Der Actinidische Götze

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Nach endlosen Stunden, die mir wie Wochen vorkamen, verbreiterte sich die Schlucht allmählich. Die Landschaft weitete sich. Der Wind ging auf das frühere Maß zurück; Er war zwar immer noch so stark, dass er einen aufrecht Stehenden umwerfen konnte, stellte aber keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben mehr dar. Das Gebirge trat auseinander, und wir standen im Fußpunkt eines gewaltigen Amphitheaters. Zu allen Seiten stiegen Hochtäler und Bergkämme in den Himmel. Weit voraus, tausende Meter über uns und in der klaren Luft trügerisch nah, sahen wir die Große Gompa von Loma Ntang: ein purpurroter Würfel, umgeben von strahlend weißen Nebengebäuden, hockte das Kloster wie eine uneinnehmbare Festung auf der Spitze eines ebenmäßigen Bergkegels. Noch viele, viele Stunden Weges waren es bis dorthin, und doch schien das Ziel schon zum Greifen nah. In seiner schlichten und kraftvollen Architektur glich die Klosterburg einem Kristall, der sich im Zentrum des Gebirges ausgebildet hatte. Es war eine vollkommene Verkörperung der Idee der Erleuchtung, ein Kunstwerk, das das Pranavana symbolisierte. Wir gingen weiter, vom warmen Wind geschoben, auf diese herrliche Kristallisation spiritueller Reinheit zu. Die Landschaft wurde noch lebensfeindlicher und majestätischer. Sie war großartiger als alles, was ich auf Dutzenden von Welten jemals gesehen hatte. Die letzten Reste der Vegetation waren jetzt verschwunden, da keine Feuchtigkeit vom Becken des Febasees mehr bis hier herauf drang. Die Dornakazien, die sich weiter unten noch in den Windschatten eines Felsblockes gekrallt hatten, oder der schüttere Anflug von Rasen, der auf den geschützteren Nordhängen einen dünnen Flor gebildet hatte - hier gab es nichts mehr dergleichen. Es fanden sich auch keine Siedlungen mehr, kein Bewässerungsfeldbau, keine Weiden. Selbst die Gletscher waren auf dieser Seite des Gebirges anders. Keine mächtigen Eisströme füllten mehr die Hochtäler, sondern nur die höchsten Gipfel trugen schmale, blauschimmernde Eiskappen, die auch keine Bäche mehr speisten, sondern unmittelbar in der gleißenden Luft und der metallischen Sonne verdunsteten. Große Gazellenadler, die beladene Tragtiere davonschleppen konnten und bisweilen auch Menschen attackierten, kreisten im wolkenlosen, von Staubschlieren gezeichneten Himmel.

Tsen Resiq legte die Handflächen zusammen, berührte mit den Fingerspitzen erst die eigene Stirn, dann Jennifers Haaransatz, ehe er sie an den Schultern nahm und sie zu einer angedeuteten Umarmung an sich zog.

»Ich bin sehr froh«, sagte er, »dass Sie wieder einmal den Weg nach Loma Ntang gefunden haben.«

Er begrüßte mich mit der gleichen Geste und fügte hinzu:

»Sie war in all den Jahren eine meiner gelehrigsten Schülerinnen. Ich habe es sehr bedauert, dass sie das Kloster verließ, um sich der weltlichen Wissenschaft zuzuwenden, wenn ich auch nicht zur Partei jener gehöre, die die empirische Forschung von vorneherein verdammen.«

Sein Gesicht mit den zahllosen goldbraunen Runzeln sah aus wie eine der uralten Sutren, die er tagtäglich zu rezitieren pflegte. Weisheit und Güte leuchteten aus seinen schwarzen Augen. Ich überlegte, wie alt er sein mochte. Es hieß, dass die Geistlichen dieser Welt mehrere hundert Standardjahre alt werden konnten, und als Lama der Großen Gompa von Loma Ntang war er das geistige Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens. Seine Haut schien wie Pergament zu knistern, als er ein Lächeln auf seine asiatisch wirkende Miene mit den breiten Backenknochen zauberte.

»Im wissenschaftlichen Stab der Union«, sagte ich, »ist Jennifer mindestens genauso gut aufgehoben wie in Ihrem Kloster, auch wenn ich nicht an ihren spirituellen Fähigkeiten zweifle.«

Ich zwinkerte ihr zu.

»Außerdem hätte sie, wenn sie den ‚Weg der Weißen Wolken’« - so hieß das Pranavana wörtlich übersetzt - »eingeschlagen hätte, niemals meine Frau werden können.«

Großmeister Tsen stutzte einen Moment. Dann griff er Jennifers Hände und drückte sie, während ihm aufrichtige Freude in die Augen trat.

»Ist das wahr?!«, rief er mit zarter Fistelstimme.

»Seit genau zehn Tagen«, antwortete sie fröhlich. »Strenggenommen ist das hier unsere Hochzeitsreise.«

»Was heißt ‚strenggenommen’?«, warf ich ein, aber sie brachte mich mit einem winzigen Stirnrunzeln zum Schweigen.

Dennoch waren mein Ausfall und ihre Reaktion dem Lama nicht verborgen geblieben. Indem er das Lächeln beibehielt, ihre Hände jedoch wieder freigab, erkundigte er sich:

»Ich darf doch hoffen, dass Sie die Wallfahrt zu den Heiligtümern von Loma Ntang dennoch keusch angetreten und vollzogen haben.«

»Ich habe«, erwiderte sie ernst, »die Pilgerreise genutzt, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften auf das Mysterium von Gu Tsechu vorzubereiten.«

Das musste er gelten lassen. Als Mann der Religion wusste er, dass man nicht in alle Dinge bis zur letzten Deutlichkeit eindringen kann und soll. Ich beschloss trotzdem, Jennifer in Zukunft das Wort und den Vortritt zu lassen, solange wir als persönliche Gäste des Lamas in Loma Ntang waren. Nicht, weil mir daran gelegen wäre, den Alten hinters Licht zu führen oder ein Lügengebäude vor ihm zu errichten, sondern im Gegenteil, weil ich von seiner absoluten Integrität überzeugt war und ihn nicht durch meine Gegenwart, die für ihn die eines Unreinen sein musste, in weitere Konflikte stürzen wollte. Ich wusste, dass Jennifer ihn, ohne darin einen Widerspruch zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung zu sehen, als einen Heiligen ansah, und obwohl ich außerstande war, diesen Glauben im wörtlichen Sinne zu teilen, respektierte ich die Verehrung, die sie ihrem alten Trance-Meister entgegenbrachte, wie auch die Persönlichkeit des Lamas selbst.

Das Kloster, eine Bergfestung, in der über eintausend Mönche residierten, befand sich im Belagerungszustand. Jedes Zimmer, jeder Raum, jeder Gang der Burg und der angrenzenden Gebäude war von Pilgern belegt. Eine einzige zusammenhängende Zeltstadt umgab die Große Gompa und zog sich nach allen Seiten die Hänge des pyramidenförmigen Berges hinunter, auf dessen Spitze das Heiligtum errichtet war. Die zuletztgekommenen Pilger mussten am Fuß des Berges, mehrere Wegstunden unterhalb des Klosters, campieren. Sie würden sich morgen, am Tag des Gu Tsechu-Festes, schon kurz nach Mitternacht aufmachen müssen, um rechtzeitig zum Beginn des großen Ereignisses einzutreffen.

Nach der kurzen, kaum viertelstündigen Audienz musste Tsen Resiq uns entlassen. In dichter Folge musste er die Nuntiaten und Würdenträger der anderen Klöster empfangen, die alle den beschwerlichen Weg heraufgekommen waren. Er versprach uns jedoch, sich nach dem Fest noch einmal eine Stunde Zeit für uns zu nehmen. Wir verabschiedeten uns, wobei Jennifer sich vor ihm niederwarf und ihm die Hand küsste, während ich es bei einem knappen Diener bewenden ließ. Danach führte sie mich durch die weitläufige und verwinkelte, in ihrem Inneren völlig labyrinthische Anlage. Das Zentrum der Klosterstadt war der Ehrenhof, ein riesiges Atrium, in dem bei anderen Festen die tausend hier ansässigen Mönche ihre ausschweifenden Maskenspiele aufführten. Morgen würden hier zehntausende Pilger zusammengepfercht der Enthüllung des Actinidischen Götzen entgegenfiebern, vom gepflasterten Karree des Hofes aus, von den ringsum ansteigenden Tribünen, Logen und Balkonen und selbst von den Dächern der angrenzenden Gebäude. Die Nordseite des Ehrenhofes wurde von der Halle des Großen Opfers eingenommen, zu der eine breite Freitreppe hinaufführte. Wir stiegen zum Portal der Opferhalle, das mit schwarzen Tüchern verkleidet war, und zogen die Schuhe aus. Ich ging in Strümpfen hinein, denn die Halle war ungeheizt, schattig, und der Boden war ganzjährig gefroren. Jennifer betrat den dunklen, in seinen Abmessungen kaum abzuschätzenden Raum trotzdem barfuss. Die Stirnseite der Halle wurde von der 108-armigen Kolossalstatue des Ava Kiteshvar eingenommen, des obersten Bodhisattvas des Prana-Bindu-Ordens, als dessen 14. Inkarnation Tsen Resiq selbst galt. Während Jennifer vor der Statue niederkniete und in einer kurzen Meditation verweilte, ging ich geräuschlos abseits und sah aus einem der wenigen winzigen Fenster, die in die Seitenwände der riesigen Halle eingelassen waren. Durch die von Sand verkratzten und vom Staub getrübten Scheiben sah ich über die Landschaft hinaus, deren Grelle und Weite im Kontrast zu der finsteren Opferhalle kaum fassbar war. Die große Kette des Ilaya lag jetzt im Süden, weit entfernt und doch zum Greifen nahe in der dünnen wolkenlosen Luft. Wir sahen die Nordseite des Gebirges, die nur gering vergletschert war und daher noch kälter, nackter und abweisender wirkte. Ich begriff, dass ein langer Aufenthalt an diesem Ort, zumal wenn sich der Rummel der Pilger wieder gelegt haben würde, den Geist läutern und reinigen würde, bis seine Substanz in schlackenloser Klarheit zutage treten würde. Dann stand man unmittelbar dem reinen Sein gegenüber.

Obwohl ein Zimmer des Gästetraktes für uns reserviert war, zogen wir es vor, auch diese Nacht in unserem Zelt zu verbringen. Den Raum überließen wir einer ärmlichen Pilgerfamilie, die mit ihrer vielköpfigen Kinderschar, zwei Tragtieren und einem Mundvorrat von lebenden Ila-Gänsen in die wenigen Quadratmeter Einzug hielt. Auf der Nordseite des Gebäudes, wo der Berg steil in die Tiefe stürzt und sich daher nur wenige Pilger niedergelassen hatten, fanden wir noch genügend Platz, um unsere Kuppel aufzuschlagen. Jennifer hatte sich die Ermahnung des Lamas so weit zu Herzen genommen, dass sie erklärte, sie würde zumindest in den zwei oder drei Tagen, die wir hier oben zubringen würden, auf keinen Fall mit mir schlafen. Stattdessen nahm sie nach dem Abendessen Meditationshaltung ein und versenkte sich in eine gut einstündige Trance, während der sie nicht die leiseste Bewegung erkennen ließ und sogar ihre Atmung unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit reduziert hatte. Ich hatte vor dieser Reise nicht gewusst, dass sie ihre Sympathie für diese Religion so ernst nahm. Meines Wissens bezeichnete sie sich nicht als Gläubige im strengen Sinn, und sie hatte die Zugehörigkeit zum Prana-Bindu-Orden nicht in ihre Papiere eintragen lassen. Ich war also davon ausgegangen, dass die Ausbildung, die sie im Anschluss an die Akademie hier absolviert hatte, und das regelmäßige Training, das sie seither durchführte, vor allem der Steigerung der Konzentration, der Körperbeherrschung, der Reaktionsschnelligkeit und all der anderen Fähigkeiten diente, die für sie als Explorer-Pilotin unverzichtbar waren. Jetzt sah ich, dass doch mehr dahinter steckte, und freute mich, nach zehn Tagen Ehe, der eine zwanzigjährige Verlobungszeit vorausgegangen war, noch neue Seiten an ihr kennen zu lernen.

 

Als sie sich aus der Trance gelöst hatte, gab sie mir eine Einführung in das Wesen des Gu Tsechu-Festes, die mir selbständig anzueignen ich in den vergangenen Tagen versäumt hatte.

»Im Mittelpunkt steht der Actinidische Götze«, begann sie.

»Das weiß ich bereits«, gab ich vorlaut zurück.

Sie reagierte nicht einmal auf diesen Einwurf, aber die tiefe Gesammeltheit ihrer Miene verkündete überdeutlich, dass sie in dieser Sache keinen Spaß verstand.

»Der Götze«, fuhr sie fort, wobei ihr Blick durch mich hindurchging und auf unbestimmte Fernen gerichtet war, als sehe sie von der obersten Stufe der Freitreppe der Großen Halle des Opfers über den Freihof und die niedrigeren Gebäude der Südseite bis zur tiefen Kerbe der Kaliganschlucht und der Ilaya-Kette hinaus. »Der Götze ist der heiligste Gegenstand des Universums. Genau genommen gehört er nur zum Teil diesem Universum an. Teilweise gehört er schon der anderen Welt. Wie ein Schlüssel, oder besser gesagt ein Schlüsselloch verbindet er dieses Universum mit dem anderen, den physischen Kosmos mit dem metaphysischen. Er ist ein zugleich empirischer und transzendentaler Gegenstand. Wer ihn erblickt, der sieht unmittelbar die Rückseite des Seins, die andere Welt, in die er im Pranavana eingehen wird.«

Sie schwieg. Ihre Augen suchten den Horizont nach erhabenen Geschehnissen ab.

»Mhm«, machte ich im aufrichtigen Versuch, ihr zu folgen. »Der Götze symbolisiert also ...«

»Er symbolisiert gar nichts«, sagte sie. Ihre Stimme kam von weither, wie der Spruch eines Orakels aus Rauch, Duft und Dämmerung.

»Der Götze verkörpert ...«, versuchte ich hilflos.

»Er ist«, beharrte sie. »Versuch einmal katholisch zu denken. Die Hostie ist der Leib des Herrn.«

»Ich bin Protestant«, entgegnete ich schon etwas trotziger. »Wenn auch nur auf dem Papier.«

Sollte sie es mir eben erklären. Ich hörte ihr ja zu. Aber stattdessen hüllte sie sich in Mysterien.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. In einem Sekundenbruchteil fokussierte mich ihr Blick. Ihr Blick wurde klar. Ihre Stimme war wieder präzise und militärisch, wie ich das von der besten Pilotin der Union gewohnt war, als sie sagte:

»Der Actinidische Götze besteht aus einem Material, das im übrigen Universum nicht vorkommt.«

»Ein Transuran?«, riet ich.

Etwas wie Mitleid glitt über ihre Miene. Geringschätzung? Ich wünschte, sie würde wieder die Trance aufsuchen und wohlklingende Sutren rezitieren, dann brauchte ich, was sie sagte, wenigstens nicht für bare Münze nehmen.

»Du denkst immer noch physikalisch«, erwiderte sie. »Aber ich glaube nicht, dass es sich um eine - Substanz handelt, die sich im Periodensystem unterbringen ließe, auch nicht an seinem äußersten Rand.«

Ich atmete tief durch und gab mir keine Mühe, die Skepsis von meiner Stirne zu verbannen.

»Liebste Jenny«, sagte ich. »Ich schätze dich, ganz unabhängig von unserer persönlichen Beziehung, als eine der besten Wissenschaftsoffizierinnen der Union. Deinen unbestechlichen logischen Verstand habe ich immer bewundert. Aber du scheinst entschlossen, den fachlichen Respekt, den du dir in über zwanzig Jahren erworben hast, in Minutenschnelle zunichte zu machen.«

Sie ging darauf gar nicht ein.

»Im übrigen«, führte sie den vorigen Gedanken weiter, »wird man niemals die Chance bekommen, das Material wissenschaftlich zu untersuchen. Der Götze wird niemals zu einer solchen Entweihung herausgegeben werden. Tsen Resiq und sein Orden, bis hinunter zum kleinsten Mönch, würden ihn mit ihrem Leben verteidigen und sich lieber bis zum letzten Mann abschlachten lassen, als zuzusehen, wie ein Unreiner den Götzen in die Hand nimmt oder ihn auch nur zur Unzeit und ohne die vorgeschriebenen Riten enthüllt.«

Ich schwieg. Es gibt so viele Dinge, die man auf sich beruhen lassen muss, in der Wissenschaft ebenso wie, so dämmerte es mir jetzt, in einer guten Ehe. Eine beiläufige Handbewegung, die ich in die Stille unseres Zeltes schrieb, sollte lediglich besagen, dass ich nicht vorhatte, mit dem Instrumentarium der positiven Wissenschaft in diese Mysterien einzudringen, und dass ich es akzeptierte, dass es Bereiche gab, die der logischen Erkenntnis verschlossen blieben.

»Das ist auch gut so«, kommentierte Jennifer meinen gestisch ausgedrückten Rückzug. Und indem sie ihr süßestes Lächeln hervorzauberte, tief aus der Trickkiste weiblicher Verführungskunst, die mindestens ebensoviele Mysterien bereithält wie alle anderen Religionen zusammen, sagte sie noch: »Ich nehme die Wissenschaft sehr ernst. Aber ich weiß, dass auch sie ihre Grenzen hat.«

Dutzende Becken schlugen synchron zusammen und erzeugten einen blechern hallenden Ton. Trommeln wurden in Schwingung versetzt und zu rollenden Rhythmen aufgepeitscht, die keinem erkennbaren Metrum folgten, denen aber dennoch eine sehr präzise Struktur zugrundelag. Dann setzten die mehrere Meter langen Tempelposaunen ein, deren goldene Rohre von jeweils drei Novizen gestützt wurden, und ließen die Luft im großen Freihof vibrieren. Näselnde Schalmeien fielen ein und schleuderten spitzige, ekstatische Aufschreie zwischen den Donner der Trommeln und die zwerchfellerschütternden Töne der Posaunen. Diese Darbietungen, unterbrochen von Maskentänzen, Rezitationen und Ansprachen in einem mir unverständlichen Idiom, dauerten schon mehrere Stunden. Alles, was ich sah und hörte, selbst die Gerüche der Opferfeuer, der Rauchgaben und Blumenwunder, die Berührungen unserer Nachbarn, die sich plötzlich und unvorhersehbar erhoben und wieder niederwarfen, dass die einfachen Holzbänke ächzten, bis hin zum Geschmack der kleinen Mahlzeiten, die zwischendurch herumgereicht wurden, war mir vollkommen fremd und undurchsichtig. Wir waren vor Sonnenaufgang aufgestanden. Während ich ein improvisiertes Frühstück aus Trockenei und selbsterhitzendem Kaffee zu mir genommen hatte, hatte Jennifer noch einmal meditiert und dann erklärt, dass sie heute bis zum Beginn der Feier fasten werde. In der eisigen Hochgebirgsnacht, als noch die Sterne und der Zwillingsplanet Sin Pur als schmale Sichel am Himmel standen, hatten wir unsere Plätze auf einer der Tribünen eingenommen. Der Hof hatte sich rasch bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Atem der vielen tausend Menschen vereinigte sich und stieg als silbriger Dampf über den Köpfen auf. Die Kälte war anfangs kaum zu ertragen. Mit dem ersten Lichtstrahl hatten die Mönche und Lamas die Freitreppe betreten und unter der Leitung Tsen Resiqs mit der Zeremonie begonnen. Eine zeitlang saßen wir genau an der Grenze von Sonne und Schatten, als der weißstrahlende Zentralstern des Systems in quälender Langsamkeit höher stieg. In der dünnen, feuchtigkeitslosen Hochgebirgsluft war die Schattenlinie zugleich ein schwer vorstellbarer Temperatursprung. Die Sonne brannte, da die Atmosphäre ihr keinen Widerstand mehr bot, während die Luft im Schatten nicht den geringsten Teil der Wärme bezog. Eine Stunde lang wurde mein rechter Arm geröstet, während der linke vor Kälte taub und gefühllos war. Dann war die Sonne endlich so weit gestiegen und nach Süden herumgezogen, dass sie uns gleichmäßig erwärmte. Wir wurden jetzt zwar fast gebraten, aber man wusste doch, worauf man sich einzustellen hatte. Ich verstand jetzt auch das Wesen der Prana-Bindu-Trance. Sie war nicht nur die Frucht eines jahrtausendelangen Aufenthaltes an Orten wie diesem, ihre Beherrschung war umgekehrt die unabdingbare Voraussetzung, um ein Leben unter diesen Umständen überhaupt aushalten zu können.

Jennifer war die ganze Zeit nicht ansprechbar. Anfangs hatte ich mit ihr zu flüstern versucht und sie gebeten, mir die Funktion der einzelnen Teile der Zeremonie zu erläutern, der ich doch wenigstens offen und unvoreingenommen begegnen wolle, aber sie hatte mürrisch und unwillig reagiert, von einem bestimmten Zeitpunkt an überhaupt nicht mehr. Ich musste es also dabei bewenden lassen, die schmetternde Geräuschkulisse, die als Musik wahrzunehmen mir nicht gelingen wollte, über mich ergehen zu lassen, die Tänze zu betrachten, deren Symbolik mir verschlossen blieb, und den Rezitationen zu lauschen, von deren Inhalt ich vermutlich selbst dann nichts begriffen hätte, wenn ich der Sprache teilhaftig gewesen wäre, in der sie vorgetragen wurden. Irgendwann, es war, wie ich dem Sonnenstand entnahm, bereits Nachmittag, schien sich das Spektakel seinem Höhepunkt zu nähern. Die Lieder wurden feierlicher, das teilte sich sogar mir mit. Die Tänze gravitätischer, die Explosionen der Instrumente wurden noch gewichtiger. Sie bekamen etwas von der Unwiderleglichkeit eines Naturgeschehens.

»Jetzt«, zischte Jennifer.

Das war seit etlichen Stunden das erste Wort, das sie an mich richtete. Das erste Zeichen dafür, dass ihr meine Anwesenheit noch bewusst war.

Vier Mönche traten vor. An den großen halbmondförmigen Mützen aus gelben Samt erkannte ich, dass es, nach Tsen Resiq selbst, die höchsten Würdenträger des gesamten Ordens waren. Sie trugen eine Schatulle aus schwarzem Holz. Unwillkürlich war ich enttäuscht. Ich hatte mit der Enthüllung eines viel pompöseren Gegenstandes gerechnet, und auch, als ich mir sagte, dass die äußeren Abmessungen ja nichts über die spirituelle Bedeutung eines solche Fetisches besagten, konnte ich ein Gefühl der Ernüchterung nicht gänzlich unterdrücken. Die Schatulle wurde auf ein Podest gestellt, das mit gelbem Samt verkleidet war. Ihre Beschläge leuchteten golden, als die Sonne jetzt gleißende Reflexe aus ihnen schlug, während das Schwarz des Holzes vollkommen glanzlos blieb. Die vier Mönche traten zurück. Tsen Resiq schritt würdevoll zur Front der Schatulle. Ein mächtiger Beckenschlag ließ die Menge zusammenfahren, die schon den Atem angehalten hatte. Dann herrschte vollkommene Stille. Von der ganzen vieltausendköpfigen Menge war kein Laut zu vernehmen, kein Lachen, kein Husten, kein Räuspern. Selbst die Kinder, von denen zuvor einige geweint hatten, waren instinktiv verstummt. Der Lama murmelte einige Verse, und obwohl er über hundert Meter von uns entfernt stand, konnten wir jedes Wort vernehmen. Er legte die Handflächen ineinander, schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn und legte dann beide Hände flach auf die Schatulle. Plötzlich, aus einem Moment der Sammlung aufzuckend, öffnete er mit einer raschen Bewegung die beiden Flügel der Schatulle, griff hinein und nahm einen Gegenstand heraus, den er mit beiden Händen hoch in den Himmel stieß.

Ein Raunen ging durch die Menge, etwas wie ein chorisches Atmen. Die Zehntausend waren nur noch ein einziges Wesen, über dem der Rhythmus des Lebens flutete, verebbte, neu anschwoll und sich brach wie die Dünung eines abendlichen Ozeans. In einer feierlichen unio mystica hoben und senkten sich die Brüste der zahllosen Pilger, während ihre Blicke in einem Punkt zusammenschmolzen, dem Actinidischen Götzen, den Tsen Resiq der Gemeinde und dem Himmel präsentierte. In diesem Augenblick veränderte sich das Licht. Es wurde fahl. Obwohl es nicht eigentlich dunkel wurde, verloren die Gegenstände mit einemmal alle Farbe. Das Raunen und Stöhnen der Menge gewann an Kraft und Intensität. Etwas wie ein Schlagschatten legte sich über die Szene, das Echo eines gewaltigen schwarzen Tuches, das dem Licht allen Glanz und alle Resonanz nahm. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? In den sechs Tagen, die wir seit der Durchquerung des Tors des Todes auf der Nordseite der Ilaya-Kette zubrachten, hatten wir nicht den Anflug einer Wolke am Himmel gesehen. Und plötzlich wusste ich, was geschehen war. Es wäre sogar vorhersehbar gewesen. Innerlich verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich mich so nachlässig auf das Ereignis vorbereitet hatte, und ich nahm mir vor, Jennifer, sowie sie wieder ansprechbar geworden sein würde, dafür zur Rede zu stellen, dass sie mich nicht vorgewarnt hatte. Das Atmen der Menge wurde ruhiger, langwelliger und zugleich schwerer. Es war das tiefe Atmen einer Frau, die im warmen Wasser eines Gebärbeckens sitzt und zwischen den Wehen Luft schöpft, weil sie weiß, dass jetzt gleich der Schädel ihres Neugeborenen hervortreten muss. Die Szenerie war wie eingefroren. Niemand bewegte sich. Tsen Resiq war, mit dem Kultobjekt auf den emporgereckten Händen, zu einer Statue erstarrt, zu einem lebenden Postament, das allein der Präsentation des Allerheiligsten diente. Das helle unwirkliche Grau, das über allem lag, vertiefte den Eindruck eines aus aller Zeit und Realität herausgefallenen Augenblicks, einer ewigen Sekunde, die aus dem Fluss der Vergänglichkeit herausgelöst, abgeschnitten und sich selbst überlassen war. Ich bereute, dass ich den optischen Feldstecher nicht mitgenommen hatte, der sich wie eine Brille auf der Nase tragen ließ, aber Jennifer hatte es untersagt. So musste ich versuchen, mir den Götzen mit bloßen Augen einzuprägen, aber ich erkannte nur, dass es sich um eine Statuette handelte, die aus rotem und schwarzem Stein geschnitten und kostbar vergoldet zu sein schien und von der zwei handflächengroße Gebilde wie Flügel abstrahlten. Der Stillstand der Zeit dauerte zwei, vielleicht drei Minuten. Dann riss der Lama den Götzen herunter und ließ ihn mit einer blitzschnellen Bewegung in der Schatulle verschwinden, die im selben Augenblick von den vier hohen Mönchen hinausgetragen wurde. Das Licht nahm wieder seine alte Grelle an. Die Menge stöhnte in einem letzten gemeinschaftlichen Schrei auf und fiel dann wieder zum gewohnten Stimmengewirr auseinander. Einige Kleinkinder begannen zu heulen, eine Frau lachte. Erstaunlich rasch zerstreute sich die Masse. Die Mönche packten ihre Instrumente ein und verschwanden in verschiedene Richtungen. Nach wenigen Minuten war der große Freihof so gut wie ausgestorben. Ich saß als einer der letzten noch an meinem Platz, benommen und ergriffen wie offenbar kaum einer der Gläubigen. Auch Jennifer war schon aufgestanden. Sie strich mir durch das Haar und tätschelte meine Wange, eher kameradschaftlich als zärtlich.

 

»Es ist vorbei«, sagte sie. »Du warst Zeuge eines mystischen Ereignisses.«

»Es freut mich, mein Kind, dass sie nach all den Jahren den Weg nach Loma Ntang gefunden haben, um wieder am Mysterium von Gu Tsechu teilzunehmen.«

Tsen Resiq berührte Jennifers Stirn in der Geste des Prana-Segens.

»Das gilt auch für Sie, Commander«, fuhr er fort. »Ich weiß, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Aber der Anblick des Actinidischen Götzen wird auch für Sie nicht ohne Wirkung bleiben.«

Ich nickte zum Zeichen meiner Zustimmung. Das war sogar ernst gemeint. Die rätselhafte Zeremonie hatte mich durchaus beeindruckt und sogar aufgewühlt. Ich neigte mich vor und gestattete dem alten Lama, auch meine Stirn mit den Fingerspitzen zu berühren.

Dann nahm er unsere Hände, legte sie ineinander und schrieb mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten eine schleifenförmige Bewegung darüber, die bei oberflächlicher Betrachtung auch ein Kreuz hätte sein können. Alle Religionen sind eins, begriff ich, wenn nicht auf dogmatischer Ebene, so doch in der Ehrfurcht vor dem Sein.

Ich sah wieder den Götzen vor mir, wie Tsen Resiq ihn in den klaren, aber fahlen Mittagshimmel gehoben hatte. Der Kultgegenstand hatte umso intensiver aufgeleuchtet, je mehr die gesamte Umgebung grau und matt geworden war, als habe er alle Farbe des Universums in sich aufgesogen, um sie nach einem Innehalten unbestimmter Zeitdauer wieder in den Kosmos hinauszuschleudern, der daraufhin prächtiger und prangender erstrahlte als zuvor.

Der Alte gab unsere Hände frei. Er legte die Linke auf Jennifers Schulter, die Rechte auf meinen Oberarm, so dass wir ein Dreieck bildeten. Wir verharrten einige Sekunden in dieser Aura der Nähe und Aufgehobenheit. Dann trat der 14. Avatar Ava Kiteshvars einen Schritt zurück und musterte uns verschmitzt. Alle Feierlichkeit wich von seinem hundertjährigen Runengesicht, als er uns fröhlich zuzwinkerte.

»Kommen Sie beide so bald wie möglich wieder. Warten Sie keine zehn oder zwanzig Jahre ab, und kommen Sie nicht, wenn eines der großen Klosterfeste meine Aufmerksamkeit beansprucht. Dann haben wir Zeit, uns ausführlich und ungezwungen zu unterhalten.«

»Das werden wir tun, Ehrwürdiger Lama«, sagte Jennifer.

Ich murmelte ebenfalls eine Floskel der Zustimmung. Stille breitete sich im Empfangsraum aus, wo Tsen Resiq zwischen dunklen Holztäfelungen und farbenfrohen Seidenampeln Audienz gab. Ich bemerkte, dass sein Blick zu den Mönchen wanderte, die im Eingangsbereich der Halle darauf warteten, die nächsten Gäste vorzulassen, denn auch an diesem Tag gaben sich die Würdenträger die Klinke in die Hand, um sich vom Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens zu verabschieden. Indem ich seinem Blick folgte, fiel mir der schwarze Schrein auf, der an der Längsseite des Saales auf einem Podest aus gelber Seide stand. Es war die Schatulle des Actinidischen Götzen, die man noch nicht wieder an ihren Aufbewahrungsort zurückgebracht hatte, wo sie die nächsten zehn Jahre überdauern würde.

»Er bleibt noch ein paar Tage hier«, sagte Tsen, dem die Bewegung meiner Augen aufgefallen war. »Die Gäste, die kommen, um sich zu verabschieden, nehmen auch seinen Segen mit auf die Heimreise. Und er gibt mir Kraft durch seine Anwesenheit, selbst wenn er verhüllt ist.«

Wir mussten gehen. Ich spürte, wie die Zeit schmerzhaft wurde, selbst für den alten Mönch in seiner unermesslichen Geduld und Weisheit, aber Jennifer machte keine Anstalten, den Empfangsraum zu verlassen. Wie stand sie da.

»Noch ein Wort, Großer Vater der Gläubigen«, bat sie jetzt

Dieser Beiname Tsen Resiqs war mir bis jetzt nicht geläufig gewesen. Ich begriff aber sofort, dass es sich um eine sehr selten benutzte Bezeichnung handelte, die nur in besonderen Ausnahmefällen zur Anwendung kam.

Die sternförmigen Fältchen in den Augenwinkeln des Alten waren wie weggewischt. Seine Miene wurde im Augenblick abwartend und ernst. Ich begriff, dass die Ansprache, die Jennifer gewählt hatte, bereits ein Anliegen signalisierte, das alles andere als alltäglich war. Dabei hatte ich keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Selbstverständlich hatte sie mich im Vorfeld mit keinem Wort eingeweiht.

»Der Götze«, flüsterte sie mit einem Seitenblick zu den Mönchen, die neben der Eingangspforte Wache standen. »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, vor zwanzig Jahren, und dann wieder bei der gestrigen Enthüllung.«

Der Alte war jetzt hellwach. Ich konnte sehen, wie er sich abmühte, die Fassung zu bewahren und die Runzeln des Misstrauens, die über seine zerfurchte Stirne zuckten, zurückzudrängen.

»Er schien mir«, sagte Jennifer mit einer Stimme, die bis an die unterste Grenze der Hörbarkeit gesenkt war, »er schien mir verändert.«

»Was sagst du da, mein Kind?«, fragte Tsen, dem es nicht gelang, alle Anzeichen der Beunruhigung aus seinen Worten zu verbannen.

Ich ahnte, was für eine Bedeutung dieser Gegenstand in der Wertschätzung dieses Ordens haben musste, wenn allein ihn im Tonfall des Verdachtes anzusprechen, eine solche Erschütterung bewirkte.

»Er schien mir«, Jennifer suchte nach dem rechten Ausdruck, »so getrübt. Irgendwie glanzlos.«

Mir wäre beinahe herausgerutscht, dass ich den Götzen über alle Maßen strahlend und farbenprächtig wahrgenommen hatte, und dass der Eindruck des Fahlen von der Sonnenfinsternis herrührte. Aber das Gu Tsechu-Fest würde immer auf ein solches Ereignis gelegt werden.