Nachtdenken

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #6
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Soma und Affizierung

Mit zunehmender Vertiefung in Blanchots Werk kristallisierte sich ein Zugang zu Thomas l’Obscur heraus, der das Somatische, das Materielle, aber auch das Mediale und die Affizierung immer wieder als Ausgangs-, oder Zielpunkte der Lektüren der einzelnen Kapitel in den Blick nahm. Mein Ansatz ist insofern als phänomenologisch-konstruktivistisch zu bezeichnen, als er die Erfahrung und Variabilität von Welt als Resultat der Wahrnehmung in den Vordergrund setzt. Indessen gehen damit keinerlei ontologische Setzungen einher. Die Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys bildet in meiner Lesart von Thomas l’Obscur eine wichtige Grundlage, insbesondere bezüglich der verhandelten Blickkonzeption, wenngleich dies nur einer von diversen Textzugängen ist. Denn Blanchot geht, mit Edmund Husserl gesprochen, in Thomas l’Obscur seinen ganz eigenen Weg „zu den Sachen selbst“. In Thomas l’Obscur haben wir es mit einem Text über Leiblichkeit im Angesicht des Todes als Abstoßung vom geistfixierten Subjektdenken der abendländischen Philosophie zu tun.

Der Tod ist das Ereignis des Unfassbaren schlechthin. Das Schreiben über den Tod, d.h. Blanchots Art, den Tod zu schreiben, ist ein Denken der anderen Nacht, die als als Medium und Unvordenkliches, d.h. als etwas, was Ermöglichungsgrund und Ermöglichungsraum ist, zwischen Leib und Bewusstsein gesetzt wird. Die andere Nacht Blanchots generiert sich aus dem ewigen Aufschub des Denkens und auch des Schreibens, den der Tod provoziert. Konzepte wie das Offene, das Außen, il y a, die psychoanalytische Krypta, mystische sowie neomystische Denkfiguren, lassen sich alle über die andere Nacht in ihrer radikalen Exteriorität verbinden. Mit ihr verweisen sie im Falle Blanchots, den qua Unsichtbares insbesondere die Nacht hinter der Nacht interessiert, die ‚autrenuit, auf eine ganz spezielle Art, das Verhältnis von Körper und Geist, von Buchstaben und Bedeutungen zu lesen. Entscheidend ist dabei, dass dies eine Absage an jedwede Geschlossenheit und fixierbare Ordnung bedeutet, sofern jedes Gefühl und jeder Gedanke als Wahrnehmung vermittelt Veränderungen evozieren, die sich nur partiell an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Ein nicht geringer Teil geschieht unter der sichtbaren Textstruktur und zeitigt Effekte der Selbstaffizierung an unvorhergesehenen Orten und Stellen.

Dies ermöglicht es, eine oder mehrere Verbindungslinien zwischen Blanchots Nachtdenken in Thomas l’Obscur und Affizierungstheorien zu ziehen. Letztere hat Michaela Ott in bemerkenswerter Weise in ihrem Buch Affizierung – Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur gebündelt. Sie profiliert darin mit starker Gewichtung des Affizierungsdenkens von Gilles Deleuze und Félix Guattari Affizierungsprozesse als Basis jedweden Denkens oder Handelns. Unterschieden wird das Affektive in Affekte, Affektion „als körperlich-seelische Vermittlung“ und Affizierung „als subjektkonstituierender Vorgang“.1 Eine grundlegende Eigenschaft des Affektiven ist es nach Ott, auf zweierlei Ebenen zu wirken, nämlich auf der Ebene der „Repräsentation“ sowie der Ebene der „Performanz“. Dieses doppelte Operationsfeld des Affektiven, das von „nicht-sichtbaren, aber zu erschließenden dynamischen Vorgängen Zeugnis ablegt“,2 wird auch in meinem Kommentar zu Thomas l’Obscur herangezogen, um unterschiedliche Wirkweisen und Erscheinungsformen der Sprache zu benennen und sie als Effekte der anderen Nacht auszuweisen.

Diese Effekte resultieren aus dem permanenten Versuch Blanchots, sich via Sprache dem Tod zu nähern bzw. die Sprache dem Tod zu nähern. Er spielt in Thomas l’Obscur unzählige Varianten durch, um mit der Sprache die Sprache in ihrem Bedeuten zu zerschreiben, z.B. indem er metaleptisch Vorder-, und Hintergrund vertauscht, Perspektiven so überschneidet, dass sie ihre Zuordnung verlieren, indem er das Ursache-Wirkungs-Prinzip verunklart, Subjekt-Objekt-Besetzungen in ihrer Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit zusammenbrechen sowie in Abundanz Motive in den Text einfließen lässt, nur um sie wieder zerstückelt fallen zu lassen und mit anderen zu überschreiben. Das Zusammenspiel dieser Strukturen bewirkt eine Bewegung infiniten Regresses, die in die ewige Differenz der anderen Nacht führt oder ihr entspringt, je nachdem wie man sich dieser zyklischen Struktur ohne Anfang und Ende unzureichend zu nähern gedenkt. Mit Sätzen, die ein ständiges Anhalten, Überlegen und Wieder-Lesen erzwingen, erweist sich Thomas l’Obscur in seinen beiden Fassungen als ein Text, der nicht aufhört von sich zu sagen, dass man ihn in all seiner Buchstäblichkeit und Körperhaftigkeit lesen und ihn beim Wort nehmen muss, um von dort aus der sprachlichen Affektlogik zu folgen, die ihresgleichen sucht. Inspiriert hat sie viele, nicht zuletzt Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida. Möge nun der Leser des vorliegenden Textes sich auch dazu inspirieren lassen, einer gemeinsamen Lektüre von Thomas l’Obscur mit Genuss zu folgen:

„Meinem Leser.

Ein gut Gebiss und einen guten Magen –

Diess wünsch’ ich dir!

Und hast du erst mein Buch vertragen,

Verträgst du dich gewiss mit mir!“

Friedrich Nietzsche

B. Hauptteil

0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen
0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum

Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen.1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung stattfinden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur, die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Romans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948:

J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau.2

Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger bestehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte kleine Buch ist der Kern seines Frühwerks, nur dass die Ursprungslogik von Kern und daraus entstehender Pflanze invertiert ist, da Blanchot den Kern im Umkehrprozess aus dem bereits Geschriebenen kreiert. Die ‚andere‘ Version von Thomas l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt.3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewichtige Gründe für die mäßige Rezeption waren.4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fassungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt.

Durch die Präsenz der beiden Versionen – nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens – stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes:

Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur, écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire.5

Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vorwort oder vielmehr dieser Vorsatz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können.6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt.

 

Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Verfahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsammlungen in anderer Form publiziert – nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemerkenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu.8

Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähnlich.9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist.10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes – oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte – kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire, in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen:

Un livre, même fragmentaire, a un centre qui l’attire: centre non pas fixe, mais qui se déplace par la pression du livre et les circonstances de sa composition. Centre fixe aussi, qui se déplace, s’il est véritable, en restant le même et en devenir plus central, plus dérobé, plus incertain et plus impérieux. […] quand il s’agit d’un livre d’éclaircissements, il y a une sorte de loyauté méthodique à dire vers quel point il semble que le livre se dirige; ici vers les pages intitulées Le regard d’Orphée.11

In dieser Konzeption des Fluchtpunktes wird selbiger zu einem Kraftpunkt, der den Text zusammenhält und ihn sich übersteigen lässt. In L’espace littéraire, einer Sammlung früher literaturtheoretischer Texte Blanchots, auf die ich kontinuierlich Bezug nehmen werde, ist das Zentrum eines, das sich in Richtung der Seiten befindet, die mit „Le regard d’Orphée“ überschrieben sind. Das Zentrum ist folglich nicht leicht auffindbar, sondern eine Metapher für die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Zentrum. Wenn es in L’espace litteraire ein Zentrum gibt, dann das sich verschiebende Zentrum, in das man nicht gelangen kann. Der Tod Annes, der in der ersten Version bereits sehr wichtig ist, jedoch noch durch andere Handlungen und Figuren überlagert wird, rückt in der zweiten Version deutlich in den Vordergrund und wird, hier stimme ich Bident zu, dessen meditatives Zentrum – sofern man dies wiederum als ein soeben skizziertes Zentrum im Sinne Blanchots versteht. Analog dazu macht sich der récit als Textform mit der späteren Fassung zum nachträglichen Zentrum des Romans, als welcher die erste Fassung von Thomas l’Obscur untertitelt wird. Von diesem Zeitpunkt an wird Blanchot keine Romane mehr schreiben, sondern neben seiner journalistischen Tätigkeit zahlreiche récits verfassen, die sich in ihrer Fähigkeit, etwas zu erzählen, stetig selbst hinterfragen.

Récit

Blanchot hat nicht nur récits verfasst, er hat auch innerhalb seiner récits über diese reflektiert. Das insbesondere in der deutschen Literaturwissenschaft bekannteste Beispiel hierfür bildet La folie du jour, meist zusammen mit Jacques Derridas „La loi du genre“, einer Interpretation von La folie du jour, rezipiert. Kernpunkt des Blanchotschen récit ist es, seine eigenen Entstehungsbedingungen als konstitutive Unerzählbarkeit wieder in sich eintreten zu lassen. Obschon erzählt werden muss, kann die Erzählung eigentlich keinen Inhalt, sondern einzig die Tatsache vermitteln, dass trotz aller Unmöglichkeit das Erzählen erzählt werden muss. Der Anfangssatz von La folie du jour kehrt metaleptisch als Aufforderung an den Ich-Erzähler, seine „eigentliche“ Geschichte zu erzählen, in der Geschichte wieder.1 Dabei ist diese Wiederholung des Anfangs der Erzählung nicht als Zitat über Anführungszeichen markiert, wodurch innerhalb der Erzählung diese erneut beginnt. Somit wird die Erzählung sowohl mit Blick auf ihren Status als geschlossener Text als auch als Gattung dekonstruiert, indem sich der Anfang oder Rand der Erzählung in einem Akt der „invagination inocclusive“ in den Binnenraum des Textes faltet.2 Diese Einfaltung, die Innen und Außen narratologisch kollabieren lässt, verhandelt der Text ebenfalls auf semantischer Ebene. Der letzte Satz, „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais.“, wird angesichts des unendlich fortsetzbaren Wiedereintritts des récit zur Antriebsbewegung eines Erzählens zwischen Konstativ und Performativ, das sich zwar nicht mehr unter den Begriff des récit fassen lässt, jedoch als Narration fortgesetzt werden muss.3

Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur trägt wie La folie du jour den récit nicht im Untertitel. Stattdessen findet sich der Zusatz „nouvelle version“, der an die Stelle des Untertitels „roman“ der ersten Fassung gesetzt wird.4 Das Fehlen dieses Teils des Untertitels wird in der Blanchot-Forschung meist als Hinweis auf den Übergang von Blanchots Romanschaffen hin zu den wesentlich kürzeren récits gewertet. Die „nouvelle version“ trägt jedoch in der ersten Auflage der Gallimard-Ausgabe von April 1950 noch den Untertitel „roman“, der sodann verschwindet und in der heute erhältlichen Fassung nicht mehr abgedruckt ist.5 Einerseits hat Blanchot folglich nach der ersten Auflage eine Änderung vorgenommen, indem er den Zusatz „roman“ nicht mehr für gültig erklärte, andererseits wurde der roman nicht einfach durch den récit ersetzt. Daraus lässt sich schließen, dass TO2 weder das Eine noch das Andere ist und sich einer Gattungszuordnung entzieht. Sofern TO2 über den vorangestellten Paratext auf seinen Vorgänger TO1 verweist und die Beziehung zu diesem als eine zwischen Andersheit und Fremdheit erklärt, nimmt TO2 die erste Fassung fragmentiert in sich auf und faltet sie in sich ein.6

1962 erscheint L’attente l’oubli – das letzte fiktionale Buch, das unter den Blanchotschen Begriff des récit fällt, und so den endgültigen Übergang Blanchots von den Erzählungen hin zum Fragmentarischen einleitet. Sein Schreiben durchläuft folglich stetige Zersetzungsprozesse: vom Roman zum récit, vom récit zum Fragmentarischen und von den Fragmenten in die Mikrosphäre begrifflicher Konstrukte. Anzumerken sei aber, dass diese Auflösungsbewegung des Erzählens zwar über den Wandel der Textform zu beobachten ist, gleichzeitig sind aber schon die ersten Romane von philosophischen Denkfiguren durchsetzt. Narrative Elemente bilden zudem Rezidive im literaturkritischen Spätwerk.7

0.2 Differenzen zweier Bücher selben Titels

Bei einer ersten Betrachtung der beiden Texte mit dem Titel Thomas l’Obscur fällt die unterschiedliche Erscheinung der Kapiteleinteilung ins Auge. Die Kapitel in TO1 beginnen nicht mit einer neuen Seite, während in TO2 die strukturierende und trennende Funktion der einzelnen Kapiteleinheiten deutlicher ist und somit ein wichtiges Textmerkmal bildet, an dem sich meine Interpretation orientiert und worauf ich in den Präliminarien bereits hingewiesen habe. Neben der Kapiteleinteilung unterscheidet TO2 von TO1 die Textlänge, denn TO2 umfasst nur etwas mehr als ein Viertel des Textvolumens von TO1.1 Eine auffällige Differenz zwischen den beiden Fassungen des Textes Thomas l’Obscur ist die Reduktion der 15 Kapitel der ersten Version auf 12 Kapitel in der zweiten Fassung. Die Zahl 12 scheint bei dieser Reduktion der Kapitel kein Zufall zu sein. Zum einen verweist sie auf eine Anlehnung an die großen epischen Texte, vor allem aber erscheint sie als eine Hinterfragung derselben, die entweder 12 Kapitel oder als Verdopplung der 12 eine Anzahl von 24 Kapiteln umfassen.2 TO2 schreibt sich aufgrund seiner Kürze wie seiner metaliterarischen Hinterfragung des Erzählens als andere Art des Erzählens jenseits der Ausschmückung in den Diskurs ein. Darüber hinaus ist, wie im 3. Kapitel meiner Untersuchung näher ausgeführt wird, Thomas einer der 12 Apostel Jesu, was sich ebenfalls hinsichtlich der Zahl 12 als nicht kontingent darstellt. Zudem erschließt sich ein weiterer Bibelbezug über die 12 Stämme Israels des Alten Testaments, worauf mein 5. Kapitel eingehen wird. Schließlich aber ist die 12 in der Tag/Nacht-Rhythmisierung als Zäsur von Tag und Nacht sowie abermals in ihrer Verdopplung als Einheit eines Tages von 24 Stunden wichtig. Einen letzten Zusammenhang der 12er-Rhythmisierung wird das 12. Kapitel durch Referenzen auf Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß erfahren: Das Handlungsgeschehen dieses Romans erstreckt sich zeitlich vom Morgen des 30. Geburtstag Josef K.s bis zum Vorabend seines 31. Geburtstages. Daraus folgt, dass vom Beginn des Prozesses gegen K. bis zu seiner Tötung genau 12 Monate vergehen.

Das erheblich reduzierte Textvolumen von TO2 resultiert hauptsächlich aus Kürzungen der mittleren Passagen von TO1. Hier finden, anders als in den ersten und den letzten Kapiteln, umfangreiche Streichungen und Umordnungen statt.3 Die Streichungen in TO2 reichen von ganzen Kapiteln bis hin zu einzelnen Lexemen, wodurch die Sorgfalt, mit der Blanchot an TO2 gearbeitet hat, klar zum Vorschein kommt.4 TO1 weist deutlich mehr Weltreferenz als TO2 auf. Dies äußert sich z.B. in konkreten Ortsangaben (Paris, ein Museum, ein Café etc.), die in TO2 zu generischen Orten werden. In TO1 werden Geschehnisse zumindest teilweise erklärt, während der Text von TO2 diese Explikationen kürzt und ins Implizite überführt.5 Ein wichtiges Beispiel ist die in Ansätzen vorhandene Tiefenschärfe der Protagonisten in TO1, die in TO2 zu einer transpersonalen Oberfläche von Wahrnehmungen und Beobachtungen einer neutralen Erzählstimme wird.

Eine allgemeine Folgerung Stillers zu den Unterschieden der beiden Versionen sei noch erwähnt. Diese betrifft das Verhältnis von Änderungen auf der Wortebene: „Insgesamt lassen sich 187 Fälle registrieren, in denen in B ein einzelnes Wort gegenüber dem Text von A getilgt ist, während die benachbarten Ausdrücke beibehalten oder allenfalls modifiziert sind.“6 Unter anderem anhand solcher Streichungen soll meine Lektüre den Nachvollzug des Nachtdenkens als entgrenzendes, Differenzen verschiebendes oder neutralisierendes Sprachwalten ermöglichen, das in TO2 von Blanchot in den Vordergrund gerückt wird.