Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 6

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Der Schneeflockenwunsch

Emma saß an ihrem Fenster und schaute dem Treiben der Schneeflocken im kalten Winterwind zu. Es sah fast so aus, als würden sie tanzen und als würden es immer mehr kleine Tänzer werden, je weiter Emma nach oben in den Himmel schaute. Emma musste lachen, als plötzlich eine freche Schneeflocke direkt vor ihr auf der Scheibe landete und genau dort kleben blieb, wo Emma ihre Nase gegen das Glas gedrückt hatte. Doch dann erschrak Emma, als sie das Bimmeln der Glocke hörte, das sie und die anderen Kinder im Waisenheim daran erinnerte, dass es jetzt Zeit fürs Abendbrot war.

Emma ging aus ihrem Zimmer und kam auf dem Flur an dem Tannenbaum vorbei, den die Kinder erst gestern alle zusammen geschmückt hatten. Emma hatte dieses Jahr etwas ganz Besonderes an den Baum gehängt. Es war ein kleiner goldener Engel in einem weißen Kleid, das ganz besonders schön funkelte und über und über mit goldenem Glitzerpuder bedeckt war.

Der Engel war das letzte Geschenk gewesen, das Emma von ihrer Mutter bekommen hatte, und nun leuchtete er dort oben am Baum und Emma meinte, dass er viel hübscher war als all das Lametta und die Christbaumkugeln und die kleinen Weihnachtsmannfiguren zusammengenommen.

Emma ging weiter in den Speisesaal, wo sie ihre Nase erwartungsvoll in die Luft streckte. Emma hoffte, dass es nach frischen Plätzchen und leckerem Weihnachtsessen duften würde, denn heute war nicht einfach irgendein Abend, heute war einer der schönsten Abende im ganzen Jahr – heute war endlich Heiligabend.

Doch als sie auf den langen, gedeckten Tisch schaute, sah sie bloß einen Teller Suppe, die es jede Woche einmal im Waisenheim gab. Enttäuscht löffelte Emma ihre Suppe. Nach dem Essen sangen alle ein Weihnachtslied und es gab noch eine kleine Weihnachtsgeschichte.

Aber Emma konnte gar nicht mitsingen und auch von der Geschichte bekam sie nur die Hälfte mit. Sie war plötzlich sehr, sehr traurig und vermisste ihre Eltern so sehr. Sie musste an ihre Mutter denken, die an Heiligabend immer alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, Emmas Lieblingsgericht zu kochen, die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden, Vatis Krawatte ordentlich zurechtzurücken und die letzten Vorbereitungen für die Bescherung zu treffen.

Zur Weihnachtszeit roch es immer ganz besonders herrlich bei Emma zu Hause, nach frisch geschälten Mandarinen, süßen Plätzchen und warmem Weihnachtstee. Und an Weihnachten durfte Emma immer so lang aufbleiben, bis alle Geschenke ausgepackt, die letzten Plätzchen genascht und die letzten Kerzen ausgegangen waren und ihr vor Müdigkeit langsam die Augen zufielen. Hier im Waisenheim gab es keine Bescherung und alle Kinder wurden, nachdem die Weihnachtsgeschichte vorgelesen war, in ihre Betten geschickt.

Doch Emma konnte heute Abend nicht einschlafen. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals und sie drehte sich hin und her, drückte die Augen ganz fest zu und zählte Schäfchen, aber nichts half. Um endlich an etwas anderes denken zu können, beschloss sie, noch einmal aufzustehen und raus auf den Flur zu gehen. Ganz dunkel war es da jetzt, bis auf einen kleinen leuchtend goldenen Punkt.

„Was ist denn das?“, dachte Emma und ging langsam auf das leuchtende Etwas zu. Da erkannte sie, dass es der kleine Engel war, den sie an den Weihnachtsbaum gehängt hatte. Sein Kleid funkelte noch mehr als vorhin und – Emma musste sich die Augen reiben – lächelte der Engel tatsächlich? Aber ja, ganz eindeutig und jetzt streckte er auch noch seine kleine Hand aus, schwebte auf Emma zu und legte seine kleine zarte Hand auf Emmas.

„Komm mit“, sagte der Engel, „ich möchte dir etwas zeigen.“ Emma wusste nicht recht, wie ihr geschah, aber bald war sie mit dem Engel zusammen draußen zwischen den schön tanzenden Schneeflocken und der Engel, der ihr jetzt viel größer vorkam als vorhin, nahm sie bei der Hand und stieg hoch mit ihr in die Luft.

Emma sah alles von ganz weit oben und die Häuser sahen unter ihr aus wie kleine Spielzeughäuschen. Überall leuchteten kleine Lichter und die Bäume trugen alle eine dicke Mütze aus Schnee. Emma lachte vergnügt und konnte sich gar nicht sattsehen, bis der Engel zur Landung ansetzte. Sie landeten mitten auf einer kleinen Lichtung. Emma sah sich um. Um sie herum war dunkler Wald, aber auf der Lichtung war es hell und alles schimmerte in einem silbrigen Licht.

„Das ist ein Zauberort, liebe Emma“, sagte der Engel. „In der Weihnachtsnacht sind alle Schneeflocken verzaubert und du darfst dir heute Nacht eine Schneeflocke fangen und dir dann etwas wünschen. Es wird ganz sicher in Erfüllung gehen.“

Emma überlegte kurz, aber dann wusste sie sofort, was sie sich wünschte. Nun musste sie nur noch eine ganz besonders schöne Schneeflocke für ihren Wunsch fangen. Sie lief auf der Lichtung auf und ab und versuchte, sich eine Flocke auszusuchen, aber jede einzelne glitzerte wunderschön und sie waren alle viel zu schnell, sodass Emma schon fast aufgeben wollte, als plötzlich eine Schneeflocke direkt auf ihrer Nase landete.

Erleichtert schloss Emma ihre Augen und sprach leise ihren Wunsch aus: „Ich wünsche mir, dass mich der Engel von jetzt an jede Weihnachten besuchen kommt und ich dann nie mehr so traurig sein muss wie heute Abend.“ Sobald Emma das gesagt hatte, schmolz die Schneeflocke auf ihrer Nase und Emma wurde ganz leicht ums Herz, und obwohl es immer doller schneite, war ihr überhaupt nicht kalt.

Der Engel lächelte: „Das war ein guter Wunsch, liebe Emma, ich verspreche dir, er wird in Erfüllung gehen.“ Und mit diesen Worten nahm er sie wieder bei der Hand und sie flogen zurück ins Waisenheim, wo Emmas Bett schon auf sie wartete. Müde, aber glücklich kroch Emma unter die warme Decke und konnte nun endlich zufrieden einschlafen.

Lena Wrba ist zwanzig Jahre alt und angehende Geografiestudentin. Zurzeit wohne sie in Sulzbach am Taunus, also ganz in der Nähe von Frankfurt. Für ihr Studium wird sie allerdings nach Marburg ziehen. Sie schreibt unheimlich gern und ihr berufliches Ziel ist es deshalb auch, Journalistin zu werden. Veröffentlicht hat sie bisher nicht. Ansonsten fotografiert sie gerne, reist so viel, wie möglich, geht, mit ihrem Hund Gassi oder trifft sich mit Freunden. Und natürlich liebt sie Weihnachten mit allem Drum und Dran: Plätzchen, Weihnachtsmarkt, Geschenke und das Wichtigste – die Familie.

*

Der heilige Stern

Mein Name ist Isalia. Ich bin ein Mensch, was wahrscheinlich kein Wunder ist, und lebe seit siebzehn Jahren auf der Erde. Meine Eltern haben mich schon lange verlassen, aber mein Leben ist in Ordnung. Naja, zumindest fast. Ich bin alleine. Denn ich bin anders. Meine Haare sind so hell, dass sie nahezu so weiß wie Schnee sind. Und nicht, dass ich falsch verstanden werde, ich finde sie schön. Aber ich steche eben heraus.

In der kleinen Stadt, in der ich lebe, kennt mich jeder. Es ist nicht wirklich schlimm für mich, wenn sie mich nicht beachten oder über mich reden, wenn ich sie nicht hören kann; nur, was mich verletzt, ist diese Einsamkeit. Gerade jetzt, wo doch in zwei Wochen die Heilige Nacht ist. Alle reden aufgeregt und haben Wünsche, sind bei ihren Familien und geliebten Menschen, kaufen und lachen. Sie haben Glück. Ich beneide sie seit einigen Jahren darum. Ich möchte diesen Tag vergessen. Das Fest der Liebe, der Zweisamkeit, der Freude und der Geschenke.

Mein langer, grauer Rock schleifte auf dem schneebedeckten Boden, bei jedem Schritt hörte ich meine Schuhe die Steine berühren, mein Tuch war eng um meinen Oberkörper gewickelt, doch fror ich trotzdem. Der Wind, mit dem der Schnee in großen tanzenden Flocken herbeigeweht kam, war kalt und unnachgiebig in dieser Nacht. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel war schwarz wie Pech. Der Schnee fing an, immer dichter im Licht der Kerzen an den Häusern wunderschön wie kleine Feen zu fallen, und gleichzeitig wurde meine Sicht schlechter und schlechter. Es würde zu lange dauern, bis ich es zu meinem Haus geschafft hätte, das wusste ich, also suchte ich einen Unterstand. Doch auch als ich unter dem Laken Schutz gefunden hatte, das über einer Gasse gespannt worden war, zitterte ich weiter. Die Temperatur sank sicher schon wieder. Es war ein wirklich kalter Winter, der erste seit Jahren.

Auf einmal hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich erschrak und fuhr herum.

„Junge Dame, es ist gefährlich für jemanden, wie Sie es sind, hier draußen bei Nacht“, sagte der Mann mit den braunen Haaren, eingehüllt in Tücher und einen Mantel.

„Ja. Ich habe wohl die Zeit vergessen“, antwortete ich, während er näher kam. Er hatte blaue Augen, die mich zauberhaft ansahen.

„Ihre Eltern machen sich sicherlich Sorgen um Sie. Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie zu Ihrem Haus“, bot er an. Er wirkte nett, aber gleichzeitig so anders. Doch er gefiel mir.

Ich nickte und er bot mir seinen Arm als Stütze an, während wir uns durch den Schneewind kämpften.

„Ich danke Ihnen“, sagte ich und lächelte, als er mich schweigend nach Hause gebracht hatte. Auch er lächelte, verabschiedete sich mit den Worten: „Für einen Engel auf Erden tu ich alles. Zur Weihnacht werden doch alle Engel gebraucht“, und ging.

Zum ersten Mal nannte mich jemand Engel. Ich war so glücklich. An diesem Tag hatte sich mein Wunsch für die Heilige Nacht verändert.

In den beiden nächsten Wochen sahen wir uns oft. Jeden Tag und jede Nacht. Er kam von weit weg und seine geheimnisvolle Art zog mich magisch an. Wir gingen durch die Stadt und sahen uns die Läden an, während wir die Menschen beim Kaufen beobachteten, selbst die schönen Dinge ansahen, redeten und redeten. Ich erzählte von meinen Eltern und er, dass er bald weg müsste. Nach Hause. Denn er kam nicht von hier. Nicht aus dieser Welt. Doch das war mir egal. Er war wie ein Wunder für mich.

 

Am Tag vor der Heiligen Nacht, an dem alle im Warmen saßen, mit lieben Menschen zusammen, waren er und ich draußen. Wir spazierten, ich in seinem Arm, über eine Wiese und sahen in den Himmel. Schon am Tag zuvor hatte es aufgehört zu schneien.

„Siehst du diesen Stern?“, fragte er.

„Den da?“ Ich zeigte in den klaren Himmel.

Er nickte. „Dort ist meine Welt. Ich werde sie dir zeigen. Sie wird dir sicher gefallen.“

Ich lächelte. Er war besonders und das sagte er auch über mich. Er war kein Mensch, er war besser.

„Ich habe noch nie einen Menschen so begehrt wie dich“, flüsterte er und küsste mich auf die Stirn. „Hast du einen Wunsch für die Heilige Nacht?“

„Ja. Ich will für immer bei dir bleiben“, sagte ich und sah in seine blauen Augen.

„Dann soll das mein Geschenk an dich sein. Wir werden auf ewig zusammenbleiben.“ Noch einmal küsste er mich auf die Stirn. „Du bist mein heiliger Stern. Du erleuchtest diese Heilige Nacht.“

Ich schloss die Augen. „Ich danke dir. Ich liebe dich.“ Schnee fiel und umtanzte uns. Wie magische Funken aus seiner Welt, Glitzer von strahlenden Blumen im Himmel.

In dieser Weihnachtsnacht erfüllte sich mein Herzenswunsch. Ich hatte jemanden gefunden, der bei mir bleiben würde. Und er hielt sein Versprechen. Sicher, wir hatten kein Wissen darüber, was alles passieren würde, was zwischen uns stehen würde.

Doch jedes Jahr zur Heiligen Nacht sahen wir in den Himmel. Viele Jahre nicht zusammen, doch Jahrtausende später standen wir das erste Mal wieder hier, Arm in Arm und küssten uns zur Heiligen Nacht unter dem Licht des heiligen Sterns. Es war unsere Nacht auf ewig. Das war unser Geschenk.

Katja Heckendorf ist 17 Jahre alt, besucht ein Gymnasium und kommt aus Delingsdorf. Ihre Hobbys sind Tanzen, Singen, ihre Tiere und Schreiben. Neben Gedichten für Anthologien schreibt sie Lieder und Geschichten. 2012 wurde ihr erstes Gedicht veröffentlicht.

*

Weihnachtsabend

Ein dicker Mann mit weißem Bart, in rotem Gewand,

soeben blitzschnell durch unseren Kamin entschwand.

Er trug einen langen Mantel mit weißem Flauschsaum.

Sah es zwar selbst, aber glauben konnte ich es kaum.

Was wollte der Mann im festlich erleuchteten Raum?

Und was liegt da unterm bunt geschmückten Tannenbaum?

Hübsch verpackte Geschenke liegen dort in der Nacht.

Die hat wohl der heimliche Besucher mitgebracht?

Höre ein Rumpeldipumpel auf unserem Dach.

Frage mich noch, woher kommt nur dieser laute Krach?

Dann Getrippel, Getrappel, Getrippel, Getrappel.

Vernehm ich auch schon ein schnelles Hufgetrappel.

Plötzlich ertönt Glöckchenklang hoch am Sternenhimmel.

Woher kommt bloß dieses melodiöse Gebimmel?

Ich lauf auf die verschneite Straße, so schnell ich kann.

Wen seh ich da im Rentierschlitten? Den Weihnachtsmann.

Susann Scherschel-Peters, 1975 geboren, ist Diplom-Pädagogin, ausgebildete Trauerbegleiterin und arbeitet hauptberuflich im Beratungsbereich. Als Autorin schreibt sie Kurzgeschichten, Märchen, Gedichte und Elfchen, die bereits in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. Zudem ist sie nebenberuflich als Dozentin (Themenschwerpunkt: Trauer um Haustiere) tätig. Ehrenamtlich begleitet sie eine Trauergruppe und liest in einem Seniorenheim Geschichten, Märchen und Gedichte vor. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Hundedame „Baby“ lebt sie in Frankfurt am Main.

*

Elvira auf der Fensterbank

Vergnügt blickte die kleine Schneeflocke vom Himmel hinunter zur Erde. Endlich war die Weihnachtszeit gekommen und überall blinkten Lichter und ertönte festliche Musik. Das war nicht nur die schönste Zeit des Jahres für die Kinder, sondern auch für kleine Schneeflocken.

Elvira lehnte sich ein Stückchen weiter nach vorne, um auch den Sternenschmuck in den Fenstern sehen zu können. Die Wolke, auf der sie saß, kippelte ein bisschen, aber das störte die kleine Schneeflocke nicht. Die Welt da unten sah so schön aus, dass sie alles um sich herum vergaß und vor Begeisterung laut juchzte. Temperamentvoll wippte sie mit ihrem Körper noch ein klein wenig über den Wolkenrand und schon spürte sie dieses Kitzeln im Bauch, das sie immer hatte, wenn sie aus großer Höhe in die Tiefe fiel.

Der Mond schien mit sanftem Licht auf die Straßen der Stadt und blickte neugierig in die Zimmer der Kinder. Überall traf er auf Jungen und Mädchen, die sich nichts sehnlicher als den Heiligen Abend herbeisehnten.

In der Straße, in der Elvira auf einer Laterne gelandet war, gab es ein Fenster, das nicht so festlich geschmückt war wie alle anderen. Nichts deutete auf die Weihnachtszeit hin. Nur eine Nachttischlampe erhellte den Raum und machte Marie sichtbar, die am Fenster stand.

Plötzlich geschah etwas Unvorhersehbares: Das Mondlicht ließ einen silbernen Stern auf der Fensterscheibe aufblitzen.

Marie begann sofort, mit dem Fingernagel das Glitzerding abzukratzen. Letztes Jahr hatte sie viele Sterne gebastelt und gemalt. In jeder Ecke ihres Zimmers hatte es gefunkelt, doch davon war jetzt nichts zu sehen. Nur dieser eine schillernde Stern klebte hartnäckig am Fensterglas und wehrte sich gegen Maries Versuche, ihn zu entfernen.

„Was machst du da?“, rief eine empörte Stimme. „Lass ihn sofort in Ruhe.“

Elvira hatte ihren Platz auf der Laterne verlassen und war auf dem Fenstersims direkt vor Maries Nase gelandet. Das Mädchen stieß einen kurzen Schrei aus und trat einen Schritt zurück.

„Hallo, ist da jemand?“, fragte Marie, aber ihre Stimme war ganz leise. „Stern bist du das?“ Im nächsten Augenblick schüttelte sie jedoch den Kopf. Was war das für ein Unfug! „Ich spreche mit einem Weihnachtsstern“, lachte sie schließlich und wollte mit dem Finger wieder an der Sternenspitze kratzen.

„Wie kannst du nur so gemein sein“, schimpfte Elvira und klopfte mit ihrer kleinen Faust gegen die Fensterscheibe.

Marie erschrak und wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte, doch dann beugte sie sich so weit nach vorne, dass ihre Nase den Stern berührte. Erst sah sie hinaus auf die Straße, dann wanderte ihr Blick zu diesem weißen Fleck, der an der Scheibe klebte.

„Wie schön, dass du mich auch schon bemerkst.“ Elvira hatte ihre Fäuste in die Hüfte gestemmt und schwebte vor Maries Nase auf und ab. „Nun mach schon auf. Es ist sehr unhöflich, einen Gast einfach vor der Tür stehen zu lassen.“

Marie richtete sich auf und öffnete das Fenster. Sie starrte dieses weiße Wesen ungläubig an. „Ein Geist“, polterte sie los, „ich werde verrückt. Du hüpfst übrigens vor meinem Fenster herum und nicht vor der Tür.“

„Ich bin eine Schneeflocke“, verbesserte Elvira das Mädchen schnell, „und ich möchte, dass du aufhörst, diesen armen Weihnachtsstern zu quälen.“

Marie musste schlucken. Sie dachte daran, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte, die silberne Farbe auf die Folie zu bringen. Ihre Freundin Lena hatte ihr dabei geholfen. Zusammen hatten sie diesen wundervollen Stern gemalt und ans Fenster geklebt.

„Das geht dich gar nichts an“, fauchte Marie, „weil ich nämlich machen kann, was ich will!“

„So, so.“ Elvira rümpfte ihre kugelrunde Nase. „Du denkst wohl, nur weil er ein Stern an einer Fensterscheibe ist, hätte er keine Gefühle!“

Marie schlug das Fenster zu und rief dabei: „Das ist mir echt zu blöd!“

Doch eine Schneeflocke wie Elvira lässt sich nicht so einfach abschütteln! Mit aller Kraft trommelten zwei kleine Fäuste gegen die Fensterscheibe. Wie ein weißer Wirbelwind huschte Elvira von links nach rechts und wieder zurück. Ihre feine Stimme wurde immer wütender und dabei auch immer lauter. „Lass mich rein! Und mach endlich dieses Fenster auf!“

Marie schüttelte mit dem Kopf. Schließlich seufzte sie, flüsterte kaum hörbar: „Okay“, und stand dann auf, um das Fenster zu öffnen. Elvira hüpfte sofort ins Zimmer, setzte sich auf die Fensterbank und sah mit großen blauen Augen auf das Mädchen, das verdutzt zurückblickte.

„Nicht zumachen!“, rief die Schneeflocke und deutete auf das geöffnete Fenster, durch das kalte Winterluft blies.

„So, nun erzähl mal.“ Elvira verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte freundlich.

„Da gibt es nichts zu erzählen“, schnaufte Marie. „Weihnachten ist blöd. Das ist alles!“

„Aha“, brummte die Schneeflocke, „und seit wann ist das so?“

„Wie meinst du das?“, entgegnete das Mädchen und zog die Brauen fragend nach oben.

„Na, es sieht so aus, als hättest du im letzten Jahr noch ein wunderbares Weihnachtsfest gefeiert“, kicherte Elvira. „Der Stern klebt ja noch immer am Fensterglas.“

Da wurde Marie traurig. Ihr Blick verfinsterte sich und sie senkte den Kopf. „Ich spreche nicht mit Schneeflocken“, flüsterte sie ganz leise, doch Elvira hatte jedes Wort verstanden.

„Doch“, lachte die Schneeflocke, „du bist ja gerade dabei.“

In diesem Moment flog ein erster Hauch von Weihnachtsstimmung durch das geöffnete Fenster. Ein bisschen Vanille- und ein bisschen Zimtgeruch kitzelten in Maries Nase. Er erinnerte sie an das letzte Weihnachtsfest, als sie mit Mama und Lena Plätzchen gebacken hatte. Es war genau der gleiche Duft, der sich jetzt in ihrem Zimmer breitmachte. „Lena ist weg“, brach es aus ihr heraus. „Sie musste in eine andere Stadt ziehen, weil ihr Vater dort eine neue Arbeit gefunden hat.“ Tränen flossen über ihre Wangen. Zum ersten Mal seit Lena weg war, weinte Marie. „Lena war meine beste Freundin!“

„War?“, staunte Elvira.

„Ja“, schluchzte Marie, „jetzt ist sie weg und ich bin allein.“

Die kleine Schneeflocke schwebte ein bisschen auf und ab. „Glaubst du, Freunde müssen immer in der gleichen Stadt wohnen?“, fragte Elvira. „Ich finde ja, dass echte Freunde nichts trennen kann. Schon gar nicht so ein paar Kilometer von Stadt zu Stadt oder Wolke zu Wolke. Also mein allerbester Freund wohnt auf einer Wolke über der Arktis …“

„Sei still!“, schrie Marie und starrte die Schneeflocke wütend an. „Nichts kann uns trennen. Wir sind die allerbesten Freundinnen und werden es auch bleiben.“

Der Stern an der Fensterscheibe begann zu blinken.

„Dann weißt du ja, was zu tun ist.“ Elvira flatterte auf das geöffnete Fenster zu. „Früher war die Post ja sehr lange unterwegs, aber heutzutage braucht ein Weihnachtsbrief nur zwei oder drei Tage.“ Die kleine Schneeflocke schwebte in die Dunkelheit, und als Marie das Fenster schloss, war sie schon nicht mehr zu sehen.

Zwei Wochen später duftete Maries Zimmer nach Tanne und Sandelholz und war festlich geschmückt.

„Sieh nur, es schneit, Mama“, rief das Mädchen und lief zum Fenster. Überall auf der Scheibe glitzerten Sterne, nur an einer Stelle war so viel Platz, dass man gut hinaussehen konnte. Da schwebte eine einzelne Schneeflocke vorbei, und es sah so aus, als würde sie winken.

„Glaubst du, dass Schneeflocken kleine Lebewesen sind?“, fragte Mama. Sie war ins Zimmer gekommen und hatte sich hinter Marie gestellt.

„Na klar, und manchmal winken sie sogar!“, juchzte das Mädchen und nahm den Weihnachtsbrief, den sie heute von ihrer allerbesten Freundin Lena bekommen hatte, in die Hand und winkte zurück.

Ramona Stolle schreibt Geschichten und Gedichte für kleine und große Leser. Sie hat bereits Beiträge in mehreren Anthologien veröffentlicht. Mehr unter ramonastolle.de.to

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