Nachtdenken

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #6
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0.3 Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version

Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur (= TO2) bildet die Basis meiner Überlegungen, da sich in ihr im Vergleich zur älteren Version eine Radikalisierung des Nachtdenkens abzeichnet.1 Radikalisierung meint hier, dass die struktur- und handlungsbeeinflussende Gewalt der anderen Nacht in der jüngeren Version des Textes greifbarer, weil von Blanchot daraufhin zugespitzt, ist. Die implizite Dunkelheit von TO1 wird in TO2 auf der Ebene der Darstellung verstärkt. Dies bedeutet, dass der Text von TO2 nicht nur inhaltlich und durch schwere Lesbarkeit als Nachtdenken zu bezeichnen ist, sondern sich fast emphatisch metasprachlich dazu bekennt. Es findet eine Verdichtung und Verschiebung als Grundstruktur der Radikalisierung der anderen Nacht insbesondere auf der Ebene des discours statt. Die metasprachlichen Eingriffe werden durch die Überarbeitung der ersten Version umso deutlicher, da die Kürzungen hauptsächlich Weltbezüge betreffen, die in TO2 einer verstärkten Performanz des Diskursiven weichen. Daher wird von TO2 ausgegangen und – wo es für meine Thesen notwendig ist oder andere Bezüge ermöglicht – die ältere Version kontrastierend sowie erweiternd zur Sprache gebracht. Hinsichtlich des Nachtdenkens als eines wiederkehrenden Bezugspunkts meiner Lektüre von Thomas l’Obscur kann so auch ein strukturelles Moment fruchtbar gemacht werden. Das 50-jährige Verschwinden der ersten Fassung hinter der zweiten aufgrund der schon angedeuteten schwierigen Rezeptionsgeschichte, die Blanchot nolens volens vielleicht auch mit der Alternative einer Kurzfassung beflügelt hat, soll als Ausdruck einer der wichtigsten Verschiebungsbewegungen im Schreiben Blanchots gelesen werden: der Selbstverdunklung der Nacht hin zur anderen Nacht. In einem Vorgriff auf das 2. Kapitel kann man daher von einer Bewegung der Kryptierung sprechen, mit der sich die Rezeption von TO2 entgegen der paratextuellen Leseanweisung Blanchots über TO1 gelegt und TO1 in sich eingeschlossen hat.

Mein Ansatz, von TO2 auszugehen und TO1 dennoch in den Textkommentar einzubeziehen, weiß um diese 50-jährige Verdeckung. Es kann jedoch nicht im Sinne eines Ursprungsdenkens um eine Rehabilitierung der vernachlässigten älteren Fassung gehen, sondern stattdessen um die Bezugnahme von TO2 auf TO1 als Ausdruck einer verdoppelten Dunkelheit des Titels Thomas l’Obscur. Die Wiederholung des Titels unter Beibehaltung beider Fassungen wird zur Meta-Dunkelheit, deren begriffliche Fassung Blanchots ‚autrenuit ist.

Der Beiname „der Dunkle“ verbindet Thomas mit dem Beinamen „ho skoteinos“ (der Dunkle) des Vorsokratikers Heraklit. Ob dessen Beiname von seiner Vorliebe für Paradoxa und Fragmentarisches herrührt oder von seiner Methode, bereits Gedachtes neu zu perspektivieren, ist nicht geklärt. Martin Heidegger setzt in seinen Vorlesungen über Heraklit gegen Hegel wie auch Cicero eine ganz eigene Interpretation dieses Beinamens: „Er [Heraklit, Anmerkung der Verfasserin] ist der ‚dunkle‘ Denker, weil er, anfänglicher als die anderen, in dem Zu-denkenden dasjenige denkt, was darin das ‚Dunkle‘ genannt werden kann, insofern er den Grundzug hat, sich zu verbergen.“2 Heraklit wird von Heidegger in seiner Dunkelheit an den Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt. Während Heidegger einerseits den verbergenden Aspekt des Heraklit’schen Denkens so weit wie möglich ergründen will – auf das Problem der Gründung werde ich im 2. Kapitel eingehen –, scheint Blanchot mit den beiden gleich-gültigen Fassungen unter dem Namen Thomas l’Obscur der Frage nach Ursprung und Originalität eine Absage zu erteilen. Er führt diese Frage in die unendliche Bewegung zwischen den beiden Fassungen – eine Bewegung, die jedoch erst mit dem Paratext von TO2 auf eine metatextuelle Ebene gebracht wird.

0.4 Makrostrukturelles

Den Inhalt der 2. Version von Thomas l’Obscur wiederzugeben, ist beinahe unmöglich und muss sich den Vorwurf einer Reduktion, aber auch der Verfälschung gefallen lassen. Rainer Stillers hat dennoch versucht, die Handlung von TO2 mit den folgenden Worten zu beschreiben:

Thomas, ein Mann unbestimmten Alters und unbekannter Herkunft, lebt, augenscheinlich isoliert und unter der Kommunikationslosigkeit der Umwelt leidend, in einem Hotel an der Küste. Dort lernt er Anne kennen, eine junge Frau, deren Vergangenheit ebenfalls nicht erzählt wird. Anne versucht bei ihren Begegnungen, Spaziergängen und Unterhaltungen mit Thomas dessen ‚Dunkelheit‘ zu durchbrechen und zu erfahren, wer und was für ein Mensch er ist. Bei diesem Versuch scheitert sie jedoch. Sie erkrankt und stirbt schließlich. Thomas bleibt allein zurück; in Annes Tod aber versucht er seine eigene Existenz zu begreifen.1

Dazu ist anzufügen, dass Thomas nicht grundlos an der Kommunikationslosigkeit seiner Mitmenschen leidet, sondern geprägt ist von Grenzerfahrungen, die ihm das Weiterleben unter Menschen erheblich erschweren. Ob er Anne erst im Hotel kennenlernt, ist nicht mit Eindeutigkeit zu behaupten. Anne versucht in der Tat zu begreifen, wer Thomas ist, doch hängt dies meines Erachtens mit ihrer schon bestehenden Krankheit zusammen, die sie erst mit der Möglichkeit und dann mit der Realität des Todes konfrontiert.

Die Kapitelanfänge bieten als Koordinaten einer Handlung, die man als äußere Handlung bezeichnen kann, eine Minimalorientierung. Den Beginn des 8. und 9. Kapitels ausgenommen – hier wird eine nicht beendete Erfahrung der Nacht weitererzählt und somit eine starke Verbindung zum vorangegangenen Kapitel hergestellt, wodurch die Kapitelgrenze aufweicht –, bewegt sich der erste Satz in allen anderen Kapiteln noch auf einer Ebene der Aussage, d.h. noch nicht auf der Ebene der Wahrnehmung einer ortlosen Erzählstimme. Das zeigt sich auch an der Kürze der Anfangssätze der Kapitel 1–5 sowie 10–12. Die Geschichte, nur anhand des jeweils ersten Satzes eines jeden Kapitels erzählt, läse sich wie folgt:

Thomas s’assit et regarda la mer. […] Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelque pas. […] Il revint à l’hôtel pour dîner. […] Thomas demeura à lire dans sa chambre. […] Vers le milieu de la deuxième nuit, Thomas se leva et descendit sans bruit. […] Anne le vit s’approcher sans surprise, cet être inévitable en qui elle reconnaissait celui qu’elle aurait vainement cherché à fuir, qu’elle rencontrerait tous les jours. […] Anne vécut quelques jours de grand bonheur. […] C’est dans cet état nouveau que, se sentant devenir elle-même une réalité énorme et incommensurable dont elle nourrissait son espérance, à la manière d’un monstre dont personne, pas même elle, n’aurait eu la révélation, elle s’enhardit encore et, tournant autour de Thomas, finit par attribuer à des motifs de plus en plus faciles à pénétrer les difficultés de ses relations avec lui, pensant par exemple que ce qui était anormal, c’est qu’on ne pût rien savoir de sa vie et qu’il restât, en toutes circonstances, anonyme et privé d’histoire. […] Quand elle revint au jour, cette fois tout à fait privée de paroles, refusant une expression aussi bien à ses yeux qu’à ses lèvres, toujours étendue sur le sol, le silence la montra à ce point unie au silence qu’elle l’embrassait furieusement comme une autre nature dont l’intimité l’aurait soulevée de dégoût. […] Quand on la découvrit étendue sur un banc du jardin, on la crut évanouie. […] Lorsque Anne fut morte, Thomas ne quitta pas la chambre et il parut profondément affligé. […] Thomas s’avança dans la campagne et il vit que le printemps commençait.

Inhaltlich kann man an diesen 12 Kapitelanfängen erkennen, dass die Bewegung von Thomas und Anne im Raum eine Verbindung zwischen den Kapiteln schafft, wenngleich die Kapitel durch den jeweiligen Raumwechsel zu differenzieren sind. Zu Beginn sitzt Thomas am Meer, dann kehrt er diesem den Rücken zu, um in ein Wäldchen zu gehen. Von dort geht er zurück ins Hotel, sodann befindet er sich in seinem Zimmer, um dann im nächsten Kapitel hinunterzugehen und sich schließlich Anne zu nähern. Die Kapitel 7 bis 10 rücken Anne und ihren Todeskampf ins Zentrum und bilden, so meine These, eine eigene Einheit innerhalb der 12 Kapitel des Textes. Im 11. Kapitel bleibt Thomas nach Annes Tod im Zimmer der Verstorbenen, bevor er im letzten Kapitel zu einem Marsch aufbricht, der ihn nicht nur über das Meer mit dem Geschehen des 1. Kapitels verbindet.

Die wichtigste Makrostruktur von TO2 ist die Nacht. Die bezeichenbare Nacht fungiert als Struktur, die andere Nacht als Bewegung infiniter Regresse und unabschließbarer Entfremdung und Entwerdung. Während die Abläufe der Kapitel 1–3 noch mit einer Abfolge von Tag und Nacht kompatibel sind, bricht spätestens mit dem 4. Kapitel von TO2 über die andere Nacht eine andere Zeitschicht in den Text und überlagert fortan das Erzählen, welches sich dann nicht mehr als ein lineares Geschehen zusammenhalten lässt.

Neben der Nacht bzw. der anderen Nacht formt sich eine weitere Makrostruktur über den Rhythmus von Eintritt und Austritt. Jedoch stellt diese eine Bewegung dar, die gerade die Konnotation von Innen und Außen sowie von ‚geschlossen‘ und ‚offen‘ durchkreuzt. Eine Bewegung von Eintritt und Austritt zeigt sich in jedem Kapitel auf eine andere Weise: im 1. Kapitel als Eintauchen ins Meer und Eingang in einen „heiligen Raum“ und dem Wiederaustritt nach der Grenzerfahrung, im 2. Kapitel als Abstieg in die Krypta, aus der der Austritt nicht ebenso deutlich vollzogen wird. Dies spricht dafür, diese Erfahrung der anderen Nacht als eine zu lesen, die sich über das gesamte Buch erstreckt. Das 3. Kapitel beginnt mit dem Eintritt in den Speisesaal des Hotels und endet mit dem Verlassen desselben. Zu Beginn des 4. Kapitels hat Thomas bereits sein Zimmer betreten, begibt sich aber sodann in die Matrix der Wörter. Gleich zu Beginn des 5. Kapitels wird ein Abstieg in die Nacht beschrieben, der sich später im Kapitel als Sturz in das selbst geschaufelte Grab wiederholt, aus dem Thomas wieder aufersteht. Auch in den anderen sieben Kapiteln wird diese Struktur beibehalten. Neben dem stets damit verbundenen Zustandswechsel ist es die Struktur des Diesseits (Oberwelt) und Jenseits (Unterwelt), zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst und Anderem, die wiederkehrend verhandelt wird. Dabei gerät jedoch die binäre topologische Ordnung ins Schwanken, wodurch sich die etablierten Unterscheidungen invertieren und wechselseitig durchdringen.

 

Auf die inhaltlichen Makrostrukturen wird im Laufe der Arbeit über Blanchots Bezugnahme auf andere Texte in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. Dabei soll es wesentlich um die Deklination wiederkehrender Motive und Denkfiguren wie unter anderem des Meeres, des Abgrunds, des Blicks, des Begreifens, der Unterwelt, des Weges, der Begegnung, der Ähnlichkeit und der Wiederholung sowie der Wunde gehen.

1. Mikroskope – Berührung auf Entfernung

Das 1. Kapitel meiner Arbeit widmet sich zunächst noch einmal dem Paratext, der TO2 vorangestellt ist, und auf den bereits eingegangen wurde. Der Fokus wird zunächst auf den ersten drei Worten, „il y a“, liegen, die mehr als eine einfache Bezeichnung von etwas Vorhandenem ausdrücken. Der Begriff il y a kann als französische Lesart von Heideggers es gibt verstanden werden. Daher wird die Klärung der Positionierung und Bedeutung dieses existenzialphilosophisch und phänomenologisch geprägten Begriffs, der vor den eigentlichen Textanfang von TO2 gesetzt ist, Aufschlüsse über die Verortung Blanchots zwischen Levinas und Heidegger geben. Im Anschluss lese ich das Kapitel als eine Initiationserfahrung, die von transgressiven Bewegungen des Textes durchkreuzt wird. Die Erfahrung des Protagonisten Thomas soll dabei als eine innere Entgrenzungserfahrung im Sinne Georges Batailles nachvollzogen werden.

1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas)

Imaginons le retour au néant de tous les êtres: choses et personnes. Il est impossible de placer ce retour au néant en dehors de tout événement. Mais ce néant lui-même? Quelque chose se passe, fût-ce la nuit et le silence du néant. L’indétermination de ce „quelque chose se passe“, n’est pas l’indétermination du sujet, ne se réfère pas à un substantif. Elle désigne comme le pronom de la troisième personne dans la forme impersonnelle du verbe, non point un auteur mal connu de l’action, mais le caractère de cette action elle-même qui, en quelque matière, n’a pas d’auteur, qui est anonyme. Cette „consumation“ impersonnelle, anonyme, mais inextinguible de l’être, celle qui murmure au fond du néant lui-même, nous la fixons par le terme d’il y a.1

Emmanuel Levinas

Zu Beginn meines 1. Kapitels möchte ich auf den Anfang von TO2 eingehen. Dieser Anfang der nouvelle version markiert gleichzeitig eine Mitte zwischen zwei Versionen, in die sich der Paratext schiebt, wie es in Punkt 0 erläutert wurde. Bevor also der ‚eigentliche‘ Text einsetzt, kündigt sich ein Paratext an, der mit den Worten „Il y a […]“2 beginnt und den Leser der zweiten Version darauf hinweist, dass der Anfang des Textes Thomas l’Obscur woanders liegt bzw., dass die Frage des Anfangs sich unentschlossen zwischen den beiden Versionen bewegen muss. Il y a – drei Lexeme, die man leicht überliest oder in ihrer Einfachheit nicht ernst nimmt. Als Incipit gesetzt, verdienen sie jedoch mehr Aufmerksamkeit.

So schreibt Emmanuel Levinas über das il y a: „Thomas l’Obscur […] s’ouvre sur la description de l’il y a […]. La présence de l’absence, la nuit, la dissolution du sujet dans la nuit, l’horreur d’être, le retour d’être au sein de tous les mouvements négatifs, la réalité de l’irréalité, y sont admirablement dits.“3 Levinas zieht hier eine Verbindung zu dem in der Blanchot-Rezeption recht beliebten 2. Kapitel von Thomas l’Obscur, das für ihn wie kein anderes literarisch ausdrückt, was das il y a sein kann und was es heißt, es zu erfahren. Ich möchte seine Aussage jedoch auch auf den Begriff des il y a selbst anwenden, der als Beginn des Paratextes vor alle anderen Worte der zweiten Version gestellt ist. Die „Anwesenheit der Abwesenheit“ ist eine der am häufigsten verwendeten Formulierungen, um Blanchots Sprachkonzept oder seine Gedanken zur Bildlichkeit zu beschreiben. Was dies konkret bedeutet, darauf gehen viele Untersuchungen nicht genauer ein. In den oben zitierten Worten Levinas’ steht die Präsenz der Absenz in einer Reihung von Ausdrücken, die er mit dem il y a verknüpft und anhand derer er Thomas l’Obscur beschreibt. Die Kommata dieser Reihung könnte man auch durch Gleichheitszeichen ersetzen: Das il y a ist die Anwesenheit der Abwesenheit, ist die Nacht, ist die Auflösung des Subjekts in der Nacht, ist der Horror des S/seins usw. Die Form, in der das il y a in TO2 erscheint, ist eine unaufhaltsame Metamorphose von Zuständen, die ohnehin bereits nur Spuren von Auslöschungsbewegungen sind und in ihrem Erscheinen die Möglichkeit, dass überhaupt etwas erscheinen kann, radikal hinterfragen.

Zur Anwesenheit von Abwesenheit wird die neue Version von Thomas l’Obscur aber auch als ‚Ganze‘ dadurch, dass sie auch auf einer Makroebene die andere Version des Textes in sich trägt. TO2 ist auch TO1, jedoch nicht in Form einer identitären oder umfangslogischen Beziehung, sondern als Relation der Ähnlichkeit, d.h. als ein Erscheinen des Abwesenden in den wiederholten, aber auch veränderten Worten der nouvelle version. Damit entsprechen TO1 und TO2 in dieser Relationalität dem Verhältnis von Nacht und anderer Nacht. Wenn sich TO2 in den Worten Levinas’ auf eine Beschreibung des il y a hin öffnet, so kann daraus gefolgert werden, dass diese Öffnung alle Schichten des Textes ergreift.

Il y a und es gibt

In seinem 1982 erschienen Werk Ethique et Infini sagt Emmanuel Levinas über die Wichtigkeit Martin Heideggers „qu’un homme qui, au XXe siècle, entreprend de philosopher, ne peut pas ne pas avoir traversé la philosophie de Heidegger, même pour en sortir.“1 An Heidegger, und damit an einer bestimmten Ausprägung der Phänomenologie und des Existenzialismus, geht demnach kein Weg vorbei, sofern man sich im 20. Jahrhundert in Frankreich mit Philosophie beschäftigen oder gar welche hervorbringen will. Blanchot findet seinen Weg zu Heidegger über Levinas.2 Die beiden Straßburger Studienkollegen vollziehen diese Art der Begegnung mit Heidegger als Abstoßung von Heidegger an ihrem schriftlich geführten Dialog über den Begriff des il y a und dessen Abgrenzung zu Heideggers es gibt. Dieser Dialog besteht aus einem jahrelangen, kontinuierlichen Wiederaufgreifen des il y a, während dessen sie nicht müde werden, andere Terme ihres Denkens in den Horizont des il y a zu stellen und einander die gegenseitige Freundschaft und geistige Verbundenheit zu versichern.3 Einer dieser Begriffe ist die Nacht – sei es in ihrer radikalen Form der Selbstverdunklung als ‚autrenuit, sei es in Umschreibungen des Nächtlichen und Dunklen. So schreibt Blanchot beispielsweise von einem „nächtlichen Rauschen des Anonymen“, um seine Auslegung des il y a zu verdeutlichen:

L’il y a est une des propositions les plus fascinantes de Lévinas: sa tentation aussi, comme l’envers de la transcendance, donc indistincte d’elle, qu’on peut décrire en termes d’être, mais comme ‚impossibilité‘ de ne pas être, l’insistance incessante du neutre, le bruissement nocturne de l’anonyme, ce qui ne commence jamais […], l’absolu mais comme indétermination absolue: cela ensorcelle, c’est-à-dire attire vers le dehors incertain.4

Die Notionen „il y a“, „neutre“, „bruissement nocturne de l’anonyme“ und „dehors“ aus diesem Zitat und das „désastre“, das an anderer Stelle genannt wird, bilden eine Sphäre von Denkfiguren, die um die Frage einer un(be)greifbaren Vorhandenheit als etwas Anwesendes ohne Form kreisen. Die wesentlichen Gedanken Levinas’ zum il y a finden sich in seiner Schrift De l’existance à l’existant5. Il y a im Levinasschen Sinne und mit Blick auf Blanchots Begriff davon ist weder Sein noch Nichts, „[n]i néant, ni être“6, sondern das Rauschen oder Murmeln eines unpersönlichen Seins und grenzt sich von Heidegger wie wohl auch von Jean-Paul Sartre ab, wenn man hier dessen philosophisches Hauptwerk L’être et le néant erkennen möchte.7 Elemente, die Levinas vornehmlich an Heideggers Philosophie beeinflusst haben, sind dessen bereits genannter Begriff des es gibt und seine Unterscheidung von Sein und Seiendem. Das Seiende ist, während das Sein im „es gibt“ liegt.8 Das es gibt ist apriori da und kann daher nicht von der Erfahrung erfasst werden. Levinas kritisiert, dass Heidegger das Sein trotz aller versuchten denkerischen Gegenmaßnahmen in einer „Jemeinigkeit“ denke und demnach das Sein in letzter Konsequenz doch stets von einem Seienden besessen oder vereinnahmt werde.9 Das Sein, unabhängig von irgendeinem Seienden gedacht, wäre nach Levinas das il y a. Es lässt sich somit als eine fortgesetzte Anonymisierung von Heideggers Sein begreifen, als das, was wie eine unabänderliche, bedrohliche und leere Forderung bleiben würde, wenn alles vernichtet wäre. Wenn Levinas 1935 in „De l’évasion“ noch den Ausdruck „Il y a de l’être“10 gebraucht und diesen dann in späteren Schriften verkürzt auf das il y a, dann zieht sich bei ihm das Sein in das il y a zurück, bleibt aber durch sein Fehlen auf der Oberfläche als eine Art Ruf bestehen. Das il y a als „phénomène de l’être impersonnel: ‚il‘“11 jenseits von Fülle und positiver Besetzung stellt in seiner Anonymität etwas Bedrohliches und Verunsicherung Erzeugendes dar, aus dem ein Ausweg oder eine Möglichkeit der Beherrschung gefunden werden muss. Die Beziehung zum Anderen (autrui)12 als Verantwortung für den Anderen ist der Ausweg aus dem il y a für Levinas. In dieser Bezogenheit auf den Anderen kann der Mensch der Kontingenz und dem anonymen Strom des Seins entkommen. Die Jemeinigkeit Heideggers wird, so könnte man folgern, zur ‚Jedeinigkeit‘ bei Levinas.

Blanchot hingegen wird diesen Schritt zum menschlichen Anderen als Möglichkeit der Befreiung nicht mitvollziehen, sondern im anonymen Rauschen den Ungrund der Sprache finden und den Anderen gerade mit dieser anonymen Fremdheit durchsetzen. Deshalb wird er in Thomas l’Obscur in der uneinholbaren Bewegung der ‚autrenuit Erfahrungen evozieren, die das Inhaltliche wie das Diskursive überschreiten und die Ebene des Aussagens hinter sich lassen. Die eingangs zitierte Beschreibung des il y a in Thomas l’Obscur durch Levinas, in der er das il y a dem neutre annähert, ist als eine Erfahrung der Literatur überhaupt im Sinne Blanchots zu verstehen. TO2 ist eine Erfahrung des il y a in seiner konsequentesten Form: dem Tod. Wenn TO2 in jeder erdenklichen Weise versucht, Präsenz, Darstellung oder Konkretes zu verunmöglichen, zeigt sich darin die Präsenz des Todes umso deutlicher.