem zwanzigdimensionalen Code verschlüsselt. Unsere Leute arbeiten dran. Aber zumindest kurzfristig kann ich Ihnen hier nicht allzu viel versprechen.«

Während der letzten Sätze hatte er sich unwillkürlich an die Vizeadmiralin gewandt, aber diese wies ihm die linke Schulter und reagierte nicht. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah sie regungslos zur Panoramafront hinaus.

»Wir haben jedoch folgendes«, fuhr Schleuner fort. Er machte einem seiner Assistenten ein Zeichen, der daraufhin an seinem eigenen Display einige Einstellungen änderte. Das Bild auf dem großen Schirm sprang um. Man sah nun nur noch eines der niedlichen Robotwesen in Großaufnahme. Die mattroten Augen glühten stumpf vor sich hin. Die Gesichtszüge der Maske aus einem noch nicht näher definierten Synthetmaterial waren starr. Von Nahem sah der Bot schon gar nicht mehr so menschenähnlich aus. Es waren wirklich nur optische Sensoren und vielleicht, wer konnte es sagen, Zeichengeber, keine »Augen«, was da in dem ausdruckslosen Gesicht saß. Keine Nase, keine Ohren, keinerlei Mimik. Der »Mund« nur ein Ausgabeschlitz für akustische Signale?

Gerade als die Zuschauer auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE sich damit abgefunden hatten, dass diese Wesen doch fremdartiger waren, als es zunächst geschienen hatte – was sonderbarerweise mit Erleichterung verbunden war –, erstarrten sie. Der Mund des Kind-Roboters bewegte sich, wenn auch nur sparsam und ruckartig. Er sonderte Laute ab. Es war ein Mund. Und er sprach!

»Können Sie das noch etwas deutlicher machen?« Wiszewsky war unwillkürlich noch ein paar Schritte weiter nach vorne getreten. Er hielt die Hand hinter das Ohr, wodurch er plötzlich wie ein alter, schwerhöriger Mann aussah.

»Kommt.« Schleuner genoss seinen Auftritt wie der Conferencier einer großen Bühnenshow. »Greifen Sie dem Programm nicht vor!« Er schickte einen schüchternen Blick zu seinem Vorgesetzten, um auszutesten, ob dieser mehr Humor mitbrachte als seine Stellvertreterin. Der Kommandant nickte und setzte ein joviales Grinsen auf. Schleuner hatte sein Einverständnis, die Sache ruhig ein bisschen zu inszenieren – und wenn es nur war, um die Gobaidin mit ihrer ironiefreien Amtsauffassung zu ärgern.

»Im Gegensatz zu uns«, erläuterte der Oberste Wissenschaftler der MARQUIS DE LAPLACE, »scheinen die Knirpse keinerlei Probleme damit gehabt zu haben, unsere Kommunikation zu hacken und zu dechiffrieren. Hören Sie zu.«

Man konnte sehen, wie der Film diverse Aufbereitungsroutinen durchlief. Aber dann waren Bild und Ton gestochen klar.

Der Roboter sah selbstbewusst in die Kamera. Seine Mundöffnung ahmte souverän menschliche Sprechbewegungen nach. Dann sagte er: »Wir heißen euch willkommen. Unsere Absichten sind friedlich. Es freut uns, dass wir euch getroffen haben.«

»Das ist Uniertes Standard.« Alexander Wiszewsky hatte Schwierigkeiten, den Mund wieder zu schließen.

»Scheiße«, war ein unterdrückter Fluch aus der Richtung Doina Gobaidins zu vernehmen.

Schleuner versuchte zu überspielen, dass er zusammengezuckt war. Er hielt auch jetzt an der Strategie fest, nur zu Wiszewsky zu sprechen und die Vizeadmiralin außen vor zu lassen.

»Wie ich bereits sagte: Sie haben unsere Kommunikation entschlüsselt und sich zu eigen gemacht.«

»Sie empfangen uns in unserer eigenen Sprache«, staunte der Kommandant. »Grammatikalisch richtig und in geschliffener Diktion.«

»Nichts, was eine KI aus unseren Beständen nicht auch hinbekäme«, beeilte Schleuner sich zu sagen. »Im umgekehrten Falle.«

»Faktisch haben wir aber noch nichts von ihnen«, fauchte die Gobaidin.

»Sie nennen sich Tloxi.« Schleuner spielten seinen letzten und, wie er meinte, größten Trumpf. Leider musste er mit ansehen, wie er wirkungslos verpuffte.

»Sie haben uns gehackt«, fuhr die stellvertretende Kommandantin fort, ohne sich im übrigen vom Fleck zu rühren. »Sie wissen alles über uns.«

Über Schleuner hinweg wandte sie sich an die anderen Wissenschaftler. Unter ihnen war Dr. Kopertnik, der Leiter der KI-Verwaltung.

»Haben wir Anzeichen dafür, dass sie unsere Systeme unterwandern?«, fragte Doina Gobaidin ihn.

»Bis jetzt nicht«, sagte Kopertnik rasch. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Vizeadmiralin. Aber bis jetzt liegen keinerlei Anzeichen vor, dass sie auch nur versucht hätten, unsere Bordcomputer auszulesen.« Er lächelte ein wenig selbstgefällig. »Ich wage zu behaupten, dass unsere Firewall sie da auch vor gewisse Schwierigkeiten stellen würde.«

»Solche Schwierigkeiten wie die, im Handumdrehen Uniertes Englisch zu beherrschen!«

»Das ist für eine KI keine besondere Herausforderung«, versuchte Schleuner das Gespräch zurückzuholen. »Sie haben unsere Lokale mitgehört, vielleicht auch die akustischen Unterhaltungen unserer Mitarbeiter vor Ort. Das ist etwas ganz anderes, als wenn es beispielsweise darum ginge, sich in ein solches Schiff zu hacken.«

»Denn Schlüssel haben sie jetzt schon«, sagte die stellvertretende Kommandantin. »Unsere Frequenzen, unsere Sprache, unsere Grammatik. Im Grunde müssen sie uns gar nicht mehr hacken. Wir haben ihnen alles auf dem Silberteller präsentiert.« Dann tat sie, als würde sie sich selbst ins Wort fallen. »Aber entschuldige, Alexander«, sagte sie giftig. »Ich wollte deiner Einschätzung der ganzen Sache keineswegs vorgreifen.«

Sie ließ einen strengen Blick über die gesamte Brückencrew schweifen und wandte sich dann wieder ab.

Ein Moment der Stille entstand, in dem man Schleuner und Kopertnik durchatmen hörte. Wiszewsky gab sich dagegen unbeeindruckt.

»Was war das mit diesem Wort«, fragte er. »Wie nennen sie sich?«

»Tloxi.« Schleuner war froh, im Text fortfahren zu können. Sein Assistent spielte einen kurzen Filmschnipsel ein, in dem einer der Roboter eine unidentifizierbare Lautfolge von sich gab. Ein seltsames Knacksen.

»Sie haben unsere Sprache bis auf die Ebene der einzelnen Phoneme analysiert«, erläuterte der Wissenschaftler. »Parallel zu diesem Versuch einer akustischen Kommunikation senden sie Signale auf der Frequenz unserer Lokalen. Von daher haben wir eine digitalisierte Version dessen, was in der mündlichen Aussprache ein wenig interpretationsbedürftig ist.«

Vom anderen Ende der Brücke hörte man die Vizeadmiralin genervt schnaufen.

Wiszewsky lächelte seinem Chefwissenschaftler auch jetzt gewinnend zu.

»Von daher«, sagte Schleuner, »können wir ganz sicher sein. T-L-O-X-I. Tloxi!«

»Und was soll das heißen?«, fragte der Kommandant.

»Das ist ihr Eigenname.« Der Chef der Planetarischen Abteilungen wirkte für einen Moment konsterniert. »So nennen sie sich.«

»Gewiss.« Wiszewsky musste überlegen, wie er seine Frage formulieren sollte. »Aber was heißt es.«

»Ach so.« Schleuner tat auf wenig überzeugende Weise so, als sei ihm der Groschen gefallen. »Das wissen wir natürlich noch nicht. Wir müssen ihre Sprache insgesamt vorliegen haben. Ein einzelnes Wort lässt sich schlecht deuten.«

»Verstehe.«

»Aber wir sind dran«, fügte der Wissenschaftler noch an, um dem Wortwechsel einen versöhnlichen Abschluss zu geben.

»Danke, Schleuner.«

Die Crew aus Experten und Brückenoffizieren stand beklommen da, als der große Schirm fürs erste erlosch. Wiszewsky schien zu überlegen, wie es weiterging. Doina Gobaidin fuhr herum, als habe sie auf diesen Moment gewartet.

»Alexander«, sagte sie scharf. »Entschuldige, wenn ich mich einmische.«

»Du bist mein Vize«, entgegnete er zuckersüß. »Du darfst dich in alles einmischen.«

»Findest du das nicht merkwürdig«, fragte sie, ohne auf seinen süffisanten Ton einzugehen. »Sie haben unsere gesamte Sprache, unsere Frequenzen und so fort, wir haben von ihnen ein einziges Wort, mit dem wir noch dazu nicht das geringste anfangen können.«

»Wir arbeiten dran.« Wiszewsky stellte sich rhetorisch vor seine Wissenschaftler und hob dazu die Schultern.

»Das ist mir zu wenig«, sagte die Gobaidin. »Wo sind unsere KIs? Wenn es so einfach ist, unbekannte Kommunikationsformen zu knacken, warum kriegen wir das nicht auch hin.«

»Ich gebe die Frage weiter an die Spezialisten.«

Schleuner zuckte zusammen. »Wie gesagt, das, was wir für die interne Kommunikation der Tloxi untereinander halten, ist auf eine sehr anspruchsvolle Weise verschlüsselt. Die Chefprogrammierer unserer Quantencomputer sind dabei, die entsprechenden Algorithmen zu schreiben, um das zu dechiffrieren.«

»Laertes würde das an einem Nachmittag improvisieren«, murmelte die Vizeadmiralin in sich hinein. Laut sagte sie: »Warum ist unsere eigene Lokale eigentlich nicht in solcher Form verschlüsselt?«

Schleuner sandte einen fragenden Blick in Richtung des Kommandanten, der ihm die Antwort überließ.

»Um ehrlich zu sein, wir sahen nie eine Notwendigkeit dafür!«

Wiszewsky zuckte auch dazu nur mit den Achseln.

»Deine Vorsicht in Ehren«, sagte er zu seiner Stellvertreterin, »aber bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass diese – Dinger irgendwie gefährlich sind.«

»So!« Doina Gobaidin brauste auf. »Bezichtigst du mich der Paranoia, Alexander?«

»Das nicht, aber ...«

»Um uns allen ins Bewusstsein zu rufen, womit wir es zu tun haben: Wir wissen es nicht! Warum kommen euch diese Wesen eigentlich so harmlos vor? Ihr scheint sie nicht richtig ernst zu nehmen? Weil sie so klein sind? Weil sie aussehen wie Maidbots, die reiche Leute ihren Kindern schenken?« Sie schüttelte den Kopf.

»Bleib bitte sachlich«, mahnte Wiszewsky.

»Entschuldige«, erwiderte sie giftig. »Ich habe mich hinreißen lassen.« Sie kam jetzt auf den Rest der Mannschaft zu, der sich auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE versammelt hatte, um die Lücke zwischen sich und der Crew zu schließen. »Ich möchte nur an Sie alle appellieren«, sagte sie dann in deutlich konzilianterem Ton, »weniger vertrauensselig zu sein. Im Augenblick wissen wir gar nichts. Wir haben noch nicht einmal in die – Dinger reingeschaut.«

»Das wird einer der nächsten Schritte sein«, sagte Schleuner eilfertig. »Ich warte nur noch auf die Freigabe.«

Die Gobaidin überging ihn, als sei er nicht existent. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, womit wir es zu tun haben. Lassen Sie sich vom Augenschein nicht täuschen. Was wir wissen, ist, dass diese – Tloxi uns anscheinend technisch haushoch überlegen sind.« Sie ließ eine Pause eintreten, in denen sie die Anwesenden einen nach dem anderen mit einem strengen Blick maß. »Lassen Sie sich nicht einlullen, bleiben Sie misstrauisch!«

 

Die erfahrenen Wissenschaftler und dekorierten Brückenoffiziere nickten wie eine Schulklasse, die eine Standpauke ihrer Rektorin über sich ergehen lassen musste.

»Fertig?« Wiszewsky schien sein amüsiertes Grinsen fest im Gesicht installiert zu haben.

Seine Stellvertreterin quittierte das mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Schön.« Der Kommandant legte die Hände ineinander und setzte ein zufriedenes Strahlen auf, das besagte, er werde jetzt zur Tagesordnung zurückkehren. »Wie geht es weiter?«

Die Frage war direkt an Schleuner gerichtet, der auch auf sie gewartet hatte.

»Wenn Sie uns das Go geben, würden wir jetzt mit den invasiven Maßnahmen beginnen.«

»Das heißt?«

»Wir haben vor, einen Tloxi aus der Gruppe zu entfernen und ...«

»Glauben Sie, das werden sie zulassen?«

»Warum nicht?« Der Wissenschaftler kam für einen Augenblick aus dem Konzept, das er sich so schön zurechtgelegt hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte Wiszewsky entwaffnend. »Wie sie da so stehen, das hat so etwas von einer – Wagenburg?«

Auf ein Zeichen hin ließ Schleuners Assistent das ursprüngliche Bild noch einmal aufflammen. Fünf der kleinen Roboter bildeten einen Kreis, man konnte auch sagen: eine Studie in fünfstrahliger Radialsymmetrie.

»Ich denke nicht«, sagte Schleuner, »dass da etwas passieren sollte.«

»Woher wollen Sie das wissen«, fragte Doina Gobaidin.

»Bis jetzt haben wir keinerlei Anhaltpunkte, dass diese Anordnung etwas zu bedeuten habe. Es gibt keine Kraftfelder, über die die fünf Entitäten oder Individuen miteinander verbunden wären, oder etwas in der Art.«

Die Vizeadmiralin sah Wiszewsky mit gleichgültiger Miene an. »Keine weiteren Fragen, euer Ehren!« Die Bewegung, in der sie beide Hände anhob, deutete allerdings darauf hin, dass sie ab sofort jede Verantwortung für das weitere Geschehen ablehnte.

»In Ordnung.« Der Kommandant nickte nachdenklich vor sich hin. »Schnappen Sie sich einen von den Kerlen. Bringen Sie ihn in ein separates Labor.«

»Wir bauen gerade eine zweite Quarantäne-Einheit auf«, erklärte Schleuner.

»Sehr gut. Lassen Sie äußerste Vorsicht walten.«

»Selbstverständlich, Sir.«

Wiszewsky vermied es, die Gobaidin triumphierend anzusehen. Stattdessen musterte er kühl den Raum, der jenseits der großen Panoramafenster klaffte und in dem ein winziger staubfarbener Lichtfleck die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Stille auf der Brücke bekam einen eigenen Ton. Wiszewsky registrierte ihn und sah seine Leute fragend an. In den Mienen las er, dass sie noch etwas vorzubringen hatten.

»Eine Sache noch.« Schleuner musste auch jetzt für die gesamte Mannschaft sprechen.

»Immer raus mit der Sprache.« Manchmal kostete es auch einen Alexander Wiszewsky eine gewisse Anstrengung, die Aura des jovialen und unerschütterlichen Vorgesetzten zu wahren. Er wirkte müde und ein kleines bisschen überfordert, gab sich aber alle Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Die KI-Spezialisten und Planetologen, die einfach nur loslegen und in die nächste Phase eintreten wollten, konnte er damit vielleicht täuschen, seine Stellvertreterin allerdings nicht. Sie wartete von Anbeginn der Mission an nur darauf, dass er sich eine Blöße gab, die es ihr ermöglichte, ihn abservieren zu lassen. Wiszewsky wusste das natürlich. Er nahm die Herausforderung an und absolvierte täglich aufs neue den Drahtseilakt, nicht vorschnell, aber auch nicht zu zögernd zu entscheiden. Denn entscheiden musste er.

»Die Quarantänemaßnahmen«, brachte Schleuner hervor.

»Was ist damit?« Diesmal konnte Wiszewsky nicht verhindern, dass ein Seitenblick direkt zur Gobaidin hinüberflog. Er war ihm einfach entwischt.

»Wir würden sie gerne aufheben.« Schleuner biss sich auf die Zunge. »Zumindest lockern. Es ist, im konkreten Ablauf, vor Ort, also es ist einfach sehr hinderlich.«

»Sie meinen die Anzüge?«

»Die Anzüge, die Schleusen, die Dekontaminierung nach jedem einzelnen Schritt.«

»Wie schätzen Sie das ein«, fragte Wiszewsky. »Haben wir eine Risikoabwägung.«

»Die Dinger sind biologisch tot und absolut inert«, sprudelte Schleuner hervor. Er hatte sich das zurechtgelegt und auf den Moment gewartet, an dem er es anbringen konnte. »Da kann wirklich nichts passieren.«

Der Kommandant atmete schwer durch. Es gab Situationen, in denen er sich einen Vize gewünscht hätte, mit dem er sich vertrauensvoll besprechen konnte. Aber das war nun einmal nicht gegeben. Das genervte Stöhnen, das auch jetzt aus der einschlägigen Ecke drang, machte jede Rückfrage überflüssig. Seine Stellvertreterin war dagegen!

Aber das war ihr Problem!

»In Ordnung«, sagte Wiszewsky und ignorierte die Gobaidin, die am Rand seines Sichtfeldes wie von der Tarantel gestochen herumfuhr. »Wir lockern die Bestimmungen um eine Stufe.« Er sah Schleuner fest in die Augen, als er eine Drohung aussprach, von der er wusste, dass sie für den Wissenschaftler die Erfüllung eines Herzenswunsches war. »Aber Sie gehen hinunter und leiten die Autopsie persönlich!«

Auf der ERIS herrschte geschäftige Stille. Seit Brini mit dem Transportmodul der ERIS A in sicherer Entfernung am Sprungmodul angekoppelt hatte und nach etwa zehn Minuten Beschleunigung in einem Korridor verschwunden war, hatten sie nur noch das Nötigste gesprochen, und das leise, mit gedämpfter Stimme und mit scheuen Seitenblicken zu Rogers, der seiner eigenen Arbeit nachging, als wäre nichts geschehen.

Die Protokolle des Ereignisses mussten ausgewertet werden. Damit hatte die auf eine Handvoll Wissenschaftler zusammengeschrumpfte Crew vollauf zu tun. Die Bordcomputer bereiteten die Daten nur auf. Interpretieren mussten sie die menschlichen Gehirne. Diese wären dem Ansturm nackter Informationen, die nach Exo- und Petabytes zählten, nicht gewachsen gewesen. Aber nur sie waren in der Lage, die Begriffe zu bilden, auf die man das ganze bringen konnte, und die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Was Dr. Randolph Valerian Rogers anging, so musste man ihn nicht einmal sehr gut kennen, um an seinen kleinen listigen Äuglein ablesen zu können, dass er sich seinen Reim auf den Erfolg des Experimentes bereits gemacht hatte. Konzentriert, aber offensichtlich bester Dinge schob er die multiperspektivischen Displays seines Bedienplatzes hin und her, rief hier Details auf, ließ sich dort einen Spezialgrafen darstellen, und verströmte bei dem ganzen den Eindruck eines Mannes, der mit sich und seiner Arbeit vollkommen zufrieden ist. Ein anderer hätte die Lippen gespitzt und sich ein Lied gepfiffen. Das war Rogers’ Sache nicht. Er fokussierte sich ganz auf die Auswertung des spektakulären Versuchs, der einen ganzen Planeten in Schwingung versetzt hatte. Später würde er sich noch einen Whisky gönnen, nach Feierabend. Wobei seine Mitarbeiter sich seit längerem fragten, wann er überhaupt so etwas wie Feierabend machte.

Als die offizielle Schicht zuende war und die Echos und Resonanzen der ungeheuren Detonation in ein hochauflösendes Schalenmodell des Planeten umgesetzt worden waren, nahm einer nach dem anderen die Hände von der Konsole. Die Männer und Frauen traten von ihren Arbeitsplätzen zurück. Einer räusperte sich, eine andere ließ wohlig die Halswirbel knacken. Eine gespannte Stille breitete sich auf dem Hauptdeck der Orbitalstation aus. Endlich registrierte auch Rogers, das seine Leute der Meinung waren, für heute sei es genug.