Zuagroast

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Es kam selten vor, dass Paul sprachlos war. Aber auf diese Aussage wusste er tatsächlich nichts zu erwidern. Hatte diese Landpomeranze gerade sein Einrichtungskonzept infrage gestellt?

Und das Schlimmste war, sie hatte auch noch recht. Er musste an die Frankfurter Küche im Wiener MAK denken. Die Frankfurter Küche wurde 1926 im Rahmen des Projekts Neues Frankfurt von Ernst May initiiert und von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky ausgearbeitet. An den sichtbaren Stellen war diese Küche blaugrün gestrichen, da Wissenschaftlern der Universität Frankfurt zufolge Fliegen blaugrüne Flächen meiden. Warum hatte er daran nicht gedacht, als er die Küche geplant hatte?

Paul drehte sich wortlos um und ging aus dem Raum. Heute war wirklich nicht sein Tag.

Er spürte Ärger in sich hochkochen. Wie eine riesige Welle durchflutete ihn die Wut und verbreitete ein Gefühl tiefer Unruhe und Ohnmacht.

Es ärgerte ihn, dass der Bürgermeister von Buchschachen seine Visionen nicht geteilt hatte. Er wollte hier wirklich etwas auf die Beine stellen. Eine Ferienanlage mit Zweitwohnsitzen, die cooler und stylischer waren als diese fantasielosen Blöcke mit den winzigen Fenstern und den grässlich bunten Fassaden, mit denen die Siedlungsgenossenschaften sonst das Land verschandelten. Moderner, minimalistischer Luxus. Ein Projekt, das urbane Leute mit Stil und Geschmack ansprach. Leute wie ihn selbst. Die Architektur musste beeindrucken, aber gleichzeitig auch dieses neue allumfassende Bedürfnis nach Entschleunigung erfüllen. Die Gegend hier war ideal. Rund eine Stunde von Wien und Graz entfernt und somit für die urbane Zielgruppe leicht erreichbar. Und wenn man erst einmal die hässlichen Durchzugsstraßen mit den Hunderten Kreisverkehren verließ, war es hier atemberaubend schön und idyllisch. Sanfte Hügel, unberührte Natur, Weinberge. Hier sah es stellenweise aus wie in der Toskana. Eine Enklave für Ruhesuchende. Perfekt auch als Refugium für Promis. Er könnte auch noch in der Natur versteckte Häuser für diese Klientel planen. Die hätten so ihre Ruhe. Die Einheimischen hier waren ein angenehm simpler Menschenschlag, nicht so stur wie die Tiroler oder so bockig wie die Oberösterreicher. Die Südburgenländer waren irgendwie freundlich devot. Als Promi konnte man hier echt in Frieden leben, dachte er. Kein Wunder, dass der Frank Hoffmann, der Andreas Vitasek, der Gery Keszler, die Konstanze Breitebner, der Günther Mokesch und die Elke Winkens hier bereits Häuser hatten. Angeblich hatte sogar David Bowie mal ein Haus in Stadtschlaining gesucht. Promis waren hier im Südburgenland sicher. Die eine Hälfte der Bevölkerung war zu hinterwäldlerisch, um diese überhaupt zu erkennen, und die andere zu schüchtern, um sie anzusprechen und zu belagern.

Paul wusste, er musste sich noch einmal mit dem Zieserl zusammensetzen, wenn er dieses Projekt auf die Beine stellen wollte. Es ärgerte ihn, dass er hier im Süden einen neuen Verbündeten brauchte, ohne den er bei seinen Plänen nicht weiterkam. Ein Partner, das war für ihn ein Zeichen von Schwäche. Aber er war auf fremdem Territorium. Im Nordburgenland war er der Rädelsführer gewesen. Er hatte die Regeln gekannt, die Schlüsselfiguren. Jetzt fischte er in unbekannten Gewässern. Er brauchte den Harald, um ihn hier durchzuführen, um ihn zu leiten. Aber dieses Gefühl der Ohnmacht ärgerte ihn auch. Er kannte die Gesetze der Natur. Nur die Stärksten überleben. Er musste das richtige Kräfteverhältnis wiederherstellen. Und er wusste auch schon wie. Wie hatte Haralds Frau noch mal geheißen? Sylvia? Er tippte den Namen ins Handy, kam direkt zu ihrem Social-Media-Konto. Er grinste selbstzufrieden, als er das Profilfoto sah, auf dem Sylvia mit geschürzten Lippen posierte. Dann schickte er die Freundschaftsanfrage ab.

Kapitel 7
Paul, der Narzisst

Schmetterlinge gelten als Delfine unter den Insekten, dabei sind es eigentlich grausliche Viecher. Sie süffeln hingebungsvoll an Blut, Schweiß und Tränen oder laben sich an Aas. Vereinzelt trinken Schmetterlinge auch ihren eigenen Urin. Und das mit so viel Hingabe, dass sie es nicht einmal bemerken, wenn man sie dabei fängt.

Der nächste Tag begann für Eva so wie immer. Mit einer Flut von Vorwürfen. »Warum isst du denn nichts? Setz dich da her, wie andere Frauen das auch tun, setz dich einfach her und iss endlich was. Sei doch bitte so lieb.«

Eva zog es den Magen zusammen. Sie hatte null Appetit. Aber sie wollte den häuslichen Frieden nicht schon wieder riskieren. Schon Carla zuliebe. Für Paul war das sonntägliche Familienfrühstück wichtig. Am liebsten auf der Terrasse, damit die Nachbarn sehen konnten, wie glücklich die Achleitners waren. Eine echte Vorzeigefamilie.

Vielleicht stand er deswegen auch so auf Häuser mit Glasfronten. Da war das inszenierte Bilderbuchleben quasi im permanenten Ausstellungsmodus.

Der Terrassentisch war ein Stahlgestell mit einer Platte, die aus einem einzigen Stück Eiche geschnitten war. Die Bänke rundherum waren mit grauen Schaffellen belegt. Es war ja erst Mai. Eva hatte den Tisch mit schwerer grauer und schwarzer Keramik gedeckt, die sie bei einer angesehenen lokalen Künstlerin in Stadtschlaining gekauft hatte. Die Keramikerin Petra Lindenbauer produzierte auch die Tableware für berühmte Sterneköche wie den Heinz Reitbauer, den Silvio Nickol oder den Konstantin Filippou. Das ganze Ambiente wirkte exklusiv nordisch. Paul mochte nordisches Design. Nur nordisches Essen mochte er nicht so. Für Gerichte mit Moos und Flechten hatte er nichts übrig. Eva hatte Rührei mit Schinken zubereitet, eine Käseplatte mit Nüssen und Apfelspalten gerichtet und einen Striezel und ein Vollkornbrot gebacken. Ohne Brotbackmaschine. Paul mochte es nicht, wenn die Brote vom Rührhaken der Maschine ein Loch im Boden hatten. Außerdem hatte sie einen Smoothie aus Himbeeren, roten Rüben, Ingwer und Kurkuma gemixt. Jetzt musste sie nur noch den Kaffee fertigmachen.

»Du wirkst so unentspannt, kriegst die Regel?« Paul liebte es, ungefragt Evas Zustand zu interpretieren. Blass, unzufrieden, unausgeglichen, nervös. Das waren die Attribute, mit denen er sie gerne bedachte, sogar wenn sie nur ruhig und gemütlich Sachen erledigte oder so wie gerade eben Kaffee kochte. Du bist dies, du bist das. Du bist immer irgendwas.

Eva lächelte bemüht, ging an Paul vorbei hinaus zur Terrasse und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. »Ich hol nur noch schnell die Marmelade.« Sie ging zum Vorratskasten, der optisch dezent in die Küchenfront integriert war und drückte leicht dagegen. Die Tür sprang auf. Quitte mit Chili, Weinbergpfirsich mit Zitronenverbene, Rosengelee … Eva hatte es sich eine Zeit lang zum Hobby gemacht, ausgefallene Marmeladensorten einzukochen. Allerdings waren die bei ihrer Familie auf wenig Gegenliebe gestoßen. Paul aß in der Früh lieber deftig, und Carla mochte nur klassische Sorten. Eva griff nach einem Glas Erdbeere mit weißer Schokolade. Die würde bei Carla gerade noch als »normal« durchgehen.

Als sie auf die Terrasse zurückkam, standen zu ihrer Überraschung Vera und Letta da. »Wir haben uns in Oberwart E-Bikes ausgeborgt und wollten einen Ausflug zur Meierhofermühle machen, aber ich glaub, wir haben uns verfahren.« Vera wirkte erhitzt: »Wir wollen aber nicht stören. Ich wollt nur fragen, ob ich kurz mein Handy bei dir aufladen kann oder deines benutzen darf. Ich hatte Google Maps an, und das hat so am Akku gesaugt, dass der jetzt leer ist. Nur ohne Maps finden wir den richtigen Radweg nie.«

»Ihr stört überhaupt nicht, setzt euch zu uns. Wir wollten gerade frühstücken, habt ihr Hunger?«, sagte Paul jovial.

Letta blickte gierig auf die Pfanne mit Rührei und Schinken, die in der Mitte des Tisches stand. »Also gut, aber nur, wenn es euch wirklich nichts ausmacht.«

»Auf gar keinen Fall, wir freuen uns riesig, bitte bleibt ein bisschen. Carla, steckst du bitte Veras Handy im Haus an.«

Menschen, die ihm förderlich erschienen, lud Paul gerne an seinen Tisch sein. Bei ihrem Besuch am Vortag hatte er Vera kaum beachtet, dann hatte er erfahren, dass sie Journalistin war. Und das hatte die Sache natürlich sofort verändert. Er wollte sofort alles über ihre Netzwerke und Kontakte wissen. Das konnte er ja jetzt bitte selbst herausfinden.

Eva war die perfekte Gastgeberin. »Ich hol euch gleich Teller und Besteck, Kaffee für dich, Vera. Letta, magst du einen Kakao? Ich hab auch einen Smoothie gemacht, mit Kurkuma, der soll ja so gesund sein.«

»Kann ich bitte auch einen Kaffee haben?« Carla blickte Letta bewundernd an. Dass die schon Kaffee trinken durfte. Aber Letta sah auch erwachsener aus als sie selbst, erwachsen und exotisch, wie die albanische Sängerin Dua Lipa, die auch schon mit 15 alleine in London gelebt hatte. Carla war ein großer Fan von Dua Lipa.

»Mit viel Milch bitte«, sagte Vera hastig.

»Ich hol nur schnell mein Tablet, dann zeig ich dir Bilder von meinen Projekten«, sagte Paul eifrig. Eva wusste, was jetzt kommen würde. Paul würde solange über sein iPad wischen, Bild nach Bild zeigen und sich in detailreichen Beschreibungen und Selbstbeweihräucherung verlieren, bis der Kaffee und die Rühreier eiskalt geworden waren. Ihr perfektes Frühstück wäre für die Katz gewesen.

»Schatz, lass uns doch zuerst essen«, sagte sie betont freundlich.

»Ist schon okay«, sagte Vera. »Ich bin nicht hungrig, und es interessiert mich wirklich. Ich hab mir schon einige deiner Projekte im Internet angesehen. Sieht toll aus.«

Die Sonne ging in Pauls Gesicht auf.

Eva dachte an die unzähligen Situationen, als sie anhimmelnd neben ihm stehen musste. Paul erwartete Zuspruch, was immer er auch tat. Sogar wenn er ein Bild aufhängt, will er, dass ich dabeistehe und jeden Hammerschlag benicke, dachte sie.

 

Sie griff nach ihrer Kaffeetasse und beobachtete Paul und Vera. Paul, der redete und erklärte, als ginge es um sein Leben, und ihre neue Freundin, die freundlich lächelte und interessiert schaute. Er war charmant, eloquent, witzig. Natürlich fand sie Paul toll. Alle taten das.

Letta und Carla hatten sich schon längst in Carlas Zimmer zurückgezogen. »New Rules«, ein Lied von Dua Lipa drang durch die geschlossene Tür.

»Now I’m standin’ back from it, I finally see the pattern

I never learn, I never learn.«

»Drehts die Musik leiser«, brüllte Paul.

»I finally see the pattern.« Ich sehe endlich das Muster, dachte Eva.

Paul gab Vera das Gefühl, dass er sich für sie interessiere. Er imitierte perfekt den angeregten Gesprächspartner. Dabei tastete er nur ab, wie er sie sich später einmal zunutze machen konnte. Eva hatte zum zweiten Mal in dieser Woche das Gefühl, dass sie die Einzige war, die Paul durchschaute – wie die Zuseherin in einem Theaterstück.

Früher, in einer anderen Zeit, hatte Paul sich auch Eva gegenüber so verhalten. Hatte sie umgarnt, umschmeichelt, eingelullt. Er war verrückt nach ihr gewesen. Dass sie so unerfahren war, hatte er entzückend gefunden. Dass sie ihn bewunderte und sich gerne und willig leiten ließ, hatte seinem Ego geschmeichelt. Sie war seine Traumfrau gewesen, die einzige Frau, die er je heiraten wollte und die er auch geheiratet hatte. Seine Vorzeigeehefrau. Er wusste auch nicht, was aus dieser Frau geworden war. Sie war irgendwann verschwunden. Stattdessen war jetzt diese weinerliche, unfähige Person an seiner Seite, für die er zunehmend nur noch Verachtung empfand.

Aus Evas Sicht sah das Ganze etwas anders aus. Je mehr Eva versuchte, sich von ihm zu distanzieren und zu emanzipieren, desto mehr tat er alles in seiner Macht Stehende, um sie klein zu halten. Paul war ein guter Rhetoriker. Er hatte immer schon verstanden, Eva in ihrer Meinung über andere Menschen zu beeinflussen. Er säte so lang Zweifel, bis sie ihrer eigenen Meinung nicht mehr traute. Fast wäre ihm das auch mit ihren Eltern gelungen.

»Dass du so ein Psycherl bist, liegt sicher an deiner Kindheit, deine Eltern haben dich zu wenig geliebt.« Evas Proteste blieben ungehört. Paul lachte nur verächtlich und wusste es besser. Das sei ja typisch für eine psychisch Kranke wie sie. Sie würde es einfach nicht einsehen wollen, dass sie ein Problem hätten. Und Kindheitstraumata würde man halt verdrängen. Das wüsste doch jeder! Was hätte sie da noch sagen sollen? Der Stich ging mitten ins Herz. Eva hatte geheult. Paul hatte die Heulerei als hysterisch und verrückt bezeichnet. Typisch für eine Mimose wie sie. Aber er hatte erreicht, was er wollte. Er hatte sie verunsichert. Eva lag nächtelang grübelnd im Bett und dachte über ihre Kindheit nach. War da tatsächlich etwas vorgefallen? Hatten ihre Eltern sie wirklich nicht geliebt? War sie etwa nicht liebenswert genug gewesen? Ihr Verstand sagte ihr, dass sie ein ganz normales mittelprächtiges Verhältnis zu ihren Eltern hatte. Im Gegensatz zu Paul, der für seine ehemals berufstätige Mutter nur abschätzige Verachtung übrighatte. »Ein karrieregeiles Weib, das familiär über Leichen gegangen ist, bloß um eine überforderte Sekretärin ohne Aufstiegschancen zu werden.« Das war nicht seine Vorstellung von Familienleben.

»Würmchen, träumst du schon wieder, mach uns noch einen Kaffee, der ist ja schon ganz kalt.«

Pauls Stimme schreckte Eva aus ihren trüben Gedanken hoch.

»Nein, lass nur«, sagte Vera, »wir müssen echt weiter. – Letta!« Sie rief den Namen ihrer Tochter laut Richtung Haus. Aber der Ruf hatte gegen Dua Lipas lautstarken Gesang keine Chance.

»Ich hol sie schon«, sagte Eva. »Carla wird enttäuscht sein, dass ihr schon fahrt. Sie findet Letta toll. Das hat sie mir nach der Tanzstunde gesagt. Außerdem hasst sie es, hier nur mit uns rumzusitzen.«

»Letta auch. Sie kann uns ja morgen besuchen kommen«, sagte Vera.

»Wir hören uns, du kannst ja mal über mich schreiben«, sagte Paul und küsste Vera auf die Wangen. Ein Hauch Terre d’Hèrmes blieb an ihr hängen. Paul ging mit federnden Schritten zum Haus zurück. Vera und Letta radelten davon.

Eva machte sich daran, das Geschirr abzuräumen. Pauls Tablet lag noch immer auf dem Terrassentisch. Sie sah eine Push-Nachricht im Facebook Messenger aufpoppen. Ihr Blick blieb am Display hängen. Sie erstarrte, als sie den Text las: Sylvia Zieserl hat deine Freundschaftsanfrage bestätigt.

Trauerarbeit
Akt 4

Zweieinhalb Monate nach seinem Tod ging ich für die Trauerbewältigung zu einer Psychologin. Es hat mir genau gar nichts gebracht. Sie hat gemeint, ich müsse lernen zu verzeihen. Was für ein Schwachsinn. Sie hat nur meinen Verdacht bestätigt, dass die Leute Psychologie studieren, weil sie selbst einen Pecker haben. Meine Freunde meinten, sie hörten mir zwar gerne zu, aber wirklich helfen könnten sie mir nicht. Ich war allein.

Kapitel 8
Eva bei der Nachbarin

Im Mittelalter gestand die Justiz Tieren Gefühle, ein Bewusstsein und in Folge auch Schuldfähigkeit zu. In einem Prozess des Jahres 1520 wurden Holzwürmer angeklagt, Möbel beschädigt zu haben. Auch Maikäfer gerieten ins Visier der mittelalterlichen Justiz: Sie hatten Felder leer gefressen und erhielten drei Tage Zeit, sie wieder zu verlassen.

Eva hatte lange überlegt, wie sie sich bei der Nachbarin für die regelmäßige Eierlieferung revanchieren konnte. Nachdem sie tagelang darüber nachgedacht hatte und ihr keine zündende Idee gekommen war, hatte sie sich für ein eingetopftes Usambaraveilchen und eine Flasche Prosecco entschieden. Damit lag sie goldrichtig. Die Nachbarin hatte bereits eine ganze Sammlung Usambaraveilchen in allen Lilaschattierungen im Stiegenhaus stehen.

Eva hatte gewusst, dass die Nachbarin daheim war, weil es aus dem Schornstein des Hauses wild rauchte. Die Nachbarin heizte nicht, sie verheizte. Kartons, Altpapier, alle Werbebroschüren der Supermärkte, die der Postler täglich brachte. Verheizen, das war auf dem Land für viele die traditionelle Art der Müllbeseitigung. Manchmal nahm der Rauch, der über ihrem Haus in den Buchschachener Himmel aufstieg, seltsame Farben an, war lilablau wie die Usambaraveilchen und stank widerlich. Eva wollte gar nicht wissen, was die Nachbarin an solchen Tagen alles verheizte.

Paradoxerweise legten die Nachbarn, die regelmäßig Dreck in den Himmel jagten, in ihrem unmittelbaren Umfeld größten Wert auf Sauberkeit. Das kündigte schon die Türmatte an. »Füße und Pfoten bitte abtreten.« Ein Malteser kam kläffend herbeigelaufen, als Eva läutete. Sein Fell war makellos weiß, von der Hundefrisörin gebleicht. Die Türglocke spielte »The Final Countdown« von Europe. »Der Heinzi, mein Mann, mag das Lied so gerne«, sagte die Nachbarin erklärend. »Dabei spielens das eh jeden Tag im Radio. Ich mag ja lieber den Andreas Gabalier. Aber den kann der Heinzi auf den Tod nicht ausstehen. Ich glaub, der ist ein bisserl eifersüchtig auf den Andi.«

Eva überreichte ihre Mitbringsel. Die Nachbarin war hocherfreut. »Den Prosecco mach ma gleich auf, und dann erzählst mir, wie ihr euch so eingelebt habt.« Sie war eine kleine kräftige Person Mitte 50 mit einer Frisur, die Eva an die früheren Playmobilfiguren ihrer Tochter erinnerte. Ein dunkelbrauner Farbhelm. Dunkelbraun waren auch ihre Leggings. Farblich abgestimmt auf das beigefarbene lange T-Shirt mit dem goldbraunen Print. An den Füßen trug die Frau goldene Sandalen mit Klettverschluss und Keilabsätzen. Ein konsequenter Versuch, Bequemlichkeit mit einem individuellen Modeanspruch zu vereinen. Die Nachbarin hatte sich in der Früh geschminkt. Jetzt waren nur mehr Reste des braunroten Lippenstiftes übrig. Durch die tätowierte Lippenkontur stach das Fehlen der Lippenfarbe noch stärker hervor. Die Augenbrauen fehlten ebenfalls. Statt Härchen saßen dort dunkelbraune Striche. Die Striche wanderten rhythmisch in die Höhe, wenn die Nachbarin sprach. »Komm herein. Aber bitte putz dir die Füße ab.« Der Malteser schnüffelte an Evas Beinen, sprang an ihr hoch und versuchte, sie zu begatten. »Butzi, lass das. Pfui, Butzi. Schäm dich, Butzi.«

Die Nachbarin schubste Butzi mit dem Fuß weg. Der schnappte nach dem Klettverschluss der Sandale, ergriff dann aber kläffend das Weite. Seine gebleichten Pfoten rutschten beim Laufen über den Laminatboden in Buchenoptik. »Entschuldige bitte«, sagte sie, »der Butzi freut sich immer so, wenn Besuch kommt.«

Sie bat Eva ins Wohnzimmer, das penibel aufgeräumt war. Vermutlich war alles an umherliegendem Mist zuvor verheizt worden. Der Kachelofen war noch warm. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein gehäkeltes Spitzendeckerl. Die Nachbarin holte Korkuntersetzer, legte diese auf das Spitzendeckerl und platzierte die Sektgläser darauf. Bleikristall. Einen Aschenbecher aus Bleikristall gab es auch, aber geraucht wurde hier nicht. Im Aschenbecher lagen die Rabattmarkerl einer Supermarktkette. Eva blickte sich um, Einbaumöbel aus Kirsche, überall Nippes. Engel, Porzellanrosen. Ein Kalender mit Sprüchen. »Ehrlichkeit ist ein teures Geschenk, das man von billigen Menschen nicht erwarten kann«, stand da.

»Nett habt ihr es«, lobte Eva höflich.

»Ja gell, den Einbauschrank hat uns ein Tischler aus der Oststeiermark gemacht, der arbeitet super sauber, der saugt sogar den ganzen Dreck selber weg. Mit dem kann man auch reden, wegen der Rechnung.« Sie zwinkerte Eva verschwörerisch zu. »Falls ihr mal wen in der Richtung braucht.«

»Du, danke, aber der Paul hat da eh seine Kontakte.«

»Ich wollt es nur gesagt haben.« Die Nachbarin wirkte ein bisschen eingeschnappt.

Eva blickte aus dem Fenster. Auf der Konifere vor dem Wohnzimmerfenster balancierte ein Vogel. Eine Fliege kroch über die Scheibe, aber sie würde nicht mehr lange kriechen. Eine pestizidgetränkte Klebeblume versperrte ihr den Weg. Orangefarbene Vorhänge und gelbe Gardinen schufen einen dramatisch farbstarken Rahmen für ihren schleichenden Tod.

Die Nachbarin öffnete eine Schachtel mit Knabbergebäck. Party-Mix vom Diskonter.

»Jetzt erzähl einmal, wie es dir geht, ich bin ja froh, dass wir endlich wieder Nachbarn haben. Schon wegen den Einbrechern. Man fühlt sich einfach sicherer. Es steht ja so viel leer im Dorf. Die Jungen wollen nichts übernehmen und ziehen weg, und dann verfällt alles. Oder sie streiten sich ewig übers Erbe. Es will ja keiner mehr was arbeiten. Hast du gehört, dass der Michelbauer oben an der Kreuzung seinen Buben enterbt hat? Weil der ist spielsüchtig. Computerpoker. Da würd nur alles den Bach runtergehen. Da ist es besser, er lasst den Buam durch die Finger schauen und verkauft den Arkadenhof teurer an so an depperten Zuagroasten.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Euch hab ich natürlich nicht gemeint, ich rede von den anderen Wienern.«

Eine betretene Pause entstand. Die Nachbarin griff zum Glas.

»Schön, dass ma endlich einmal auf unsere Nachbarschaft anstoßen können!« Sie prostete Eva zu. »Ich seh’ dich immer so fleißig im Garten, hast neue Beete angelegt, gell.«

Eva nickte. »Wir haben uns Inkaerde liefern lassen. Die soll ja für immer fruchtbar …«

»So a Blödsinn«, unterbrach die Nachbarin sie rüde. »Mit dem biologischen Zeugs holst dir nur a Unkraut in den Garten.« Sie hob spielerisch drohend den Finger: »Wehe, ihr schleppt mir das Ragweed15 ein. Aber ich verrat dir was. Zum Glück hat der Heinzi noch eine Quelle fürs Glyphosat16. Falls ihr mal was braucht …«

»Du, ich wär da vorsichtig, Glyphosat ist krebserregend«, sagte Eva.

»So a Blödsinn, von einem Pflanzenschutzmittel kriegst keinen Krebs. Der Krebs, der kommt von der Psyche. Die, die vor euch in dem Haus gewohnt haben, da hat die Frau einen Unterleibskrebs gekriegt. Das war nur psychisch, wegen der Scheidung.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Leute lassen sich heute viel zu leicht scheiden. Eine gute Ehe, das ist harte Arbeit. Das musst wollen. Wenn der Heinzi und ich uns nicht so bemühen täten, wären wir schon lang nicht mehr zusammen. Aber die Leute heute denken ja nur an ihr Vergnügen. Lauter Egoisten. Keine Moral.«

Die Nachbarin blickte bedeutungsvoll in ihr Kristallglas, dann schaute sie Eva prüfend in die Augen.

»Ich verrat dir jetzt ein Geheimnis: Kennst die Gerlinde drei Häuser unter dir?«

Eva schüttelte den Kopf.

»Ich glaub, die ist eine Geheimprostituierte. Jeden Nachmittag schickt die ihre Kinder auf die Straße. Weil die Mama ist müde, die Mama muss sich hinlegen, die Mama muss sich ausrasten. Und dabei sind fremde Autos in der Straße geparkt.«

 

Die Nachbarin senkte verschwörerisch die Stimme.

»Ich bin sicher, die hat Männerbesuch. So was von sicher bin ich mir. Aber von mir hast das nicht. Gell. Ob das nicht der Callboy aus Unterwart ist. Das ist ein Araber oder ein Albanier oder ein Afghane, so ein Murl von da unten halt. Der macht kleine Reparaturen und Gartenarbeiten. Aber jeder weiß, was los ist. Das kommt davon, wenn die Männer die ganze Woche in Wien sind. Früher war in Oberwart in den Discos am Donnerstag Damentag. Da bist mit der Freundin hin, und dann haben die Frauen miteinander getanzt und was getrunken und dann sind sie wieder heim. Ganz anständig war das. Aber heute hamma orientalische Callboys in Unterwart. Die Welt steht nicht mehr lang.«

Eva stand der Mund offen. Ein Partycracker mit Sesam klebte unangenehm an ihrem Gaumen. Sie spülte ihn mit dem halbsüßen Prosecco runter, obwohl sie langsam Kopfweh davon bekam. »Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?«

»Klar, wir haben einen Wasserfilter, da bleibt der ganze Kalk und der Dreck aus den Rohren hängen, man weiß ja nie, was da im Leitungswasser drinnen ist. Der Heinzi war mal Wasserwart, das willst gar nicht wissen, was da so in den Rohren schwimmt.«

Eva schwirrte schon der Kopf. Aber der Redeschwall der Nachbarin nahm kein Ende. Sie hechelte einen Dorfbewohner nach dem anderen durch. Geburt, Hochzeit, Scheidung, wer gestorben war, bald sterben würde oder zumindest ins Altersheim abgeschoben wurde. Nur zur größten Enttäuschung der Nachbarin kannte Eva die Betroffenen nicht. Das machte das Ausrichten nur halb so lustig.

»Ja habt ihr denn noch gar niemanden kennengelernt?«, fragte sie schließlich frustriert.

»Doch, kennst du die Zieserls? Die waren gestern bei uns zu Besuch.«

»Soso, die Zieserls.«

»Ist was mit denen?«

»Na, die Zieserl is ka Guade.«

»Wie meinst du das?«

»Ich mein, dass die ein fleißiges Wischperl hat.«

»Ein was?«

Eva stand noch immer auf der Leitung.

»Na, die is a Flitschn. Du, da würd ich aufpassen! Die Zieserl hat kan Genierer. Die krallt sich deinen Mann, so schnell kannst nicht schauen. Übrigens, wenn ihr bei euch den Weg weiter Richtung Wald fahrt, gibt es da eine Stelle, da ist alles voll mit Gummis. Die fahren da alle in den Wald zum Pudern. Magst vielleicht einen Eierlikör? Ich hab noch einen von Ostern über. Die Hendln legen grad wie verrückt.«

Eva verneinte. Ihr wurde schlecht. Sie wusste nicht, ob von dem bösen Getratsche oder von dem vielen Alkohol oder von dem giftigen Rauch, der vermutlich immer noch wie eine Glocke über dem Haus schwebte.

»Ich glaub, ich muss jetzt gehen, die neue Putzfrau kommt heute zum ersten Mal, und der muss ich alles erklären.«

»Ich hoff, es ist keine Ungarin, die putzen alle so langsam«, sagte die Nachbarin.

Eva schaute auf die Uhr. Die ungarische Putzfrau würde erst in einer halben Stunde kommen. Aber sie hatte Lust auf eine Dusche. Obwohl sie die letzte Stunde in so einem blitzsauberen Haus gewesen war, fühlte sie auf einmal richtig dreckig.

Kaum hatte Eva das Haus verlassen, griff die Nachbarin zum Telefon. »Gerlinde, hallo, ich bin’s. Bist allein? Wie, nein. Dann schick die Kinder halt raus, wenn die so einen Lärm machen. Ich muss dir was erzählen. Du, die Zuagroaste war grad bei mir. Du wirst es nicht glauben, die Zieserl war auch schon bei denen. Ich fress einen Besen, wenn die nicht schon längst was mit dem Architekten laufen hat. Der ist ja genau ihr Typ. Erinnerst dich noch an den Fleischhacker, mit dem die Zieserl vorher das Pantscherl gehabt hat? Der hat genauso ausgeschaut. Der gleiche Typ. So ähnlich wie der Hillinger, ja.

Wie die sonst ist, die Eva? Ja eh nett. Ein bisserl naiv. Die kauft auch diese sauteure Unkrauterde. Die Blöden sterben halt nicht aus. Und wenn sie aussterben, ziehen neue her. Du, Gerlinde, ich muss aufhören, bei mir läutet es. Mein Gärtner ist da.«

»The Final Countdown« ertönte. Die Nachbarin öffnete die Tür. Der Mann war Anfang 20, und hätte er nicht diesen dunklen Dreitagebart gehabt, hätte man ihn noch jünger geschätzt. Seine Gesichtszüge waren fein, mit hohen Wangenknochen und schräg geschnittenen Augen, dunkelbraun wie Schokolinsen. Sein dichtes schwarzes Haar hatte er mit Gel gebändigt. Er war nur einen knappen Kopf größer als die Nachbarin. Und wirkte auf eine anziehende Art feminin und maskulin zugleich. Er trug Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Seine Kleidung war alt, aber gepflegt, genauso wie das Fahrrad, das er bei sich hatte.

Die Nachbarin ging in die Garage und kam mit einer Unkrautspritze zurück. »Du heute Terrassenfugen sauber machen, verstehen? Aber aufpassen, nix einatmen, ist giftig. Und danach reinkommen, duschen. Ich auf dich warten.«

15 Invasive Pflanze, die Allergien auslösen kann.

16 Umstrittener Wirkstoff zur Unkrautbekämpfung.