Justus Peyrikus

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Justus blickte auf den Geist, dann auf seine Freunde. In Martins Gesicht zuckte es verräterisch. Es kostete ihn große Mühe, um bei dieser sonderbarsten Erscheinung, die er je gesehen hatte, nicht loszuprusten.

So sehr sie sich auch im ersten Moment erschreckt hatten, der Geist tat ihnen leid, denn er sah reichlich mitgenommen und ramponiert aus.

»Kommt näher, nur keine Angst«, lud er sie ein. »Schüler dieses altehrwürdigen Internats waren immer schon meine Freunde. Es sei denn, sie haben mich gehänselt.« In solchen Fällen, fügte er hinzu, bereitete er diesem Ansinnen sehr schnell ein Ende. »Ihr befindet euch übrigens hier in der Librum-Secundum-Loge.«

Bei seiner Rede hatte er unwillkürlich seine Stimme erhoben und sich im Sessel aufrecht hingesetzt, soweit dies in dem Schwebezustand möglich war.

»Entschuldigung, Herr, ähm, Edolfin von, äh«, stotterte Pauline, »... von …äh was?«

Doch der Geist ließ sie nicht zum Ende kommen. »Du kannst den Titelkram weglassen. Sagt nur Edolfin zu mir, das reicht.« Dabei grinste er verschmitzt und erschien daher wie ein vertrauensvoller Zeitgenosse.

»Aber sagt, wie kann ich euch dienen? Sucht ihr etwas Besonderes?«

»Ja«, griff Erik das unverhoffte Angebot sofort auf, »wir sind auf der Suche nach einem bestimmten Buch, das uns Auskunft über einen Engelnamen geben kann. Das ist eine Aufgabe, die wir in der großen Halle der Bibliothek bekommen haben.«

Er nahm all seinen Mut zusammen, näherte sich dem Geist zögernd und zeigte ihm mit leicht zitternder Hand die magische Tafel.

Edolfin warf einen kurzen Blick darauf und meinte nur: »Ach, sieh an, ihr habt auch alle eine „Magic“ bekommen! Was steht da? IV EE 918, ach ja, das große „Lexikon der überirdischen Personen“. Na, da seid ihr ja schon richtig hier in diesem Raum. Das steht da hinten rechts«.

Dabei zeigte er auf eine ganze Reihe von Büchern, die alle gleich aussahen und mehrere Regalreihen einnahmen.

Martin, von seiner großen Neugier angetrieben, stand im nächsten Augenblick am Regal und suchte nach der Nummer 918. Die römische IV und das große Doppel-E prangten unübersehbar in goldenen Lettern auf dem Buchrücken.

Schnell zog er das Buch, einen schweren Quartband, hervor und versank mit ihm in einem der Sessel, was wieder eine Staubwolke zur Folge hatte.

Gerade wollte er das Buch aufschlagen, da geschah etwas Verblüffendes. Edolfin vollführte unbemerkt eine kleine Bewegung mit seiner Hand, das Buch öffnete sich von selbst und die Blätter teilten sich an der richtigen Stelle. In großen magentafarbenen Lettern blinkte ihnen der Name „Metatron“ entgegen. Martin hätte das Buch vor Schreck fast von sich geworfen.

Justus blickte rasch auf Edolfin, der bemüht war, sie zu beruhigen. »Keine Angst, diese Tricks werdet ihr auch noch früh genug lernen. Braucht nur ein wenig Übung«, grinste er breit über sein altes Gesicht und flog vor Freude über die gelungene Überraschung quer durch den Saal.

»Gehört das Blinken der Buchstaben auch zu den Tricks?«, fragte Justus neugierig.

»Nein, das ist hier in dieser alten Schule so. Sie ist ja nicht umsonst eine Schule, wo magische und übernatürliche Dinge an der Tagesordnung sind.«

Sie schauten ihn verblüfft und zweifelnd an. Ein fragwürdiges Ereignis jagte das nächste. Sie wussten kaum mehr, wo ihnen der Kopf stand vor lauter neuen Eindrücken. Doch Edolfin gab sich gelassen.

»Ihr habt nun die Wahl: Wollt ihr alle Informationen über Metatron in dem Buch nachlesen oder soll ich euch einiges über ihn erzählen, zum Beispiel auch, was nicht im Buch steht.«

Das brauchte Edolfin nicht zweimal zu fragen. Sie überlegten nicht lange und rückten schnell die umherstehenden Sessel zusammen. Vorsichtig ließen sie sich nieder, um nicht weiteren Staub aufzuwirbeln, und waren gespannt, was sie jetzt hören würden. Edolfin machte durch seine offene und freundliche Art einen recht Vertrauen erweckenden Eindruck, sodass sich ihre anfänglichen Ängste in Luft auflösten. Nur Pauline hatte noch Vorbehalte. Sie traute der ganzen Situation nicht so recht und hielt sich daher lieber etwas zurück.

Edolfin wirbelte seinen Bart hin und her, schlang einen weiteren dicken Knoten hinein, da der Bart ein starkes Wachstum zeigte, schlug einen Salto durch die Luft und ließ sich dann auf der Rückenlehne eines Sessels nieder, um mit der langen Geschichte über Metatron zu beginnen.

Metatron, erfuhren die fünf, war ein Erzengel, und er stand im Reich der Engel in der Rangfolge direkt hinter den Erzengeln Michael, Gabriel und Raphael. Edolfin sprudelte die Informationen nur so heraus, sodass sie unmöglich alles auf einmal behalten konnten.

»Zugegeben, das ist jetzt ein wenig viel an Stoff. Aber ihr habt ja noch viel Zeit, um alles lernen zu können. Schließlich seid ihr gerade erst hier angekommen«, setzte er augenzwinkernd hinzu.

»Und eins müsst ihr besonders wissen«, ergänzte er, »über Metatron bekommt ihr, wenn ihr es richtig anstellt, den Zugang zu den spirituellen Wissenschaften und den transzendentalen Wahrheiten.«

»Hä, was ist das nun wieder?«, entfuhr es Martin. »Hat das was mit Spiritus zu tun?«

»Ach Quatsch, hast du noch nie etwas von spirituellen Kräften und so weiter gehört? Das hat was mit Geist zu tun, du Depp«, schalt ihn Justus. »Das kommt von innen her.«

Martin war sichtlich irritiert, weil Justus auf seine lustig gemeinte Frage ziemlich ernst antwortete. Die anderen grinsten nur. Edolfin sollte weiterreden, die Geschichte hörte sich einfach zu spannend an.

»Es ist wirklich nicht leicht zu verstehen«, bestätigte er, »wenn man damit noch nicht in Berührung gekommen ist. Aber Ihr werdet schon bald einiges darüber erfahren. Es gehört zu eurer Ausbildung hier an dieser außergewöhnlichen Schule, dass ihr mit diesen Wirklichkeiten umzugehen lernt.«

Und zu Justus gewendet sagte er: »Übrigens erzählt man sich hier in der Schule, dass du, Justus, einer alten Seherfamilie entstammst.«

»Wie bitte?«, platzte es erstaunt aus Justus heraus. »Ich soll ein Seher sein?«

Plötzlich erinnerte er sich an seinen Großvater und die Geschichten über ihn.

»Ein Seher!? Was ist das?«, rief Martin verwundert. »Sieht er was Besonderes? So nach dem Motto: Ich sehe was, was du nicht siehst, und ... das hat rote Haare. Hehe.«

Die anderen mussten grinsen.

»Lass den Mist«, wies ihn sein Bruder zurecht. Für Blödeleien war jetzt, weiß Gott, nicht die rechte Zeit.

»Schscht, seid leise«, mahnte Edolfin, »nicht so laut, es könnte ja sein, dass hinter der nächsten Ecke einer steht und mithört. Mit solchen Äußerungen sollte man vorsichtig sein. Es gibt immer Neider, die ihr Wissen gegen einen verwenden.«

Schlagartig dachte Justus an Edelmund und Ottokar, die auch hier herumgeisterten. Als hätte er seine Gedanken erahnt, stellte Edolfin fest: »Da sind einige in eurer Klasse, denen würde ich an eurer Stelle aus dem Weg gehen. Sie haben keine gute Aura um sich. Seid bei denen lieber etwas vorsichtig.«

»Meinst du vielleicht ...«, setzte Justus an.

»Genau die beiden meine ich.«

Die Freunde schauten verblüfft.

»Woher wusstest du, an wen ich gedacht habe?«, fragte Justus irritiert.

»Ich gehörte früher auch einer sehr begabten Seherfamilie an«, erklärte Edolfin, »und so was verlernt man nicht.«

Vor lauter Aufregung zupfte Pauline die ganze Zeit schon an ihrer Kukulle herum, die sie wie die anderen seit dem Morgen umhängen hatte.

»Übrigens, die Farbe eurer Kukullen ist die Hauptfarbe Metatrons, es ist die Farbe der Transformation«, stellte Edolfin fest. »Und die Transformation ist ebenfalls eine spezielle Gabe, die in euch angelegt ist und die ihr noch lernen müsst zu entfalten. Ihr seht, es kommt noch eine Menge auf euch zu. Ich musste das früher auch alles lernen. Warum soll es euch besser ergehen. Aber das schafft ihr schon.«

Völlig fertig von der Fülle der Informationen stöhnte Martin: »Gibt es sonst noch was, was wir jetzt wissen müssen, sonst kann ich für meinen Teil nur sagen: Ich kann nicht mehr.«

»Eine Frage hätte ich noch, bevor wir wieder gehen«, meldete sich Justus.

»Ja?«, Edolfin sah ihn gespannt an und machte den Eindruck, als wüsste er schon, was Justus auf der Seele brannte.

»Warum,… wieso musst du... äh... hier herumgeistern‘?«

»Das«, begann Edolfin, »kann ich nicht mit wenigen Sätzen erklären. Ich versuche es mit einfachen Worten: Ich bin so was wie ein Mittler. Meine Aufgabe ist es, denen behilflich zu sein, die sich für das Gute einsetzen und die für besondere Aufgaben auserwählt sind.«

»Aber wieso kommst du gerade zu uns?«

»Das kann ich euch jetzt noch nicht sagen. Das erfahrt ihr, wenn es soweit ist.«

Die Freunde waren verwirrt. Wenn es soweit ist… Wenn was soweit ist? Diese Frage konnte man auf ihren Gesichtern förmlich ablesen.

»Jetzt empfehle ich euch erst einmal zu gehen, bevor ihr mir hier vor Müdigkeit umfallt.« Edolfin sah sie mitleidig an. »Ihr werdet eine Erklärung von mir erhalten, das verspreche ich euch. Nun aber geht dort hinaus«, dabei hob er seine Hand, und auf der gegenüber liegenden Seite des Raumes tat sich eine Tür auf, dabei lächelte er verschmitzt und schwebte hinauf zur Decke, von wo aus er ihnen nachwinkte.

Die fünf ließen sich nicht lange bitten. Die Nachrichten von Edolfin galt es erstmal zu verdauen und das ging nicht so schnell. Sie winkten ihm nochmals zu und gingen schnell zur Tür.

Als wäre es nicht genug der Überraschungen, fanden sie sich urplötzlich in der Empfangshalle der Bibliothek wieder, genau dort, wo sich die verborgene Tür aufgetan hatte.

 

»Was war das?«, fragte Erik etwas verdattert und schaute sich um. »Ob das auch so ein Temploctor war wie auf der Herfahrt?«

Er blickte seine Freunde an und sah nur erstaunte Mienen.

»Das war bestimmt eins. Wir haben‘s nur nicht bemerkt«, sagte Pauline. »Aber das ist jetzt nicht weiter wichtig. Passen wir auf, dass die anderen nichts merken.« Die beiden kleinen rot schimmernden Leuchten, die etwa einen halben Meter über dem Boden schwebten, hatten sie in der Aufregung tatsächlich übersehen.

Möglichst unauffällig gingen sie zu ihren Plätzen, wo die zurückgelassenen Bücher noch lagen. Schnell packten sie sie weg und gingen zielstrebig zu Madame Ruborrak, um ihr das Ergebnis, das sie von Edolfin erhalten hatten, zu präsentieren.

»Ich kann nicht recht glauben, dass eure Suche in der Librum-Secundum-Loge mit rechten Dingen zugegangen sein soll«, zweifelte Madame Ruborrak mit erhobener Stimme und hob bedrohlich ihre Augenbrauen. Ihr Einwand war so laut, dass die Schüler in ihrer Nähe neugierig zu ihnen herübersahen.

Es gab aber auch weitere Schüler, die ebenfalls eine Lösung ihrer Aufgaben präsentieren wollten. Auch sie wurden von Frau Ruborrak misstrauisch beäugt.

»Wer, bitteschön, soll uns denn dabei geholfen haben?«, empörte sich Martin. Ihren neuen Freund Edolfin erwähnte er natürlich nicht.

»Es sind ja auch noch andere Gruppen fertig mit ihrer Aufgabe«, versuchte Miriam sie zu rechtfertigen.

Schon wollte Madame Ruborrak zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als im selben Augenblick Madame Griseldis mit einem Lächeln die Bibliothek betrat, um nach ihren Schützlingen zu sehen.

»Madame Griseldis...«, begann Pauline ungehalten, um sogleich von Madame Ruborrak rüde unterbrochen zu werden.

»MEIN LIEBES KIND, ICH GLAUBE DU SOLLTEST DICH BESSER ERST EINMAL ZURÜCKHALTEN.« Und zu Madame Griseldis gewandt berichtete sie von ihren Vermutungen über die „Vorkommnisse“ in der Librum-Secundum-Loge.

Doch Madame Griseldis reagierte souverän und im Sinne der Jugendlichen. Schützend stellte sie sich vor ihre Schüler und nahm mit klugen Sätzen dem Bibliotheksdrachen, so hatten die Schüler Madame Ruborrak inzwischen getauft, den Wind aus den aufgeblähten Segeln. Tatsächlich machten ihre Nasenflügel den Eindruck zweier großer Segel, die sich wie in einem starken Sturm hin und her bewegten.

So half Madame Griseldis den Schülern, die ihre Aufgabe schon gelöst hatten, die Bibliothek schnell verlassen zu können.

7. Eine sonderbare Begegnung

Zur gleichen Zeit als Justus und seine Freunde mit Edolfin zusammen saßen und Informationen über „ihren“ Erzengel Metatron und die Geschichte der Seherfamilien zu hören bekamen, bewegten sich Ottokar und Edelmund leise durchs obere Stockwerk der Bibliothek. Unbehelligt hatten sie die Wendeltreppe hochlaufen können. Wenn sie jedoch geahnt hätten, was sie erwartete, wären sie auf der Stelle wieder umgekehrt.

Oben galt es sich erst einmal zu orientieren. Die Treppe mündete in einen kleinen kreisrunden Raum, der rundum mit Büchern vollgestellt war. Drei schmale Gänge strebten von diesem Raum sternförmig auseinander.

Man konnte immer nur ein Stück in die Gänge hineinsehen, und das machte sie unheimlich. Es war hier nicht anders als in dem Gang, in dem Justus mit seinen Freunden gelandet war. Alle beschrieben einen bogenförmigen Verlauf. Betrat man sie, konnte man nach wenigen Schritten den Ausgangsort nicht mehr sehen. Doch warum sollte es Edelmund und Ottokar besser gehen als Justus und seinen Freunden?

Die beiden Ausreißer entschieden sich nach einigem Hin und Her für den Gang, der rechts von ihnen lag. Er führte zunächst scharf nach rechts und bog dann abrupt in die andere Richtung ab.

Hin und wieder kamen sie an einem der runden gläsernen Bodeneinsätze vorbei, durch die man bequem in den Lesesaal hinabsehen konnte. An diesen Stellen war für die beiden unbedingte Vorsicht geboten. Es genügte, dass die „gnädige“ Madame Ruborrak einen Blick nach oben warf, und schon wäre es um die Ausreißer geschehen.

Während Edelmund einen der Einsätze höchst vorsichtig umrundete, wäre Ottokar in seiner Dusseligkeit beinahe genau darüber hinweg gelaufen.

»Mensch, nun pass doch auf, wohin du trittst«, fuhr Edelmund ihn an und zog ihn hastig zur Seite. »Die können dich von unten jederzeit sehen. Mann bist du ein Depp.«

Ottokar stammelte Worte der Entschuldigung und trabte weiter hinter seinem Freund her.

Es waren aber nicht nur diese Hindernisse, die ihnen zu schaffen machten. Die Atmosphäre hier oben war bedrückend. Alles erschien verlassen. Es war still, totenstill, kein Mensch weit und breit. Aber so blieben sie auch unentdeckt. Wenn sich diese Stille nur nicht so schwer auf ihr Gemüt legte.

Langsam bekam es Ottokar mit der Angst zu tun. Er fühlte sich überfordert mit der Situation, in die sie sich gebracht hatten. Auf ihn wirkte alles nur unheimlich und bedrohlich.

Selbst Edelmund spürte das und bemühte sich, Ottokar einigermaßen bei Laune zu halten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als einfach weiterzugehen.

Nach einer weiteren Gangbiegung standen sie plötzlich vor einer Wendeltreppe, die wieder nach unten führte. Auf der anderen Seite der Treppe gab es zwei Gänge. Welchen davon sollten sie nehmen?

»Ich will hier r-raus.«

»Kein Problem, das schaffen wir«, versuchte Edelmund seinem Kumpel und sich selbst Mut zu machen. »Ich weiß schon, wohin die Treppe führt«, erklärte er Ottokar in selbstsicherem Ton, doch ohne den blassesten Schimmer. Seine eigene Unsicherheit überspielend, schob er seinen Freund kurzerhand vor sich her die Treppe hinunter.

Unten angekommen umgab sie ein seltsam nebelhaftes Dämmerlicht, obwohl die zweiarmigen Kerzenleuchter an den Regalen ausreichend Helligkeit verbreiteten.

Ottokar rutschte das Herz nun gänzlich in die Hose. »W-was ist das hier? Alles dunkel! Wo s-sind wir denn jetzt?«, wandte er sich jammervoll an Edelmund. »W-wollen wir den We-weg nicht besser w-wieder zurückgehen?«

»Das geht nicht. Wenn wir jetzt zurückgehen, kriegen wir fürchterlich eins auf die Mütze und das nicht zu knapp. Stell‘ dir doch bloß diese Ziege im Foyer vor.« Auch seine Stimme ließ jegliche Zuversicht missen.

Aufmunternd fügte er hinzu: »Komm‘ schon, wir werden das schaffen. Früher oder später werden wir hier herausfinden.«

»Und w-was ist, wenn das Sp-päter sehr v-viel später ist?«, jammerte Ottokar. Langsam ging er seinem Kumpan auf den Nerv. Edelmund wünschte sich inzwischen nichts sehnlicher, als wieder in der Halle zu stehen.

Auch er fühlte sich nun hilflos. Wohin, fragte er sich insgeheim, waren sie geraten? Wieso leuchteten die Kerzen alle ganz normal hell und trotzdem lagen die Räumlichkeiten in einem ominösen Halbdunkel? Dieser Schleier, der über allem schwebte, nagte an seinen Nerven. Die Atmosphäre hier unten wirkte unheimlich und beängstigend. Alles war so anders, als in den übrigen Räumen der Schule. Zu allem Überfluss ließ ihn sein Orientierungssinn im Stich. Wo und in welchem Teil der Bibliothek befanden sie sich? Hier stimmte was nicht! Das konnte er förmlich spüren.

Im nächsten Augenblick bekamen sie leibhaftig zu sehen, was ihre Stimmung so niederdrückte. Kaum hatten sie begonnen, sich in diesem Raum umzusehen, da bewegte sich schwarzer Nebel aus einem der Gänge lautlos auf sie zu.

Ottokar schrak entsetzt zurück und stieß einen Schrei aus. Er suchte Halt und klammerte sich an die Kukulle seines Freundes. Der Nebel kam näher und verdichtete sich zu einer schemenhaften Gestalt, die nicht fassbar war. Sie schwebte auf sie zu und füllte fast den ganzen Raum.

»Seid gegrüßt«, klang es eisig aus dem Nebel heraus. »Zwei Neuankömmlinge in unserer altehrwürdigen Schule«. Ein abgründiges Rollen, wie direkt aus einem Grab, lag in der Stimme.

»Mein Name ist Cha‘ur Ha’muttaht.«

Der Name klang kehlig und abgehackt. Besonders die t’s wurden hart ausgestoßen. Die kalt klingende Stimme ließ die beiden schaudern. »Darf ich erfahren, wie eure werten Namen sind?«

Obwohl die Höflichkeit einen ziemlich spöttischen Unterton besaß, ließ sie Edelmund ein Stück von seiner Selbstsicherheit zurückgewinnen. Er machte einen Schritt auf die Gestalt zu. »Gestatten: Edelmund von Windhausen, und mein Begleiter heißt Ottokar Driessen.«

Auf ihre Vorstellung ließ ihr Gegenüber eine wabbrige Bewegung folgen. Die Gestalt schwebte näher heran, was die frostige Aura, die ihr anhaftete, noch spürbarer machte.

Instinktiv spürten sie die sonderbare Gefahr, die von diesem nebligen Etwas ausging. Die Kälte des Nebels war kaum auszuhalten. Hinzu kam die bizarre Sprechweise dieses tiefschwarzen Monsters.

Um ihr Vertrauen zu gewinnen, wich die Gestalt ein Stück zurück. Dadurch ermuntert bemühte sich Edelmund um eine Erklärung für ihre Anwesenheit.

»Wir haben uns in diesen weiten Gängen der Bibliothek verlaufen und finden nun nicht mehr heraus. Könnten sie uns vielleicht behilflich sein?«

Es kostete all seine Kräfte, um das starke Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Am liebsten wäre er auf der Stelle davongerannt.

»Gerne will ich euch helfen«, kam es mit eisiger Freundlichkeit zurück, »aber ich glaube, ihr seid nicht von ungefähr an diesen Ort gelangt. Mir scheint vielmehr, ihr seid für besondere Dienste ausersehen, sonst wäret ihr jetzt nicht hier.«

Edelmund und Ottokar bekamen große Ohren. Bevor sie noch fragen konnten, was gemeint sei, redete ihr Gegenüber schon weiter.

»Seid ihr bereit, solche besonderen Dienste zu übernehmen, wenn man euch dazu ruft?«, fragte die Stimme sie mit einem herausfordernden Unterton. »Es soll in diesem Fall euer Nachteil nicht sein.«

Cha‘ur Ha’muttaht musste geahnt haben, dass seine Worte bei den beiden auf fruchtbaren Boden fallen würden. Schmalzlocke fing den Ball direkt auf: »Wenn wir behilflich sein können, dann ist es für uns eine Selbstverständlichkeit.«

Dabei knuffte er Ottokar in die Seite, damit er nichts Falsches von sich gab. Dem hatte es inzwischen die Sprache dermaßen verschlagen, dass er überhaupt nicht fähig war, nur ein Wort hervorzubringen. Er starrte mit offenem Mund auf die Szene, als wäre sie ein Traum.

»Das ist sehr gut«, klang die Antwort Cha‘ur Ha’muttahts zufrieden. »Dann kehrt jetzt wieder zurück in die Halle, woher ihr gekommen seid. Ihr werdet es merken, wenn ich euch brauche. Ich mache mich zu gegebener Zeit bemerkbar. Nun geht!«

Sie waren entlassen. Cha‘ur Ha’muttaht hatte kaum die Sätze ausgesprochen, als sich hinter ihnen auch schon die Regalwand öffnete. Auf der anderen Seite wurde das Foyer sichtbar.

Blitzschnell huschten sie durch die Tür und mischten sich unbemerkt unter ihre Mitschüler.

»Ha-ast du das b-begriffen? W-wer war das? Was sollte d-das?«, fragte Ottokar noch immer ganz benommen.

»Mensch«, raunte Edelmund zurück, »hast du gar nichts verstanden? Wir sind gerade für eine ganz besondere Mission ausgewählt worden.«

»Ja, aber so a-astrein schien mir di-dieser Nebel nicht zu sein«, stotterte Ottokar in seiner Aufregung, was Edelmund mit einer knappen Geste wegwischte.

»Papperlapapp, wir sind auserwählt, begreif das endlich!« Schmalzlocke hatte inzwischen wieder zu seiner Überheblichkeit zurückgewonnen, und so schritt er mit stolzgeschwellter Brust, Rotfuchs im Schlepptau, durchs Foyer. An den Nebel, der ihnen durchaus hätte gefährlich werden können, verschwendete er keinen weiteren Gedanken.

Dummerweise hatten sie durch dieses Intermezzo ihre Aufgabe völlig aus den Augen verloren. Das war peinlich. So mussten sie der Bibliotheksoberaufseherin, Madame Ruborrak, gestehen, dass sie nichts gemacht hatten.

»Ihr beide seid die Einzigen, die ihre Aufgabe nicht gelöst haben«, zischte sie los. »Das hat zur Konsequenz, dass ihr selbstverständlich eine Mehrarbeit leisten müsst. Ihr werdet hier im Foyer alle herumliegenden Bücher an ihren Platz zurückbringen.« Sie zeigte hinter sich auf drei Bibliothekswagen, auf denen sich riesige Berge von Büchern stapelten. »Am besten, ihr geht gleich ans Werk. Die anderen sind entlassen.«

Die Strafe wurde von den anderen Schülern mit hämischem Feixen quittiert, was den Zorn der beiden über die ausgesprochene Strafe noch erhöhte. Doch blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zu fügen und sich widerwillig an die Arbeit zu machen.

Unter all den zurückgegebenen Büchern befand sich eine Reihe von Quartbänden, große Teile, die ein erhebliches Gewicht auf die Waage brachten. Sie waren so unhandlich, dass immer nur wenige von ihnen zu den Regalen geschleppt und dort einsortiert werden konnten.

 

Die Aufräumarbeit geriet für Edelmund und Ottokar zu einer wahrhaft nicht enden wollenden, schweißtreibenden Aktion. Zu ihrem Unglück standen sie unentwegt unter der unerbittlichen Fuchtel der »ungnädigen« Madame Ruborrak, die jeden Fehler unbarmherzig ahndete. Sobald eines dieser schweren Bücher mit Gepolter auf dem Boden landete, keifte Madame Ruborrak schon los.

»Meine Herren, wie oft muss ich es denn noch sagen: Die Bücher haben einige hundert Jahre in diesen Regalen überlebt, und ihr bringt sie durch eure Ungeschicklichkeit an den Rand der Zerstörung. NEHMT EUCH BESSER IN ACHT, SONST KÖNNT IHR IM DUNKLEN VERLIESKELLER DER SCHULE GLEICH WEITERMACHEN.«

Hoppla, was war das? Edelmund und Rotfuchs trauten ihren Ohren nicht. Verlies in der Schule? Verstohlen tauschten sie einen Blick. Das klang spannend, vielleicht fanden sie den Zugang und konnten sich da mal ungestört umsehen.

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