Alzheimer - vorbeugen und behandeln

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

TEIL I ALZHEIMER – KEIN UNABÄNDERLICHES SCHICKSAL!

KAPITEL 1


Mein Mann Steve – die gesunden Jahre

Steve ist die Liebe meines Lebens. Wir kennen einander seit mehr als 40 Jahren – 39 Jahre sind wir verheiratet. Wenn ich in den ersten drei Jahrzehnten über die Zukunft nachdachte, hatte ich das Bild von einem langen, erfüllten Leben vor Augen, und dass wir sehr alt miteinander werden würden. Die Alzheimerkrankheit machte uns einen Strich durch diese „Rechnung“ – viel früher, als ich es je erwartet hätte.

Wir begegneten uns 1968 zum ersten Mal; er war 18 und hatte gerade sein Studium an der Xavier University in Cincinnati (Ohio) aufgenommen und ich war 16 und ging noch aufs Gymnasium. Er war der Erste in seiner Familie, der einen Universitätsabschluss als Bachelor of Science and Business Administration (BSBA) in Rechnungswesen bekommen würde. Ich wuchs in einer bürgerlichen Familie auf und war das älteste von fünf Mädchen. Auf den Gedanken, Ärztin zu werden, kam ich zum ersten Mal mit 10 Jahren, nachdem ich eine Nacht mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus verbracht und bei den anderen Kindern auf der Station die Runde gemacht hatte, um zu erfahren, warum sie dort waren. Bald darauf, nach der Lektüre der Biografie von Dr. Elizabeth Blackwell, der ersten amerikanischen Frau, die Ärztin geworden war, wusste ich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.


Wir heirateten im März 1972. Steve arbeitete bereits und ich bereitete mich in speziellen Kursen auf das Medizinstudium vor. Wir hatten eine Wohnung für 80 Dollar im Monat (einschließlich Nebenkosten), mit drei Zimmern im ersten Stock eines 100 Jahre alten Hauses. Der Wohnungseingang führte direkt in die Küche und ins Wohnzimmer gelangte man nur durch das Schlafzimmer.

Die ersten 6 Monate unserer Ehe waren eine Herausforderung; wir stellten immer wieder fest, wie unterschiedlich wir Dinge handhabten. Schließlich richteten wir unsere Beziehung darauf aus, einander als gleichberechtigte Partner zu behandeln. Steve machte seine Arbeit viel Freude und er lernte eine Menge dazu. Er blieb 9 Jahre in dem Unternehmen, während meines Medizinstudiums und der ersten beiden Jahre meiner Facharztausbildung an der Kinderklinik des medizinischen Zentrums von Cincinnati. Die Gewöhnung an die extreme zeitliche Belastung, mit der meine Ausbildung im Krankenhaus einherging, war hart für uns, doch wir schafften es und unsere Ehe blieb intakt.

Zu Steves erstaunlichsten Eigenschaften gehören seine Kreativität und seine Fähigkeit, nahezu alles zu reparieren, aber bei Bedarf Dinge auch einfach zu „erfinden“, zum Beispiel einen Vorläufer der heutigen Kopfhörer. So saßen wir abends beieinander und ich konnte studieren, während er fernsah, ohne dass ich gestört wurde.

Da Steve sich am liebsten draußen aufhielt und unter dem Winter in Cincinnati litt, versuchten wir es in wärmeren Gefilden und zogen im Sommer 1980 nach Charleston in South Carolina, wo wir einmal Urlaub gemacht hatten und wo ich mein drittes Ausbildungsjahr zur Kinderärztin absolvieren konnte. Doch die Familie hinter sich zu lassen war nicht so einfach. Außerdem hatte mein Mann keine Stelle in Aussicht und wurde während des Umzugs auch noch krank. Er hatte oft Fieberbläschen auf den Lippen gehabt, doch nun bekam er sie auch um die Augen; das war wohl auf den enormen Stress zurückzuführen, den er durch das Verlassen seiner Heimat erlebte. Diese Art von Infektion wird meist durch das Herpes-simplex-Virus vom Typ 1 verursacht. Damals wussten wir noch wenig darüber, dass diese wiederholten Infektionen Konsequenzen in seinem späteren Leben haben könnten: Die englische Forscherin Dr. Ruth Itzhaki und ihre Mitarbeiter haben im Gehirn von Alzheimerkranken Hinweise auf dieses Virus gefunden. (Davon wird in Kapitel 15 noch die Rede sein.)

Charleston zeigte uns sein „Alltagsgesicht“, das sich von demjenigen, das wir im Urlaub gesehen hatten, erheblich unterschied. Doch ich hatte wunderbare ärztliche Lehrer und lernte mehr, als wenn ich nur an einem Lehrkrankenhaus geblieben wäre. So entdeckte ich meine Berufung für die Neonatologie, die Neugeborenenmedizin, und musste all meinen Mut zusammennehmen, um Steve zu sagen, dass ich dort noch zwei weitere Ausbildungsjahre als Stipendiatin absolvieren wollte. Er verkaufte inzwischen Eigentumswohnungen, war aber nicht glücklich mit dieser Arbeit; doch obwohl er überrascht und auch etwas enttäuscht war, versicherte er mir wie immer, dass er mich emotional unterstützen werde.

Ein wenig getrübt wurde unsere Beziehung dadurch, dass wir uns in der Frage der Familienplanung nicht einigen konnten. Ich wollte zuerst meine Ausbildung beenden, doch Steve glaubte, wir sollten ganz auf Kinder verzichten, da meine zu erwartende unregelmäßige Arbeitszeit für kleine Kinder viel Verwirrung und Unsicherheit mit sich bringen würde. Und wir wollten beide unsere Kinder nicht in fremde Hände geben.

Im Herbst 1981 stand ich kurz vor der Beendigung meiner Ausbildung, sehnte mich nach einem eigenen Kind und war mir doch schmerzlich bewusst, dass Steve anders darüber dachte. Zu meiner Überraschung eröffnete er mir jedoch, dass er bereit war, seinen Job für unsere Kinder aufzugeben und zu Hause zu bleiben. Bald darauf kündigte sich Julie an; dreieinhalb Jahre nach ihrer Geburt kam Joanna. Steve hat einen „mütterlichen Instinkt“, der den meisten Männern fremd ist, und erzählt jedem, sich um unsere Töchter zu kümmern sei der beste Job gewesen, den er je hatte.

Nach dem Abschluss meiner Ausbildung zogen wir in das südliche Florida und ein Jahr nach Joannas Geburt an Floridas Westküste. Ich war beruflich über die Maßen gefordert, bemühte mich jedoch, mich um die Mädchen zu kümmern, wenn ich zu Hause war. Steve musste aber Tag und Nacht da sein, für den Fall, dass ich wegen eines Notfalls alles stehen und liegen lassen musste.

Es ist nicht leicht, eine Neonatologin als Ehefrau oder Mutter zu haben; es ist eine Belastung für das Familienleben. Und so war es für uns eine große Erleichterung, als ein Partner in meine Praxis einstieg und wir, als sie immer größer wurde, schließlich Personal einstellten. Steve erledigte von zu Hause aus die Buchhaltung und das Rechnungswesen für unsere Praxis. Als wir jemanden zu seiner Unterstützung engagierten, richtete er sich in der Garage des Hauses, das wir inzwischen in der Nähe der Grundschule gebaut hatten, ein Büro ein. Bald koordinierte er dann auch noch die ehrenamtlichen Mitarbeiter in der Praxis des Schularztes und sprang oft selbst ein, wenn Not am Mann war. Er entwickelte und baute mehrere Spielgeräte, mit denen er sehr gut ankam. „Mr. Steve“ nannten ihn die Kinder, und das ist heute noch mein Spitzname für ihn.

Steve kümmerte sich um die Gartenplanung und die ausreichende Bewässerung der Pflanzen und begann sich um 1998 für das Kajakfahren zu interessieren. Er erfand eine Vorrichtung, die das Kajak auf geradem Kurs hielt, und eine, die es ihm ermöglichte, es mit Leichtigkeit auf seinen Transporter zu laden.

Als unsere ältere Tochter Musik zu machen begann, engagierte er sich wiederum ehrenamtlich und unterstützte das Jugendsymphonieorchester bei der Buchhaltung. Er war ein Mensch, den man immer um etwas bitten konnte, und dann konnte man sich darauf verlassen, dass es erledigt wurde. Das galt auch für die Arbeit, die er in unserer Praxis erledigte – zumindest, bis sich bei ihm Alzheimer zeigte.

KAPITEL 2


Wie es mit Steve „bergab“ ging

Zu Beginn dieses Kapitels möchte ich Steve mit zwei Äußerungen selbst zu Wort kommen lassen:

„Ich hatte das Gefühl, als würde ich irgendwie nachlassen. Irgendwie kam ich mit den Dingen schlechter zurecht und ich fühlte mich unausgefüllt. Ich hatte das Gefühl, als ginge etwas zu Ende, und es gab nichts, was die Leere ausfüllte. Die Arbeit wurde weniger wichtig für mich, genauso wie andere Dinge, zum Beispiel: etwas rechtzeitig zu erledigen oder die Fristen für die Steuer. Ich hatte das Gefühl, als würde ich irgendwann gefeuert werden, wenn ich für jemand anderen als meine Frau arbeitete.“

Rückblende auf 1980 – Steve mit 30 Jahren:

„Ich fühlte mich wie in einer Kiste eingesperrt und alles musste ‚genau so‘ gemacht werden, und das reichte mir nicht. Einfach nur die Steuern zu bearbeiten interessierte mich nicht mehr. Ich tat, was ich konnte, aber ich war froh, dass ich an dem medizinischen Zentrum aufhören konnte. Ich denke, sie haben sich dort gesagt: ‚Gut, dass der geht!‘ Ich hatte den alltäglichen Kram los und war froh, dass ich gehen konnte.“


Ein Rückblick auf sein Leben zeigt, dass es wohl bereits im Alter von 14 Jahren Anzeichen für Probleme mit dem Gedächtnis gegeben hat. Steve wollte American Football spielen [nicht zu verwechseln mit unserem Fußballspiel; dieses heißt ja auf Englisch soccer. – Anm. d. Übers.], behielt jedoch die Regeln nicht. Da er keine Ahnung hatte, was der Trainer von ihm wollte, hörte er wieder damit auf. Es war auch sein Wunsch, in der Kirche zu ministrieren, aber er bekam es nicht hin. Also wurde er vom Pfarrer „entlassen“.

 

In den ersten Jahren unserer Ehe hatte Steve große Schwierigkeiten mit den einfachsten Karten- oder Brettspielen und er mied sie, wann immer das möglich war. Natürlich half ich ihm, wenn er mein Spielpartner war, doch es war mir ein Rätsel, wie jemand, der sonst so intelligent war, solche Probleme beim Kartenspielen haben konnte. Waren das etwa frühe Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte? In einer neueren Studie wird behauptet, dass manche Menschen, die demenzkrank werden, ihr Leben lang Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis haben (Flory, 2000). Eine andere Studie ergab, dass Menschen mit einem Alzheimerrisiko aufgrund familiärer Belastung bereits mit 20 Jahren Abweichungen in der PET (Positronen-Emissions-Tomografie) zeigen können (Reiman, 2004).

Als wir mitten im Umzug nach Charleston waren, bewarb Steve sich um eine Stelle als Manager der städtischen Freizeitanlage. Doch jemand anders wurde ihm vorgezogen. Die Arbeit als Immobilienmakler, die er dann annahm, war nichts für ihn. „Ich hatte den falschen Job“, sagte er. So bekam er das Gefühl, dass er nirgendwo so recht hinpasste und keine Stelle richtig ausfüllen konnte.


Ein paar Jahre später hatte er bereits Schwierigkeiten, unsere Töchter zu verschiedenen Terminen zu bringen, während ich arbeitete, und ich rief oft an, um ihn daran zu erinnern. Doch es konnte sein, dass er es eine halbe Stunde später schon wieder vergessen hatte. Einige Jahre behalf er sich erfolgreich mit Notizzetteln, die er an seine Bürotür klebte.

In den Jahren 2001 und 2002 kamen häufige Fehler bei der Gehaltsabrechnung hinzu; auch versuchte er alles mögliche, um sich um die Fertigstellung der Steuerunterlagen zu drücken. Seine übrigen Aufgaben wie das Erledigen von Post und Bankangelegenheiten bereiteten ihm ebenfalls zusehends Probleme. Hinzu kam eine ernsthafte Depression, ein weiteres Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war. Steve verlor das Vertrauen zu sich selbst. Ein Psychiater, den wir aufsuchten, sprach von der Möglichkeit einer Demenz, doch die Depression könne ihre Ursache auch in den Gedächtnisproblemen haben, meinte er und verschrieb Antidepressiva.

Anzeichen und Symptome

Im Jahre 2003 zogen wir weiter in den Norden von Florida um, nach Spring Hill, wo ich als einzige Neonatologin auf der Neugeborenen-Intensivstation der örtlichen Klinik arbeitete. Für unsere Töchter änderte sich praktisch nichts, sie setzten ihre Schullaufbahn fort. Doch innerhalb weniger Monate wurde klar, dass Steve an weit mehr als nur einer Depression litt.

Ich wandte mich an die lokale Organisation für Alzheimerkranke und ihre Familien und Steve absolvierte verschiedene Tests, die alle noch normal waren, bis auf den Mini-Mental-Status-Test, einen Gedächtnistest, bei dem er nur 23 von normalerweise 29 oder 30 Punkten erreichte. Zwar stand die Diagnose Alzheimer damals schon im Raum, doch wollte der Arzt Steves Zustand noch nicht mit diesem Etikett versehen; er zögerte auch mit der Demenzmedikation, da Steve sie dann lebenslang hätte einnehmen müssen. (Denn eine Unterbrechung würde zu einer Verschlechterung führen, die auch durch das Wiederansetzen des Medikaments eventuell nicht behoben würde.)

Steve wurde alle 6 Monate erneut getestet und 2005 fiel sein Ergebnis auf 21 Punkte ab. Nun bekam er das Medikament Aricept, einen Cholinesterase-Hemmer. Cholinesterase-Hemmer verlangsamen den metabolischen Abbau von Acetylcholin, einem wichtigen Neurotransmitter, der an der Kommunikation der Nervenzellen beteiligt ist. Im Jahre 2006 kam das Medikament Namenda zu seiner immer länger werdenden Liste von Arzneimitteln hinzu. Namenda scheint die Hirnnervenzellen vor übermäßigen Mengen Glutaminsäure zu schützen, einem Botenstoff, der reichlich aus alzheimergeschädigten Zellen freigesetzt wird.

Nachfolgend zähle ich einige der Anzeichen und Symptome auf, die bei Steve im Laufe mehrerer Jahre dazu führten, dass die Diagnose Alzheimer in Betracht gezogen wurde.

Horten

In Steves Garage herrschte eine unglaubliche Unordnung. Sich dort zu bewegen glich dem Bewältigen eines Hindernisparcours. Eine logische Ordnung zu schaffen erwies sich als undurchführbar – nach wenigen Tagen war alles wieder beim Alten. Er verlegte immer öfter Dinge, suchte stundenlang danach, und wenn er sie fand, waren sie nicht mehr voll funktionstüchtig. Er konnte sich aber von nichts trennen, weil er glaubte, er werde es noch einmal brauchen.

Wenn er sich dann einmal dazu entschloss, seinen Anhänger zu beladen, damit wir einige Sachen zum Sperrmüll bringen konnten, suchte er stundenlang nach dem Haken, um ihn an das Auto zu hängen.

Manchmal kaufte er Dinge, die er nicht finden konnte, noch einmal; ein andermal kümmerte er sich einfach nicht mehr darum. Es kam vor, dass er nach „etwas“ zu suchen begann, wenn ich zur Arbeit ging, und dass er es noch nicht gefunden hatte, wenn ich wieder nach Hause kam; dann konnte er sich oft nicht einmal mehr daran erinnern, wonach er eigentlich suchte.

Dann verlegte oder verlor er auch seine Schlüssel und seine Brieftasche häufig; oft blieben sie tage- oder wochenlang verschwunden und wir wussten nicht, ob er sie einfach verloren hatte oder ob sie gestohlen worden waren. Schließlich musste er seine Kreditkarte zurückgeben.

Kajakfahren

Nach dem letzten Umzug kaufte sich Steve ein zweites, längeres, schnittigeres Kajak aus einem Katalog, doch anstatt damit aufs Wasser zu gehen, verbrachte er immer mehr Zeit damit, über das Kajakfahren zu sprechen und Zeitschriften darüber zu lesen.

Autofahren

Bevor die Alzheimerkrankheit ausbrach, konnte Steve instinktiv nahezu überall hinfahren, „immer der Nase nach“, wie wir oft sagten. Doch in Spring Hill kam er mit der Nord-Süd- und Ost-West-Ausrichtung der Straßen nicht mehr zurecht. Den Weg zu seinen Lieblingsorten und ein paar anderen Stellen konnte er schließlich behalten, doch sobald er das bekannte Territorium verließ, geriet er in Panik.

Wir stellten fest, dass er sich auch nicht mehr auf der Straßenkarte orientieren konnte, als er etwa 30 Minuten lang zu einem Zahnspezialisten fahren musste. Die Praxismitarbeiterinnen mussten ihn telefonisch lotsen, nachdem er ziellos in der Gegend umhergefahren war, und er kam 45 Minuten zu spät. Da ich an diesem Tag in der Klinik war, dirigierte ich ihn über das Telefon nach Hause, als er die Praxis verließ.

Wenn wir gemeinsam unterwegs waren, saß er meist noch selbst am Steuer, vergaß aber oft, wohin wir fahren mussten, und fragte mich. Ich nannte ihn inzwischen „Mr. Gegenteil“, denn er bog links ab, wenn ich sagte, er solle rechts abbiegen. Dieses Phänomen zeigte sich auch in anderen Situationen, in denen er das Gegenteil dessen tat, was er tun wollte. Es sah so aus, als wollte er lieber darauf setzen, dass er es zufällig (mit Raten) richtig machte – die Chancen standen ja 50 zu 50 –, als sich der Peinlichkeit des erneuten Nachfragens auszusetzen.

Weitaus dramatischer war, dass er, als er einmal hinter Joanna her nach Hause fahren sollte, mitten in der Nacht plötzlich ganz woanders ankam, weil er mit den Ausfahrten nicht klargekommen war. Ich beschwor ihn über das Mobiltelefon, in dem Hotel zu übernachten, das er entdeckt hatte. Am nächsten Morgen lotse ich ihn dann telefonisch nach Hause, wo er eintraf, kurz bevor ich zur Klinik musste. Das war der Tag, an dem er mir den Autoschlüssel in die Hand drückte und wir gemeinsam beschlossen, dass er nicht mehr Auto fahren sollte. Er kommentierte das so: „Wieder ein schlechter Fahrer mehr von der Straße weg!“

Eine solche Entscheidung beeinflusst nicht nur das Opfer der Krankheit, sondern auch die anderen Familienmitglieder, die nun zusätzliche Fahrdienste übernehmen müssen. Ich kann daher gut verstehen, dass es vielen Familien schwerfällt, den Betroffenen dazu zu bewegen, den Schlüssel abzugeben. Hinzu kommt noch, dass mancher Kranke sich seiner Krankheit gar nicht bewusst ist und nicht versteht, warum er plötzlich nicht mehr Auto fahren darf.

Lesen

Steve war immer ein passionierter Leser gewesen, der viel Zeit mit den Romanen seiner Lieblingsautoren Stephen King und Clive Cussler und mit der täglichen Lektüre der Zeitung verbracht hatte. Er ließ nie einen Comic aus, der dann am Frühstückstisch für Gesprächsstoff sorgte. Als er Schwierigkeiten mit dem Datum und den Wochentagen bekam, diente ihm die Zeitung eine Zeit lang als Orientierung, doch schließlich half auch das nicht mehr und sie interessierte ihn auch nicht mehr. Bücher, die ich ihm noch bis vor ein paar Jahren zu Weihnachten und zum Geburtstag schenkte, stapelten sich ungelesen. Er las nicht einmal mehr die Comics und sagte, sie seien einfach nicht mehr lustig.

Lange dachte ich, dass er Probleme mit dem Textverständnis habe, doch dann fand ich heraus, dass es einen physischen Grund dafür gab: Er erzählte mir, dass die Wörter unstet vor seinen Augen tanzten. Sie wurden zu kleinen Quadraten, wie Pixel auf einem Fernsehschirm, und bewegten sich in verschiedene Richtungen. Der Augenarzt fand keinen anatomischen Grund für Steves Leseschwierigkeiten.

Gespräche

Mit fortschreitender Krankheit wurde es für Steve immer schwieriger, sich ganz normal zu unterhalten, selbst mit mir. Sein Kiefer zitterte, wenn er nach Worten suchte; oft wusste er schließlich nicht mehr, was er sagen wollte. Er beteiligte sich immer weniger an Gesprächen, denn er wollte sich inmitten vieler Menschen einer solchen Situation nicht aussetzen.

Ich gehöre zu den Menschen, die nach der Arbeit über ihren Tag reden müssen, und zu Beginn unserer Ehe unterbrach Steve mich oft und sagte, er wolle von all dem nichts hören. Doch ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich das brauchte, um den Stress loszuwerden, und er gestand mir dafür eine Viertelstunde zu. Manchmal glaubte ich, dass er mich einfach ausblendete und nur vorgab zuzuhören; dennoch tat mir das gut, denn danach konnte ich es loslassen und mich um andere Dinge kümmern. Manchmal hörte er jedoch aufmerksam zu, gab entsprechende Kommentare und gute Ratschläge bezüglich verschiedener Probleme.

Als sich sein Alzheimer verschlechterte, hatte ich oft das Gefühl, als sei er auf einer ganz anderen Wellenlänge, und begann, mich einsam zu fühlen. Seine Persönlichkeit verblasste und er entglitt mir sozusagen. Er kam mir immer mehr vor wie ein Fremder und ich fühlte mich, als würde ich meinen Mann langsam, aber sicher verlieren.

Zuhören

Wenn ich etwas zu Steve sagte, auch nur einen kurzen Satz und so deutlich wie möglich, hielt er sich oft die Ohren zu und sagte: „Blablablablabla?“ Das hieß, ich musste es wiederholen, und das oft nicht nur einmal. Ich glaube nicht, dass er Probleme mit dem Gehör hatte, sondern eher mit dem Verständnis. Da er sich nicht daran erinnern kann, kann er mir auch nicht erklären, was in seinem Kopf vor sich ging, aber inzwischen kommt das nur noch selten vor.

Es kann äußerst stressig sein, wenn man praktisch alles wiederholen muss! Zuerst dachte ich, Steve ignoriere mich absichtlich oder höre nicht zu, doch schließlich verstand ich, dass die Worte einfach nicht ankamen. Es wurde mir auch klar, dass ich Augenkontakt zu ihm suchen und ganz einfach sprechen muss, wenn ich seine Aufmerksamkeit gewinnen will. Mittlerweile weiß ich, dass ich ihm schrittweise sagen muss, was er tun soll, zum Beispiel beim Anziehen: Zuerst soll er ein T-Shirt aussuchen, und wenn das erledigt ist, eine Hose, und dann helfe ich ihm damit, dass beides gut zusammenpasst.

Eine neuere Studie ergab, dass demenzkranke Menschen es nicht mögen, wenn man mit ihnen wie mit Kindern spricht, und dass sie sich dann der Hilfe eher widersetzen (Williams, 2008). Es ist jedoch nicht leicht, mit jemandem auf ganz einfache Weise zu sprechen und trotzdem wie mit einem Erwachsenen.

Kochen und Essen

Steve war jahrelang ein kreativer und begabter Koch, der häufig auf fantasievolle Weise das Essen für die Familie zubereitete. Nach unserem Umzug nach Spring Hill kochte er immer seltener. Wenn ich arbeitete, stellte er manchmal ein Fertiggericht in die Mikrowelle und vergaß es dort.

Als wir in unserem neu gebauten Haus einen Gasherd installieren ließen, kam es auch vor, dass er das Gas an- statt abstellte. Jetzt kocht Steve nur noch selten, und wenn er es tut, dann geht er mir dabei nur zur Hand, schneidet zum Beispiel Gemüse und rührt im Topf.

 

Im Sommer 2007 vergaß er sogar, für sich selbst etwas zum Essen herzurichten, wenn ich noch in der Klinik war oder wieder gerufen wurde, bevor ich das Abendessen zubereiten konnte. Das hatte vorher meist besser funktioniert. Wenn ich ihn dann fragte, ob er gegessen habe, bejahte er das immer und sagte, er habe keinen Hunger. Doch bald stellte sich heraus, dass er innerhalb von drei Wochen 4,5 Kilo abgenommen hatte und sehr schmal geworden war.

Plötzlicher Gewichtsverlust kann eine deutliche Verschlechterung der Alzheimerkrankheit anzeigen, von der sich die betroffene Person nicht mehr erholt. Er wurde damals auf einen anderen Cholinesterase-Hemmer eingestellt (Exelon), doch ohne sichtbare Wirkung, und ich verlor allmählich die Hoffnung, dass es ein Medikament gab, das den Verfall stoppen würde. Ich richtete mich mit 55 Jahren darauf ein, vor Erreichen meines 60. Lebensjahres Witwe zu sein.

Von da an sorgte ich für ein kräftiges Frühstück und stellte ihm ein Mittagessen auf den Tisch, in der Hoffnung, er würde es bemerken und essen. Manchmal tat er das, manchmal nicht. Meist kam unsere jüngere Tochter vorbei und kümmerte sich darum, dass er aß.

In den letzten paar Jahren, bevor wir mit dem Kokosöl begannen, aß Steve im Laufe des Abends oft sehr viel Obst. Seit ich weiß, dass bei der Alzheimerkrankheit Probleme mit der Aufnahme von Glukose in die Nervenzellen möglich sind, frage ich mich, ob sein übermäßiger Obstkonsum mit einem heftigen Verlangen nach Zucker zu tun hatte (Klein, 2008; Zhao, 2008; De la Monte, 2005). Sein Nüchternblutzucker wurde bei mehreren Gelegenheiten bestimmt und war normal, sodass Diabetes als Ursache für den Gewichtsverlust und den Obstkonsum ausgeschlossen werden konnte. Also könnte das übermäßige Verlangen nach etwas Süßem ein Symptom von Alzheimer und anderer, ähnlich gelagerter neurodegenerativer Erkrankungen sein. Meine Großmutter mütterlicherseits starb mit 93 Jahren an „seniler Demenz“, höchstwahrscheinlich war es Alzheimer. Auch sie schien ein großes Bedürfnis nach Süßem zu haben, denn sie trank täglich viele Tassen Tee, süßte jede mit 12 Löffeln Zucker und beklagte sich darüber, dass er nicht süß genug sei. Ein anderer Verwandter, der ebenfalls an Demenz starb, hatte ein Alkoholproblem. Nach meinem Dafürhalten war es eher der Zucker und nicht der Alkohol, der ihn zum übermäßigen Trinken verführte.

Ich stieß auf eine Studie, die ergeben hatte, dass es bei Menschen mit exzessivem Alkoholgenuss 7 Jahre früher zur Entwicklung einer Demenz kommt als bei solchen, die wenig oder gar nicht trinken. Könnte das Verlangen nach Alkohol ein Frühsymptom, aber nicht unbedingt ein ursächlicher Faktor für den Beginn der Krankheit sein? Ich fragte im Internetforum einer Alzheimer-Diskussionsplattform, ob jemand bei seinen erkrankten Angehörigen ähnliche Erfahrungen mit dem Verlangen nach Süßem gemacht habe: Die zustimmenden Rückmeldungen waren überwältigend. (Die Probleme mit der Zuckerverwertung bei Menschen mit Alzheimer werden in Kapitel 14 ausführlich erörtert.)

Leben in Zeitlupe

Ein Buch von Nancy Mace und Peter Rabins über die Pflege von Alzheimerkranken trägt den treffenden Titel Der 36-Stunden-Tag (München: Huber, 1988). Wenn ein Familienmitglied an Alzheimer erkrankt ist, spielt sich das Leben von einem bestimmten Punkt an nur noch in Zeitlupe ab. Dinge, die die meisten von uns erledigen, ohne nachzudenken, können für den Kranken ebenso wie für die helfende Pflegeperson zu einem enorm zeitaufwendigen Unterfangen werden.

Auch wenn Steve sich noch so große Mühe gibt, seine Unterwäsche anzuziehen, nachdem er sie lange und eingehend untersucht hat, zieht er sie schließlich verkehrt herum an – auch nach mehrfachen Versuchen –, bis er schließlich keine Lust mehr hat und sie so lässt. Manchmal lässt er sich von mir helfen, manchmal nicht. Wenn es nicht darauf ankommt, sehe ich darüber hinweg. Wenn wir aber außer Haus gehen, hat er ein Problem, falls er eine öffentliche Toilette aufsuchen muss, und da ich das weiß, muss ich ihn davon überzeugen, dass er sich helfen lässt.

Und so geht es mit jedem weiteren Kleidungsstück. Der erste Versuch geht meist daneben, manchmal schafft er es im nächsten Anlauf, manchmal nicht. Ich möchte, dass er so viel wie möglich selbst macht, doch es ist quälend, zusehen zu müssen und nicht einzugreifen, den Prozess nicht zu beschleunigen, vor allem, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Haus gehen müssen. Auch meine Versuche, ihn zuerst vollständig anzukleiden und dann warten zu lassen, bis ich fertig war, schlugen meist fehl: Wenn ich nach einer kurzen Dusche aus dem Bad kam, konnte es sein, dass er sich wieder vollständig ausgezogen hatte.

Am schlimmsten ist: Steve weiß ganz genau, dass er das alles einmal konnte und jetzt nicht mehr kann. Ich kann nur versuchen, mir vorzustellen, wie demütigend und frustrierend diese Abhängigkeit für jemanden sein muss, der früher so kompetent war.

Mit fortschreitender Krankheit kann die Pflegeperson den Alzheimerkranken nicht mehr sich selbst überlassen, er muss ständig beaufsichtigt werden. Ich versuche ein paar Stunden früher aufzustehen, um ein wenig Zeit für mich zu haben und mehr oder weniger wichtige Dinge zu erledigen, solange mein Mann noch schläft. Denn sobald er die Küche betritt, dreht sich alles nur noch um ihn und seine Bedürfnisse. Ob es darum geht, eine Tasse Kaffee einzuschenken, etwas zu essen zu richten, seine Medikamente zu holen und die richtigen einzunehmen – all das ist zu meiner Aufgabe geworden.

Er möchte mir so gerne helfen, doch er räumt das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, bevor er das saubere ausgeräumt hat, und den Müll kann er auch nur mit meiner Hilfe hinaustragen. Das ist einfacher für mich und er hat dann das Gefühl, dass er etwas tun kann, um mir zu „helfen“.

Im Frühjahr 2008 gestand er mir, dass er sich nicht mehr an Julies Kindheit erinnern konnte; er wusste nicht einmal mehr, dass er ihr Vater ist, obwohl er sich hauptsächlich um sie gekümmert hat, als ich arbeitete. Er würde sie und ihre Schwester, ja selbst mich, in nicht allzu ferner Zukunft wohl nicht mehr erkennen – ein erschreckender Gedanke.

Die Art zu gehen

Steve, der körperlich immer sehr stark gewesen war und zum Ringerteam seiner Schule gehört hatte, stellte im Sommer 2007 fest, dass er nicht mehr schnell laufen konnte. Bis zum Winter 2008 war sein Gang langsam und bedächtig geworden, da er seine Füße höher hob als normal. Eine Krankenschwester sagte, das sei typisch für viele Menschen mit Alzheimer und ein Zeichen dafür, dass der Krankheitsprozess in den Arealen des Gehirns angekommen war, die die Bewegung steuern. Seine „Arbeit“ im Hof verlief in Zeitlupe, ohne Energie, und er brachte kaum etwas zu Ende. Die Wasserschläuche, die er zu „ordnen“ versuchte, lagen auf den Gartenwegen herum, sodass kaum jemand, geschweige denn jemand in seinem Zustand, durchkam.

Pfeifen

Steve hat immer gerne gepfiffen, er hatte ein großes Repertoire und „unterhielt“ sich mit den Vögeln, indem er ihren Gesang nachahmte. Ich wusste, dass es ihm gut ging, wenn er bei der Arbeit pfiff, und das machte mich glücklich.

Mit dem Einsetzen und der Verschlechterung der Alzheimerkrankheit schrumpfte sein Repertoire auf immer dieselben acht Töne, und das machte mich wahnsinnig. Es hörte sich mehr wie ein nervöser Tic an und nicht wie eine fröhliche Melodie. Inzwischen hat er wieder Gefallen an der Musik gefunden und pfeift auch Lieder mit. Wenn er sich schlecht fühlt, hebt die Musik fast immer seine Stimmung.

Der Umgang mit Schuhen

Manche Dinge, die ein Alzheimerpatient tut, wirken lustig und scheinen nicht erklärbar zu sein. Beispielsweise lief Steve ein gutes Jahr lang oft nur mit einem Schuh herum, meist dem linken. Manchmal hatte er auch nur eine Socke und keine Schuhe an. Dafür lagen alle linken Schuhe auf einem Haufen in der Kammer oder neben dem Garagentor, rechte Schuhe waren nicht dabei. Ich machte ihn darauf aufmerksam, aber es interessierte ihn nicht. Also kauften wir vier oder fünf Paar vom gleichen Typ auf einmal, damit wir zwei zusammenpassende Schuhe fanden, wenn wir aus dem Haus gehen mussten. Eine gute Idee? Nein! Und dann war es nicht mehr ganz so lustig, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt weg mussten und sich trotz der vielen Schuhe kein zusammenpassendes Paar im Haus finden ließ.