Nachtdenken

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #6
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3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty)

Eine der Grundannahmen der Phänomenologie ist, dass der Mensch stets in irgendeiner Form eine Verbindung oder Kontakt mit der ihn umgebenden Welt hat. Martin Heidegger verwendet dafür den Begriff „In-der-Welt-sein“1, Maurice Merleau-Ponty spricht in Anlehnung an Heidegger von einem „être-au-monde“, welches als „Zur-Welt-sein“ übersetzt werden kann und demnach über die Gerichtetheit des Seins und die damit verbundene Intentionalität einen feinen Unterschied zu Heideggers Weltbezug aufweist.2 Der Mensch ist in beiden Fällen weder isoliert von der Welt, noch von seiner Umgebung zu betrachten, denn als Gemisch aus Eigenem und Fremden steht seine körperliche wie geistige Geschlossenheit spätestens seit Edmund Husserl in Frage. Daraus folgt für Merleau-Ponty, dass die phänomenologische Reduktion als Weg zu einem sauberen und vorurteilsfreien Beginn der Reflexion niemals gänzlich gelingen kann, sofern eben das Eigene immer schon mit dem Fremden beweglich verbunden ist, was unsichtbare Kräfte impliziert, die das erkennende Subjekt nicht steuern kann. Merleau-Ponty betont in der Weiterführung von Husserls Denken, dass es neben dem Sichtbaren auch noch Unsichtbares gebe, das unsere Wahrnehmung und infolgedessen unsere Vernunft beeinflusse. Dieses Unsichtbare oder „Unreflektierte“ ist das, was eigentlich das Sehen bedingt oder sogar steuert. Letzteres entspringt dem Leib als eine von vielen Formen der Wahrnehmung. So schreibt er in seinem, aufgrund des plötzlichen Todes Fragment gebliebenen, Hauptwerk Le visible et l’invisible, dass „la perception ne naît pas n’importe où, qu’elle émerge dans le recès d’un corps […].“3 Die Beziehung des Menschen zur Welt umfasst weit mehr, als es das Denken im Verhältnis zu seinem Gegenstand auszudrücken fähig wäre. Sie ist durch konkrete Erfahrungen geprägt, die sich nach Merleau-Ponty noch vor der Arbeit des Verstandes in den Leib einschreiben.

Der Leib

Merleau-Pontys Phänomenologie verknüpft im Ausgang vom Leib1 (im Französischen corps propre = Eigen-Körper oder eigener Körper) die von der Subjektivität ausgehende Bewusstseinsphilosophie mit der Objektivität anstrebenden Naturwissenschaft, denn der Leib ist für ihn sowohl höchstsubjektive Innerlichkeit (phänomenaler Leib) als auch eine von außen wahrnehmbare Materialität (objektiver Leib). „Der Leib hat damit einen Doppelcharakter und eine Zwischenstellung, die gleichermaßen eine Beziehung zur Welt als auch ein eigenes Erleben gewährleistet.“2 Auf diese Weise ist der Leib als Medium und Ausgangspunkt Merleau-Pontys Versuch, den Subjekt-Objekt-Dualismus mit all seinen Semantisierungen zu unterlaufen.

Chiasmus und Zwischenleiblichkeit

In seinem Spätwerk findet Merleau-Ponty für diesen Zwischencharakter des Leibes den Begriff des Chiasmus, der die Reziprozität von Subjekt und Umwelt berücksichtigend dem Vorwurf einer ontologischen Hierarchisierung von Leib und Subjekt zu Gunsten des Ersteren entgegenzuwirken intendiert.1 Auch bewirkt die Beschreibung der Relation von Subjekt und Umwelt als Chiasmus, dass dieses Verhältnis nicht statisch oder dualistisch zu sehen ist, sondern in stetiger Bewegtheit durch wechselseitige Überkreuzungen und Überlagerungen: „Der Leib wird zu einem Ort der Überkreuzung von Beobachter und Beobachtetem.“2 Merleau-Ponty formuliert diese Besonderheit des Leibes als „intercorporéité“ (Zwischenleiblichkeit).3

Die Grenze zwischen Leib und Welt ist weniger als Begrenzung, denn als „surface de contact“ zu verstehen, d.h. als eine Oberfläche der Berührungen von Vertrautem und Fremdem, Sichtbarem und Unsichtbarem.4 Für das wahrnehmende Ich hat dies eine gewisse Gespaltenheit zur Folge. Es nimmt Dinge wahr und kann sich darüber hinaus beim Wahrnehmen wie von außen sehen, d.h. mit Niklas Luhmann gesprochen, die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnehmen, dabei aber naturgemäß nicht die eigene Leiblichkeit verlassen. Der Medienwissenschaftler Georg Christoph Tholen formuliert diese Problematik der Zwischenleiblichkeit als „Aufklaffen des Leibes in eine Nicht-Koinzidenz mit sich selbst“.5 Dieser Blick auf sich selbst von außen ist nur möglich auf der Basis der eigenen Physis, die so eine Art „Vor-Ich“ oder auch „Selbstvorgegebenheit“ für das Subjekt bildet.6 Man könnte sagen, dass Merleau-Ponty im Zuge seiner philosophischen Entwicklung des Leib-Begriffes das von Tholen beschriebene Aufklaffen radikalisiert, sodass schließlich das vermittelnde ebenso wie das unterbrechende Moment des Leibes im Begriff des Fleisches seine Bezeichnung findet. Selbstfindung und Erkenntnis sind nur im Prozess eines zumindest partiellen Selbstverlustes und in der Akzeptanz der Abhängigkeit vom Anderen möglich. Deshalb muss die Bindung an das Eigene, gespiegelt im Begriff des corps propre, ins Fleisch hinein erweitert oder zerfasert werden.

Fleisch

Das Fleisch dient Merleau-Ponty dazu, von Strömen zu sprechen, die Fassungen des Dualen oder Identischen überspülen. Es ist eine „[m]asse formateur de l’objet et du sujet […]“1 und demnach einerseits der Subjekt-Objekt-Unterscheidung vorgängig, andererseits jedoch immer räumlich und zeitlich gebunden, sofern das Fleisch nötig ist, um Wahrnehmung stattfinden zu lassen.2 Das Fleisch wird als ein anonymer vordinglicher Ermöglichungsgrund oder als eine Matrix konzipiert, in die sich die Dinge einschreiben. Auf der Ebene des Fleisches wird die Unterscheidung von Leib, Welt und Anderem in einer vorgestalteten ontologischen Dimension reiner Übergänge dissoziiert. So betrachtet rückt das, was Merleau-Ponty mit dem Fleisch zu fassen versucht, in der Unterlaufung dichotomischen Denkens in die Nähe der Faszination, aber auch der ‚autrenuit Blanchots.3 Das Fleisch wie die andere Nacht sind Existenzialien, sofern mit ihnen der Annahme des Menschen als etwas sich Formendes und Geformtes Folge geleistet wird.

Im Vorgriff auf das 4. Kapitel von TO2 lässt sich das dortige Eindringen des Wortes in Thomas als ein solcher Einschreibungsvorgang übersetzen, in dem sich die Gewalt des Verstehens manifestiert, denn der Wille zum Verstehen des vor ihm liegenden Textes führt den lesenden Thomas über seinen Blick tief hinein in den Raum des Imaginären. Dieser Raum, so habe ich bereits angedeutet, ebnet alle hierarchischen Beziehungen ein und bewirkt den für Thomas so gefährlichen Aneignungsversuch durch die Wörter, die er in seiner Lektüre zu verstehen versuchte. In TO2 ist es also der Text, der sich über die Textur gewaltsam in Thomas’ Fleisch einprägt, wobei der Begriff des Fleisches hier sowohl als Leiblichkeit oder Materialität als auch in der soeben aufgezeigten Lesart des späten Merleau-Pontys im Sinne einer Matrix gemeint ist. Bedingung des Einschreibungsprozesses ist der unsichtbar durch den Raum des Sichtbaren brechende Blick.

Der phänomenologische Blick – Trennung von Auge und Blick

Merleau-Ponty wie Blanchot denken den Blick als etwas Eigenständiges, d.h. als etwas Unsichtbares, das eine imaginäre Funktion hat, die nicht auf das sehende Auge zurückgeführt werden muss.1 Durch den Blick entsteht ein imaginärer Raum, in dem es keine Hierarchien mehr gibt, wo sich folglich Sehender und Gesehenes treffen bzw. erst reziprok entstehen. Insofern muss der Begriff des Augen-Blicks hier an die Stelle des blickenden Auges als Einbruch des Anderen gesetzt werden. Sehen heißt demnach immer auch gesehen und begriffen werden, wobei hinzugefügt werden sollte, dass dies auch durch eine reine Projektion geschehen kann und nicht notwendigerweise auf Personen beschränkt bleibt. Blanchot wie Merleau-Ponty denken den Blick als etwas theoretisch ‚von-allem-ausgehen-könnendes‘ Vorhandenes in der Welt. Er ist eine unsichtbare Kraft, die Sichtbares bedingt, d.h. zum Erscheinen bringt.

Blanchot hat dafür den Begriff der Faszination eingebracht, über den ich im Vorangegangen bezüglich der Beziehung von Thomas und Anne bereits reflektiert habe. Für den Betrachter hat dies zur Folge, dass er angesichts der Eigenständigkeit der Dinge oder Personen, die ihm im Blick nicht nur als Objekte entgegen treten, als sehendes Subjekt durch sie verformt wird.2 Diese Verformung hängt mit Merleau-Pontys Vorstellung des Sehens als gerichtetes Tasten mit dem Blick zusammen, welcher den Anderen braucht, um überhaupt Blick sein zu können. Die Antwort des Anderen auf meinen Blick (und das kann z.B. bedeuten, den Anderen als Instanz, die zurückblicken könnte, überhaupt zu begreifen) ist, hinsichtlich seiner Stabilität und Geschlossenheit, ein gewaltsamer und bedrohlicher Akt für das sehende Subjekt. Als wirklich Anderer und nicht als Assimilierter bricht der Andere in das wahrnehmende Subjekt ohne große Vorankündigung ein. Der Andere birgt in sich das Wissen, dass das Ich niemals ohne den Anderen möglich wäre sowie das Wissen um die Konsequenz, dass der Zugang zum Sein in ganz unterschiedlicher Weise möglich ist. Über die reziproke Verbindung von Betrachter und Betrachtetem im Blick, der selbst unsichtbar ist, weist Merleau-Ponty zusammen mit Jacques Lacan auf die „mediale Spaltung von Auge und Blick“ hin.3 Innerhalb des „Dispositiv[s] des Sehens“ hat sich der Blick langsam vom „Solipsismus des Auges als monozentrischen Sehpunkt“4 gelöst und zu philosophisch-erkenntnistheoretischer Autonomie gefunden, deren literarische Ausprägung in Thomas l’Obscur wir am deutlichsten in Form der zuvor beschriebenen Faszination wiedererkennen können. Zurückgeführt auf die Auflösung Annes unter Thomas’ Blick, wird dort die in jeder Anwesenheit unausweichlich vorhandene Abwesenheit durch den Blick ausformuliert, der beide in sich kreuzt. Das, was im Blick wahrgenommen wird, ist etwas zutiefst Imaginäres.

 

Bedeutsam an der skizzierten Blickkonzeption ist die Differenz zu den meisten Wahrnehmungstheorien, da dort das Sehen einen Fernsinn darstellt, der ganz grundsätzlich von der taktilen Berührung, die die notwendige Distanz des Sehens mit dem berührenden Kontakt überschreitet, zu unterscheiden ist. Blanchot bringt vor dem Hintergrund Merleau-Pontys und dessen kurz skizzierten Formen der Zwischenleiblichkeit sowie des Fleisches, insbesondere aber mit der Auffassung des Blicks, die Berührung in den Blick. Visuelle Wahrnehmung ist damit nicht mehr isolierter sinnlicher Zugang zur Welt. Vor allem aber wird mit der Illusion der Objektivität der visuellen Wahrnehmung gebrochen, da das Subjekt immer schon durch das gebannt und verändert wird, was in seinen Blick gerät.

Taktile Berührung

„Leibliche Affiziertheit, Berührung, jeder Blick – auch wenn er sich abwendet – ist immer als Reaktion auf eine fragende Atmosphäre, als ein Fluidum zwischen Selbst und Welt […] zu verstehen.“1

Wie man berührt oder berührt wird, ob man gesehen wird oder sieht, ob man physisch-taktil berührt wird oder selbst in dieser Form jemanden oder etwas berührt, macht einen Unterschied. In der taktilen Berührung ereignet sich eine kurzfristige Aufhebung der Grenze zwischen mir und dem anderen. Diese Entgrenzung des Subjekts2 beinhaltet aber auch eine Gefährdung der Subjektstabilität in ihrer Geschlossenheit. Gleichzeitig öffnet die taktile Berührung gegenüber dem Sehen eine zusätzliche Absicherung des Wahrgenommenen ob seines Realitätsstatus. „Nur das ist für uns real, was wir auch tasten können. Denn das Sichtbare ist immer dem Verdacht ausgeliefert, bloßer Schein, bloße Simulation zu sein.“3 Ein anderes Problem des Sehens ist, dass es sich nicht selbst sehen kann, d.h. dass der Sehende alles Mögliche um sich herum zu sehen vermag, seinen eigenen Körper jedoch nur ausschnittsweise visuell wahrnehmen wird.4 Wie wir nun im letzten Punkt dieses Kapitels im Rahmen der Eigennamen sehen, oder besser: nachvollziehen werden, zweifelt der biblische ungläubige Thomas so lange an der Wahrhaftigkeit Jesu, bis er die Aufforderung erhält, mit seinem Finger die Wundmale zu berühren, auf dass dem blinden Fleck des Sehens und des Glaubens die taktile Überprüfung als Beweis hinzugefügt wird.

3.4 Eigennamen: Anne und Thomas

Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache. 1

Walter Benjamin

Eigennamen umfassen laut Peter Widmer erst seit dem Mittelalter und der Entstehung des Handwerkergewerbes die zwei Aspekte des Vornamens und Nachnamens. Der Nachname gab Auskunft über den Beruf. Davor sei es üblich gewesen, die Menschen nur mit einem Namen zu bezeichnen und gegebenenfalls einen spezifizierenden Namenszusatz zu addieren, falls zwei Menschen gleichen Namens im selben Umfeld lebten.2 Mit der Zunahme der Berufstätigen, insbesondere in den sich herausbildenden Ballungszentren, bedurfte es einer weiteren Spezifizierung der Individuen z.B. über ihren Heimatort oder über bestimmte Attribute. Auf dieser Basis lösten sich in den nachkommenden Generationen, unter anderem durch phonetische Sprachveränderungen, langsam die Nachnamen von ihrer Herkunft über die Berufsbezeichnungen oder anderen zugeordneten Eigenschaften.3 Gerhard Poppenberg formuliert die Problematik des Eigennamens als Mischung von Identifikation und „Identidefikation“. Letztere ist die Folge eines Entfremdungsprozesses durch die Selbstbezeichnung, die den Menschen in Bezeichnenden und Bezeichneten aufteilt, wodurch sich der Bruch zwischen Wort und Bezeichnetem nicht mehr rückgängig machen lässt.4

Die Dimension der beiden Eigennamen Anne und Thomas (l’Obscur) soll im Folgenden herausgearbeitet werden, da sie als wiederkehrende Namen eine gewisse Zuordnung von beschriebenen Erfahrungen zu diesen beiden Figuren von TO2 ermöglichen. Indessen zeigt sich gerade an ihren Namen, dass diese sich durch die Ersetzungen unter ihrem Deckmantel als leere, referenzlose Hüllen entpuppen.5 Mein Ziel ist es, darzustellen, welche Problematik diese Referenzen in sich bergen: In Annes Fall sind sie problematisch aufgrund der Besonderheit der diskursiven, d.h. konkret der kursiven, Erscheinung ihres Namens im 3. Kapitel. Über den Namen Thomas lassen sich verschiedene Verbindungslinien in den Bibeltext, jedoch auch zum apokryphen Thomasevangelium, ziehen. Die Frage des Apokryphen bzw. der Pseudoepigraphie soll schließlich mit dem 2. Teil seines Eigennamens, der die Dunkelheit als Hauptmerkmal seiner Identität im Titel beider Versionen hervorhebt, verknüpft werden. Dieser 2. Teil verschwindet in beiden Fassungen in Thomas, dem 1. Teil des Namens, woraus die Frage nach dem Verhältnis des im Titel vorkommenden Eigennamens und dem im Text ausbuchstabierten Eigennamen resultiert.

Anne

Die etymologische Herkunft des Namens Anne ist der hebräische Name Hannah, der mit ‚Anmut‘ oder ‚Gnade‘ übersetzt werden kann. Am Rande bemerkt sei, dass Blanchot Medizinkurse mit Schwerpunkt auf Neurologie und Psychiatrie im Krankenhaus „Sainte-Anne“ belegte. Ob der kranken Anne in Thomas l’Obscur in ihrer Namensgebung diese Krankenhausumwelt hinzuzufügen ist, bleibt eine offene Frage.

Anne ist neben Thomas die zweite ‚Protagonistin‘ von TO2. Der Begriff ‚Protagonistin‘ ist bewusst in einfache Anführungszeichen gesetzt, da ihr die an ihren Namen angefügten Ereignisse und Wahrnehmungen nur bedingt zuzurechnen sind. Auch wenn Anne in TO2 mit zahlreichen Attributen belegt wird, erscheint keines davon als Hauptattribut. Sie erweisen sich in der Ersetzbarkeit als unbrauchbare Beschreibungen, was zur Folge hat, dass ihr Name auf nichts weiter als sie selbst verweist und damit eine untilgbare semantische Leerstelle erzeugt. Im 3. Kapitel von TO2 wird Anne zum ersten Mal mit ihrem Namen genannt und als Figur in den Text gerufen.1 Dieses frühe Erscheinen ihres Eigennamens unterscheidet TO2 von TO1, wo ihr Name erst im 5. Kapitel Erwähnung findet und sich erst im 7. Kapitel mit der Figur Anne aus dem Hotelsaal verbindet, wodurch ihr Schleier zumindest partiell gelüftet wird. Im 3. Kapitel von TO1 ist sie und ihre Identität von einer schimmernden und leuchtenden „tunique“ umhüllt,2 wohingegen im 3. Kapitel von TO2 diese Tunika gänzlich fehlt, die Jérémie Majorel in seinem 2013 erschienenen Buch zu Blanchots Gesamtwerk als „synecdocque de la jeune fille“ liest.3 In der Tat ist das synekdochische Spiel in TO1 nicht zu übersehen. Es erstreckt sich über das 3., 5. 6. und 7. Kapitel und lässt dabei sowohl Thomas’ als auch Annes Identität im Dunklen, sofern insbesondere im 5. und 6. Kapitel von TO1 die Figuren stark anonymisiert werden. Die Tunika ist der entscheidende Hinweis, der die „jeune fille“ schließlich mit dem Namen Anne in TO1 verbindet. In TO2 scheint Anne nicht mehr durch ihre leuchtende Tunika vor Thomas’ Blick und dem der anderen geschützt, denn sie wird, wie gesagt, bereits im 3. Kapitel mit einem Eigennamen versehen.

Von dem Mann, der in TO1 im 5. Kapitel das Hotel betritt, ist anzunehmen, dass „er“ mit Thomas in Verbindung zu bringen ist, dessen Name jedoch erst zu Beginn des 7. Kapitels von TO1 wieder genannt wird und davor eben nur in der dritten Person singular erscheint. Sicherheiten für die Identität von Thomas und „il“ gibt es dabei keine. Gerade diese sich im Hotel ereignende Episode, in der Figuren und Namen sich höchstens berühren, aber keine Vereinigung finden, fehlt in der zweiten Fassung von Thomas l’Obscur. Mit ihr streicht Blanchot zudem Analepsen, die die Geschehnisse des 3. Kapitels aus einer anderen Erzählperspektive erneut erzählen und in dieser Überlagerung die Bezüge verunklaren. Dennoch würde ich nicht wie Majorel folgern, dass in TO2 deshalb die „Identifikation von Form und Objekt“4 weniger in der Schwebe gehalten wird als in TO1, sondern vielmehr argumentieren, dass dies in TO2 in anderer Weise getan wird: Das Verdecken und Verschieben von Bezügen ist in TO2 schlichtweg omnipräsent und benötigt daher nicht die textuelle Erwähnung einer Tunika, die metaphorisch gleich einem Schleier gelüftet wird, um dann doch eine Identität zwischen Figur und Name zuzulassen.5

Nun soll noch einmal an die zuvor bereits thematisierte Textstelle des 3. Kapitels von TO2 angeschlossen werden, in der Anne bei ihrem Namen gerufen wird und diese Stelle im Anschluss mit dem Ruf Annes nach Thomas am Ende des Kapitels verknüpfen. Annes Name ist als einziges Wort des 3. Kapitels von TO2, aber auch als eines der wenigen des Buches (darunter im 4. Kapitel die Wörter Je und Il), kursiv geschrieben und erfährt infolgedessen eine besondere Betonung. Die Signifikantenkette „Anne“ hat einen anderen Status als die sie umgebenden Ketten. Mittels der Kursivierung wird der Blick auf die Buchstaben als solche gelenkt, um dann aber mittels einer in Klammern gesetzten Bemerkung auf die phonetische Ebene zu verweisen: ‚Anne‘: „Ayant entendu quelqu’un l’appeler: Anne (d’une voix très aiguë), voyant qu’elle, aussitôt, levait la tête, prête à répondre, il se décida à agir et, de toutes ses forces, frappa sur la table.“6 Man liest nicht nur den Eigennamen, sondern erhält zudem einen Hinweis auf die Art und Weise, wie dieser Name klanglich formuliert wurde, nämlich „d’une voix très aiguë“, woraus sich wiederum ableiten lässt, dass Annes Name wahrscheinlich von einer Frau ausgesprochen wurde, unter Umständen von der alten Dame, die Thomas zuvor ihren Platz überlassen hat.7 Thomas ist derjenige, der als Reaktion auf diesen Ruf nach Anne auf den Tisch schlägt, um weiteren Kontakt anderer mit ihr zu verhindern. Das Auditive, das als versuchter Sprachkontakt in seine Faszination bricht, transformiert Thomas’ Fixierung auf Anne von der Passivität des Blickens in eine Aktivität der physischen Bewegung, die dem sprachlichen Ruf eine andere hörbare Antwort entgegensetzt. Für Thomas umso bedrohlicher ist dieser Ruf, als er von Anne zurück auf diejenige verweist, die ihn ausgesprochen hat. Der Ruf nach Anne über ihren Eigennamen als Teil des Symbolischen droht Anne wieder in die symbolische Ordnung zurückzuholen und damit Thomas zu entziehen.8 Während Anne mit ihrem Namen gerufen wird und sich dadurch als etwas sprachlich Bezeichenbares manifestiert, verhält es sich mit dem Ruf nach Thomas anders: Zuerst glaubt Thomas, mit seinem Namen gerufen zu werden, ist sich dann aber dessen doch nicht mehr sicher: „Au même moment, la jeune fille l’appela du dehors d’une voix décidée, presque trop forte […]. Puis, lorsque le silence eut recouvert l’appel, il ne fut plus aussi sûr d’avoir réellement entendu son nom et il se contenta de prêter l’oreille en espérant qu’on l’appellerait à nouveau.“9 Die Unsicherheit Thomas’ ob dieses Rufes artikuliert der Text zusätzlich dadurch, dass der Ruf seines Namens nicht auf der Oberfläche der Textstruktur erscheint. Die Lautkette ‚Thomas‘ wird nicht entsprechend der Lautkette ‚Anne‘ als Teil der symbolischen Ordnung ausgewiesen. In der ausbleibenden Wiederholung und Bestätigung des Rufes muss Thomas schließlich erkennen, dass die Distanz zwischen ihm und dem Rest der Welt schier unüberwindbar und eine Selbstvergewisserung unmöglich ist. Mit dieser Erkenntnis verlässt er im letzten Satz des Kapitels den Speisesaal.

Im Anschluss an den Textkommentar soll im Folgenden durch eine Skizzierung des biblischen Thomas der konstitutiven Dunkelheit oder Verborgenheit von Thomas weiter nachgegangen werden.

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