Justus Peyrikus

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4. Die neue Schule

Das war nun ihre neue Schule. Überall herrschte ein buntes Durcheinander. Während ein großer Teil der Schüler schon in die Schule strebte, waren andere noch damit beschäftigt, ihr Gepäck auszuladen. Das Treiben wurde durch einen Wind behindert, der mittlerweile eingesetzt hatte und zunehmend heftiger wurde.

Natürlich wollten alle schnell diesem stürmischen Getöse entkommen und über die uralte Steintreppe ins Gebäude gelangen. Die Treppe führte in einem doppelten halbrunden Schwung zum Eingang der Schule hinauf und wurde von einem massiven Steingeländer gesäumt.

»Mann, ist das ein Durcheinander. Wie in einem Taubenschlag. Und da müssen wir durch?!« Pauline schaute sich das Gewusel an und spürte Widerwillen, sich durch dieses Durcheinander kämpfen zu müssen.

Aber noch saßen sie im Bus, denn der Fahrer musste zuerst einen Platz finden, wo er ihn parken konnte. Endlich hatte er eine Lücke zwischen zwei ebenso alten Rumpelkisten gefunden. Mit lautem Seufzen und Rütteln erstarb der Motor.

Zügig verließen sie das Vehikel und sammelten sich am Anhänger, um ihr Gepäck in Empfang nehmen zu können.

Heftig bemühte sich Herr Sibelius Aborigor, die Tür des Gepäckanhängers zu öffnen, die sich verklemmt hatte. Er grummelte und fluchte in seinen langen Bart und hieb mehrmals gegen die Anhängertür. Es bedurfte noch mehrerer Versuche, bis sie endlich nachgab. Der Bus hatte seine beste Zeit schon längst hinter sich.

Immer neue Busse kamen währenddessen an, die weitere Schüler ausspuckten. Die Neuankömmlinge bahnten sich, nachdem sie ihr Gepäck erhalten hatten, eilig ihren Weg hinauf ins Schulgebäude. Es handelte sich wohl um ältere Schüler der höheren Klassen, für die das bunte Treiben nichts Neues bedeutete. Justus und Pauline mussten sich noch etwas länger gedulden, bis sie ihr Gepäck in Empfang nehmen konnten.

Plötzlich erschien ein weiteres Gefährt auf dem Hof. Eine vornehme Limousine glitt über den Platz und kam etwas abseits zum Stehen.

Ein Fahrer, in einer edlen Livree gekleidet, entstieg dem Wagen und öffnete zwei weiteren Schülern die Fondtür. Der Erste der beiden war von gedrungener Statur und hatte feuerrote Stoppelhaare, während der zweite lang und schlaksig aussah. Seine Haare glänzten stark, sodass man den Eindruck bekam, sie seien geradezu in Pomade getränkt. Beide verharrten einen Augenblick an der schicken Limousine und sondierten die Lage, während der Fahrer sich an den schweren Koffern zu schaffen machte. Statt ihm zu helfen, gestikulierte der Pomadenhaarige mit den Armen und schien seinem Freund Wichtiges zu erklären.

Zwei weitere eigentümlich aussehende Gestalten waren, von den Schülern unbemerkt, auf dem Schulhof erschienen. Sie verfolgten das Treiben rund um die Busse mit amüsierten Blicken. Weite, faltenreiche Kukullen umwehten ihre Gestalten. Auf ihren Köpfen ruhten große runde Kopfbedeckungen aus purpurrotem und grünem Samtstoff. Die birettartigen Hüte hingen zur linken Seite bis fast zur Schulter herab, während rechts große Pfauenfedern im Wind lustig hin und herwippten. Ihre dunkelroten und grünen Kukullen schimmerten geheimnisvoll und wirkten äußerst edel.

Während die älteren Schüler bereits zügig in die Schule strömten, waren die Neulinge noch damit beschäftigt, ihre Sachen zu ordnen und sich zurechtzufinden. Als Justus endlich seinen Koffer im Gewühl gefunden und parat gestellt hatte, fiel sein Blick auf die beiden Gestalten, die nun am Fußende der breiten Treppe standen. Unwillkürlich stieß er einen lauten Ruf aus.

»Eh, was soll das?«, tadelte Pauline und hielt sich die Ohren zu.

»Sieh dir diese beiden Typen an. Wie die aussehen! Wer mag das sein?« Justus konnte den Blick kaum abwenden, so faszinierte ihn ihre Aufmachung. Bei näherem Hinsehen schien es sich um eine Frau und ein Mann zu handeln.

Einer von ihnen hielt einen kleinen Stab in seiner Hand, an dessen Spitze sich eine kristallartige Kugel befand. Wie groß der Stab war, konnte Justus nicht erkennen. Die Kugel blitzte und reflektierte die Strahlen der untergehenden Sonne in alle Richtungen.

Der Mann hob den Stab ein wenig in die Höhe und richtete mit volltönender, aber eher verhalten klingender Stimme ein paar Begrüßungsworte an die neuen Schüler. »Meine lieben Schüler, wir heißen euch herzlich willkommen.«

Obwohl er ohne Anstrengung zu sprechen schien, war jedes Wort deutlich zu vernehmen. Justus und Pauline sahen sich verdutzt an. Sie hatten den Eindruck, als befände sich die Stimme direkt neben ihren Ohren. Solch ein tolles akustisches Phänomen hatten sie noch nicht erlebt.

»Wie macht der das bloß?«, flüsterte Justus kaum hörbar zu Pauline.

»Es könnte der Stab sein«, überlegte Erik laut.

»... darf ich euch im Namen der ganzen Lehrerschaft hier auf Greifenstein herzlich begrüßen«, hörten sie jetzt weiter. »Ich bin Meister Gregorius zu den vier Winden und leite dieses Internat. Zu meiner Rechten seht ihr Madame Griseldis von den weisen Steinen. Sie ist meine Stellvertreterin. Wenn ihr hineinkommt, stellt euer Gepäck zunächst einmal ab und sammelt euch im Foyer. Dann könnt ihr euch in einen Nebenraum des Foyers begeben. Dort werdet ihr inscribiert. Danach zeigt euch Meister Henricius Knörzer, unser Pedell, wohin ihr das Gepäck bringen könnt.«

»Was meint der denn mit „inscribiert“?«, wandte sich Pauline fragend an Justus. »Das heißt wohl soviel wie einschreiben oder so ähnlich«, erklärte Erik.

Meister Gregorius zeigte hinauf zum oberen Treppenabsatz. Dort war inzwischen eine weitere Gestalt erschienen, die ebenfalls recht sonderbar aussah und sich gerade mit einem riesigen Taschentuch umständlich ihre gewaltige Nase putzte.

»Guck dir den da oben an. Der sieht aus, als wollte er uns auflauern. 'Meister auf der Lauer’.« Justus verspürte bei diesem Wortspiel den starken Reiz zu lachen. Gleichzeitig hatte er aber ein ungutes Gefühl bei diesem »Pedell«.

Denn Meister Henricius Knörzer stand nun nach vollbrachtem Naseputzen breitbeinig auf der obersten Treppenstufe, wobei er immer noch wie ein Weltmeister schniefte. Seine Daumen hatte er in die Ärmelausschnitte seiner Weste gesteckt, die er unter einem altmodischen Frack trug. Mit herabgezogenen Mundwinkeln und erhobener Nase beäugte er kritisch, was da auf dem Hof vor sich ging. Seine Nase machte dabei den Eindruck, als wollte er sie in den Wind halten, um die Ankömmlinge besser riechen zu können.

Justus ließ derweil seinen Blick über das Schulgebäude schweifen.

»Das Gebäude ist einfach irre. Es ist so riesig. Schau nur diese vielen runden Formen. Alles ist rund und geschwungen, die Fenster, die Treppe und selbst die Mauern scheinen keine Ecken zu haben.«

Pauline hatte im Moment keinen Sinn für Äußerlichkeiten. Sie war allein auf das Gepäck konzentriert, das zügig ins Foyer geschafft werden musste. Während sie noch ihre Taschen und den Koffer zusammensuchte, packte Justus seinen Koffer und stieg die Stufen hinauf.

»Kannst du mir bei meinen Taschen und dem Koffer helfen, ich schaffe das nicht«, rief sie Justus hinterher, der schon oben angekommen war.

»Sekunde, ich komme direkt; ich bringe nur eben meine Sachen hinein.« Warum sie immer soviel mitschleppen musste, war Justus schleierhaft.

Kurz darauf schafften sie mit vereinten Kräften Paulines schweres Gepäck durch die große, mit gläsernen Ornamenten geschmückte Eingangstür.

Sie standen in einer riesigen, kunstvoll ausgeschmückten Halle. Alles sah wertvoll und unheimlich alt aus. Die Halle bildete ein großes Oval und besaß einen Marmorfußboden in verschiedensten warmen Beige- und Brauntönen. Entlang der Wände gab es mannshohe dunkelbraune Wandvertäfelungen, die durch säulenartige Regale voller Bücher unterbrochen wurden. Ringsherum an den Wänden flackerte Kerzenlicht.

Breite Holztreppen führten rechts und links in einem weiten Rund hinauf in die oberen Stockwerke. Dort führten weite Flure von der Treppe in die Gebäudeflügel hinein.

Unten an den hölzernen Treppengeländern standen als Abschluss überlebensgroße Figuren auf Sockeln, die verschiedene Engel darstellten. Sie machten sehr würdevolle Mienen. Besonders auffällig waren ihre großen Augen und Ohren. Justus fragte sich bei ihrem Anblick insgeheim, was sie wohl bedeuteten. Die Treppe hinauf waren an verschiedenen Stellen auf dem Geländer weitere Engel in unterschiedlichen Haltungen zu sehen. Sie alle schienen aufmerksam auf die quirlige Schar herabzuschauen.

»Schaut euch diese Engel an! Ich glaub’, mich laust der Affe. Die sehen so echt aus. Schon ziemlich unheimlich!« Justus schaute sich weiter um, doch die Engelsgestalten zogen seinen Blick magisch an.

Er hatte die Koffer abgestellt und durchquerte die Halle, um alles besser in Augenschein nehmen zu können. Dabei fühlte sich Justus von einem dieser Engel, der in seiner Nähe stand, beobachtet.

Als er sich umblickte, sah es tatsächlich so aus, als schaute der Engel hinter ihm her. Justus ging noch ein paar Schritte weiter. Wieder drehte er sich nach hinten. Der Engel ließ ihn nicht aus den Augen. Justus lief es kalt den Rücken hinunter. Wo waren sie hier nur gelandet?

Er setzte sich auf eine der Holzbänke und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen, was nicht so ohne Weiteres gelingen wollte. Diese Burg, das Empfangskomitee und nun diese Engel, das alles war reichlich heftig für den Anfang.

Pauline setzte sich neben ihn auf die Bank. »Weißt du, was das alles bedeuten soll?« Die Flut der Bilder ringsum überwältigten sie.

»Guckt euch die vielen Porträts an, die da an den Wänden hängen. Aber noch toller sind die Engel hier. Seht ihr die Augen? Die beobachten uns!«, ließ sich Erik hören und zeigte auf eine der Gestalten. Ihm war ebenfalls nicht entgangen, dass die Engel alle Personen in der Halle im Blick behielten. Die Augen bewegten sich unablässig hin und her und verfolgten aufmerksam das Treiben um sie herum.

 

»Hört ihr das Summen?«, fragte Pauline plötzlich. »Was ist das? Das war doch vorhin noch nicht.« Pauline hielt den Kopf schräg, um es besser hören zu können. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie einen Bienenstock im Kopf. »Ich höre es ganz deutlich. Aber ich sehe nicht, woher es kommt. Hört ihr nichts?«

Martin spürte, seitdem er hier in der Halle war, auch ein Brummen, aber nur schwach. Er machte sich darüber aber keine weiteren Gedanken.

»Seht euch die Porträts an und achtet dann mal auf das Summen«, forderte Pauline ihre Freunde auf und wurde immer aufgeregter. »Merkt ihr was? Wenn man eins ansieht, wird das Summen stärker.«

Sie schaute die Bilder der Reihe nach an und hörte deutlich, wie sich das Summen von Bild zu Bild veränderte. Pauline konnte es in ihrem ganzen Körper spüren. Ob das mit ihrer angeborenen Fähigkeit des Gedankenlesens zusammenhing?

Aber sie hatte ihre Fähigkeit doch blockiert. Dass sie jetzt trotzdem etwas „hörte“, machte sie stutzig. Da es in der Halle mittlerweile recht ruhig geworden war, vernahm sie das Summen noch deutlicher. Mal lauter, mal leiser. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, im Moment jedenfalls. Aber vielleicht gab es dafür später eine Erklärung.

Auf der anderen Seite der Halle sah Justus den Schüler mit der Pomadenfrisur, der dort mit seinem rothaarigen Freund zusammenstand. Er redete intensiv auf seinen Kompagnon ein, gestikulierte mit den Armen und zeigte auf verschiedene Bilder und Symbole.

»Das scheint ein richtiger schmalzlockiger Besserwisser zu sein«, raunte Justus Pauline zu und wies auf das ungleiche Paar. »Ein wahrer schmalzgelockter Jüngling«, setzte er grinsend hinzu.

Es blieb jedoch keine Zeit, sich weiter über die beiden auszutauschen, da Meister Gregorius nun auf der Treppe stand und weitere Hinweise gab.

»Meine lieben Schüler, noch einige Hinweise: Lasst das Gepäck hier stehen und geht bitte jetzt in den großen Saal nebenan. Dort inscribiert euch Meister Knörzer. Die Klassenaufteilung, die Zimmerbelegung und alles weitere Wichtige erfahrt ihr dort. Wir sehen uns dann später wieder...« Sprach‘s, drehte sich um und, plopp, war weg.

Pauline fühlte einen Schauer über den Rücken laufen. Die Schüler standen wie elektrisiert da und trauten ihren Augen nicht. Martin fand als erster die Sprache wieder.

»Ist der helle Wahnsinn! Was ist das nur für eine Irrenschule?« Eine Antwort bekam er nicht. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Eindrücke, die auf sie niederprasselten, zu verarbeiten.

»Alle einmal herrrhörren!«, hallte es plötzlich durch den Raum. Meister Knörzer bei den drei Eichen hatte seine schnarrende Stimme erhoben. Er hielt einen ähnlichen Stab wie zuvor Meister Gregorius in der Hand.

»Alle Schülerrr und Schülerrrinnen gehen jetzt dort durch die Türrr.« Er zeigte auf eine Tür, die auf der rechten Seite des großen Treppenhausfoyers in einen benachbarten Saal führte. »Dort inscrrribierren sich alle an den Schrrreibtischen. Dazu schrreibt ihrr eurre Namen und Adrrressen in die dort ausgelegten Listen. Dann werde ich euch eure Schlafrrräume zuweisen und auch eurre Kukullen aushändigen.«

Einige der Schüler begannen prompt die kauzige Sprechweise von Meister Knörzer nachzuäffen.

Über ihn gab es so manche Geschichte zu berichten. Aufgrund seines Namens trieben vor allem die Jungen ihre Späße mit ihm. Oft nannten sie ihn Ricinus Eichelhäher. Woher der Spitzname stammte, wusste keiner. Er hatte jedenfalls eine unheimlich lange Tradition.

Bei diesen Hänseleien geriet Herr Knörzer immer so sehr in Rage, dass seine mächtige Bassstimme in solchen Momenten durch die ganze Schule dröhnte. Selbst Meister Gregorius wusste dann, dass der Pedell wieder einmal Ziel von Schülerstreichen geworden war.

Sein Namensanhang „bei den drei Eichen“ bezog sich, so sagte man, auf drei uralte knorrige Eichen. Sie standen in der Nähe eines Seitenflügels der Burg, wo der Pedell seine Wohnung hatte. Die Eichen bildeten zusammen ein gleichseitiges Dreieck, und man munkelte, es sei ein magisches Dreieck. Aber dies waren nur Vermutungen und Gerüchte.

»Wunderschön, wie errr das „R“ so rrrollt«, frotzelte Martin. »Dann wollen wir uns mal insci...ini..«

»Inscribieren, Mensch, du kriegst auch immer nur die Hälfte mit«, rügte Erik seinen Bruder. Justus und Pauline mussten zwangsläufig lachen über dieses ungleiche Brüderpaar.

»Weißt du denn auch, was Kukullen sind?«, fragte Justus. »Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.«

»Keine Ahnung. Aber ich gehe davon aus, dass wir das gleich erfahren werden.«

Weiter hinten in der Gruppe hörten sie, wie jemand mit leicht näselnder Stimme kundtat, dass eine Kukulle nichts anderes als ein weiter Umhang sei. Pauline drehte sich um und sah eine Pomadenfrisur glänzen. »Da schau, dein Superheld von vorhin.«

»Ach ja, Schmalzlocke«, unkte Justus und grinste und brachte seine Freunde zum Lachen. »Schmalzlocke, das ist der richtige Name«, lachte Martin. »Und der andere könnte Rotfuchs heißen. Passt doch, oder?« Und schon hatten sie für die beiden, die einen reichlich blasierten Eindruck machten, passende Spitznamen gefunden.

Doch nun ging es zur besagten Inscription. Wegen der großen Schülerzahl brauchte es einige Zeit, bis sie an der Reihe waren und ihre Kukullen bekamen. Die Farbe der Kleidungsstücke ließ jedoch zu wünschen übrig. Sie bestanden aus tristen grauen Stoffen, ganz anders als die Umhänge der Lehrer. Das sollte sich aber bald ändern.

Justus und den beiden anderen Jungs wurde der gleiche Schlafsaal zugeteilt, während Pauline sich auf fremde Schülerinnen einstellen musste.

»Alle gehen jetzt die Trrreppe hinauf«, ließ sich Meister Knörzer wieder vernehmen, »bis zum nächsten Durchgang, wo die beiden Trrreppen wieder zusammentrrreffen.« Schnief. »Dorrt geht es dann weiterr zurr Aula. Und verrgesst eurre Kukullen nicht. Euer Gepäck wirrrd später auf eurrre Zimmer gebrrracht. Darrrum brrraucht ihr euch jetzt nicht zu kümmern.« Und wieder schnief, schnief.

Er nahm seinen Stab und hielt ihn auf die Treppe. Wie aus dem Nichts erschien eine blau leuchtende Linie, die die Treppe hinauflief und in dem bezeichneten Durchgang verschwand.

»Immerr derr Linie nach!« Der Pedell schniefte noch einmal kurz, ging auf die Treppe zu und lief leichten Fußes wie ein geölter Blitz hinauf.

»Wow, sieh dir den Speed an«, staunte Martin. »Und das in seinem Alter! Bin gespannt, was noch alles so kommt. Lasst uns gehen, damit es weitergeht.«

Die blaue Lichtlinie flackerte hell und gespenstisch die Treppe hinauf. Doch kaum war der Letzte von ihnen oben verschwunden, erlosch sie.

5. In der Aula

Die Aula, in der sich nach und nach alle versammelten, quoll fast über vor Schüler. Justus und Pauline standen zusammen mit den beiden Brüdern an einem der vielen Tische und versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen. Ein irrer Anblick, der sich ihnen hier bot.

»Hammer«, stieß Martin hervor. Er fuhr sich über die Augen, als müsse er ein Trugbild verscheuchen. »So einen Prunk habe ich noch nicht gesehen, zumindest nicht in Wirklichkeit.«

Pauline war ebenfalls sichtlich beeindruckt. Sie stützte sich auf die Rückenlehne eines der schön geschnitzten Stühle, die vor ihnen standen und betrachtete mit großen Augen den Glanz, der sich vor ihnen ausbreitete.

»Ist ja noch schöner als die Eingangshalle, und die war auch nicht von schlechten Eltern«, pflichtete Justus bei. Er betrachtete die großen Fenster, die dieser Halle eine luftige Atmosphäre gaben. »Alles extrem edel, das muss man der Schule schon lassen. Ist mit unserer alten nicht zu vergleichen.«

Farbenprächtige Wandteppiche zierten die Wände zwischen den Fenstern. Die Motive, die sie darstellen, wiesen alle einen Bezug zur Schule auf.

Die Aula war so groß, dass sie allen Schülern Platz bieten konnte. Im Moment aber wimmelte alles durcheinander, wodurch der Eindruck einer heillosen Überfüllung entstand.

»Schaut mal dort hinauf.« Pauline hatte oberhalb des Eingangs eine zweistöckige Empore entdeckt, die auf merkwürdige Weise einfach in den Raum hineinragte. Dort hatte sich eine große Zahl älterer Schülern versammelt.

»Das sieht so aus, als würde sie völlig frei im Raum schweben. Sie ist gar nicht an den Wänden befestigt. Wie geht denn das?«

»Die schweben. Wahnsinn!« Martin war hin und weg. Neugierig betrachtete er die Emporen. »Das ist schon vom Feinsten«, stellte er anerkennend fest.

Von der Decke hingen zahlreiche schmiedeeiserne Kränze mit unzähligen Wappen. Dazwischen befanden sich dicke Kerzen, die die Aula in ein warmes Licht tauchten.

Die Neuankömmlinge versuchten, einen Platz zu ergattern. Doch das war schwerer als gedacht. Kaum saßen einige von ihnen auf einem Stuhl, sprangen sie auch schon wieder verschreckt auf. Lautes Quietschen war überall zu hören und erhöhte noch den Lärm in der Halle.

»Was ist das? Warum bleiben die nicht sitzen? Und was zum Teufel quietscht da so fürchterlich?« Verständnislos schaute Pauline Justus an und hielt sich die Ohren zu.

Als sie versuchte sich zu setzen, wusste sie warum. Der Stuhl begann ebenfalls zu quietschen und ruckelte so stark hin und her, als wollte er sie herunterwerfen. Sofort sprang sie wieder auf.

Martin dagegen hatte in aller Ruhe auf einem der Stühle Platz genommen. Der Stuhl verhielt sich vollkommen ruhig. Martin hatte, so schien es, „seinen“ Stuhl auf Anhieb gefunden. Breit grinsend schaute er den anderen bei der Suche zu.

Erik kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Ihm schien ein Licht aufzugehen. »Ich glaube, hier muss man sich seinen Stuhl suchen.«

Pauline ging zum Nachbartisch und probierte dort einen der Stühle. Tatsächlich hatte sie Glück und fand „ihren“ Stuhl. Sie schleppte ihn an den Tisch, an dem Martin saß, und ließ sich neben ihm nieder. Justus wurde einige Tische weiter fündig und holte „seinen“ Stuhl herbei. Nur auf Erik mussten sie etwas länger warten. Er hatte inzwischen die halbe Aula durchquert und musste sich das laute Quietschen noch etwas länger gefallen lassen.

»Erik hat wohl herausgefunden, wie er seinen Stuhl finden kann.« Pauline beobachtete, wie er die Stühle inspizierte, bevor er sich darauf setzte. Plötzlich hatte er etwas entdeckt, das ihm weiterhalf. Sie konnte sehen, wie er nun zügig von Stuhl zu Stuhl schritt, kurz die Rückenlehnen in Augenschein nahm, bis er endlich einen Stuhl gefunden hatte, den er als „seinen“ identifizierte. Strahlend schob er ihn durch die Menge der Schüler vor sich her, um sich neben seinen Freunden niederzulassen.

»Habt ihr euch mal eure Stühle angesehen? Da stehen auf den Rückenlehnen eure Initialen drauf.«

Zufrieden lächelnd blickte er von einem zum andern und freute sich über seine Entdeckung. Justus drehte sich um, sah sich die Lehne seines Stuhles an und bemerkte ein „JP“ am oberen Ende. Ähnlich verhielt es sich mit Martins und Paulines Stuhl. Dort standen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen „PR“ und „MT“.

Martin interessierte das Ganze nicht weiter. Er hatte es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht und probierte seine Standfestigkeit aus. Gemütlich wackelte er auf ihm hin und her und sah den anderen Schülern bei der weiteren Suche zu.

Ein paar Tische entfernt erblickte Justus ihre beiden speziellen Freunde.

»Dahinten sitzen die Herren Schmalzlocke und Rotfuchs.« Bei ihrem Anblick verspürte er ein flaues Gefühl in der Magengegend. »Wie die dasitzen, als wären sie die Größten.«

»Übrigens, ich weiß die Namen der beiden Supertypen«, berichtete Pauline. »Mit richtigem Namen heißt der mit der Pomadenfrisur Edelmund von Windhausen, der andere, der Rothaarige Ottokar Driessen. E-del-mund, passt zu Schmalzlocke, meint ihr nicht auch?«

Justus nickte lachend. Paulines Information beseitigte sein Magendrücken schlagartig. »E-del-mund von Wind-hau-sen«, rezitierte er mit singendem Ton. Die Wirkung bei seinen Freunden blieb nicht aus.

Martin prustete los, lehnte sich dabei mit seinem Stuhl zurück und pardauz war er unter lautem Getöse mit dem Stuhl nach hinten übergekippt. Der Stuhl quietschte jämmerlich. Umständlich rappelte Martin sich wieder auf und nahm unter frotzelnden Kommentaren wieder Platz.

 

Inzwischen saßen auch die letzten Schüler erleichtert auf ihren Stühlen. Meister Gregorius schien das Gewusel im Saal sichtliches Vergnügen zu bereiten.

Er stand auf einer Art Podest, das der Rundung der Aula angeglichen war. Hinter ihm befand sich eine lange Tischreihe, an der die Lehrer ihren Platz hatten. Von hier aus konnte er den Raum gut überschauen. Außen, am Ende des Lehrertisches, hatte sich der Pedell aufgebaut, der ohne Unterlass vor sich hin schniefte.

Langsam wurde es einigermaßen ruhig, und Meister Gregorius erhob wieder seine Stimme.

»Meine lieben Schülerinnen und Schüler! Da jetzt alle neuen Schüler hier versammelt sind und ihre Stühle gefunden haben«, dabei konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, »möchte ich euch auch im Namen des gesamten Lehrerkollegiums herzlich willkommen heißen. Wie ihr seht, sind jetzt weit mehr Schüler hier in der Aula, als in einen Bus hineinpassen.« Lächelnd blickte er über die Schülerschar. Justus hatte augenblicklich das Gefühl, als würde er bis auf den Grund seiner Seele durchschaut.

»Hier befindet ihr euch in unserer altehrwürdigen Aula, die zugleich auch unser gemeinsamer Speisesaal ist. Also einer der wichtigeren Orte in unserer Schule.

Meister Knörzer«, fuhr er fort, »weist euch nun die Klassen zu. Ihr werdet die Namen dann auch sehen und hören. Gebt also genau acht, wie es nun weitergeht.«

In der Aula verstummten rasch die letzten Gespräche. Die Augen der Schüler richteten sich auf den Pedell, der sich beeilte, sein halbes Bettlaken an Schnupftuch wegzustecken.

Schnell trat er vor die Mitte des Tisches und erhob nun, Hust, Hust, Schnief, Schnief, seinen Stab. Mit weitem Schwung ließ er ihn durch die Luft sausen. Wie aus dem Nichts erschien der Name einer Klasse in leuchtender Schrift oberhalb des Lehrertisches, frei im Raum schwebend. Begleitet wurde die Erscheinung von einem laut ertönenden „Gong“. Ein erstauntes Raunen ging durch die Aula. Spätestens jetzt musste auch dem letzten Neuling klar werden, dass diese Schule etwas Außergewöhnliches war!

»Das ist ja völlig durchgeknallt hier. Eine Schrift, die mitten im Raum schwebt! Bin gespannt, was noch kommt.« Pauline runzelte ungläubig die Stirn.

„Muriel“, teilte eine wohlklingende Stimme mit.

Auf Meister Gregorius’ Gesicht legte sich ein verschmitztes Lächeln, als er die teils ratlosen Gesichter beim Klang der Stimme sah.

Der Name leuchtete in zwei Farben von oben herab, ein lichtes Rosa begleitet von einem starken Grünton, eine Art Moosgrün. Zugleich entstand um einige der neuen Schüler eine gleichfarbige Aura, in der die beiden Farben Rosa und Grün verschwammen.

In der Aula war es auf der Stelle totenstill. Alle schauten auf diejenigen, die von den Farben wie von einem Schleier umhüllt wurden. Fassungslosigkeit spiegelte sich in den Blicken der neuen Schüler.

Neben Justus war auch ein Junge grün-rosa eingefärbt. Justus wäre vor Schreck fast vom Stuhl gerutscht, als die Farben urplötzlich direkt neben ihm erschienen.

»Pass auf, dass Du dich nicht verschluckst«, grinste Martin ihn an. »Die scheinen hier mit allen Tricks zu arbeiten.« Dass es keine einfachen Tricks waren, wie Martin glaubte, sollten sie später noch zu Genüge feststellen können.

»Die erste Klasse hat, wie ihr hören konntet, den Namen Muriel«, hörte man die Stimme von Meister Knörzer rufen.

Und bei allen Schülern, die gerade noch in Rosa-Grün gehüllt waren, färbten sich wie aus dem Nichts auch die Kukullen, die vor ihnen auf den Tischen lagen, in den Farben der Klasse. Die Kleidungsstücke waren nun mit einer Menge von Symbolen versehen. Rosafarbene Kristalle verteilten sich auf den Kukullen. Sie wurden von einem Kreis mit grünen Spitzen eingefasst. Doch schienen die Symbole nicht auf den Stoff aufgenäht zu sein. Vielmehr schwebten sie allesamt ein Stück weit darüber und drehten sich dabei ständig um die eigene Achse.

»Dies ist«, hörten sie wieder Meister Gregorius sagen, »eure Klassenkukulle, die äußeres Zeichen eurer Klasse ist.«

Justus war fasziniert von dem Spiel der Farben. Doch plötzlich beschlich ihn eine ungute Ahnung. Was wäre, wenn Rotfuchs und Schmalzlocke in ihre Klasse kämen? Der Gedanke weckte bei ihm kein sonderlich gutes Gefühl.

Das Gefühl steigerte sich von Augenblick zu Augenblick. Leise wandte er sich an Pauline. »Hoffentlich kommen die beiden Supertypen nicht in unsere Klasse.« Pauline sah ihn fragend an. Kaum hatte sie verstanden, was er meinte, machte sich Entsetzen in ihrem Gesicht breit. Doch blieb keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn Meister Knörzer hielt ein zweites Mal seinen Stab hoch.

Und wieder erklang ein »Gong«. Ein weiterer Klassenname waberte nun in der Farbe Magenta über ihren Köpfen. »Metatron« war dort zu lesen.

»Was steht da für ein Name?« Pauline sah Justus verwundert an. Sie sollten es sofort erfahren. Denn beide waren wie die anderen Schüler vorher ebenfalls in ein eigentümliches Licht gehüllt. Ein Farbschleier umgab sie mit einem vollen Magentaton, ähnlich dem Klassennamen über dem Podest der Lehrer. Auch Erik und Martin saßen in einer Magentawolke.

»Hei, das finde ich ja superklasse«, frohlockte Martin, »wir sind alle zusammen in einer Gruppe. Genial!«

Wie schon bei den Schülern der Muriel-Klasse hatten sich ihre Kukullen wie von Zauberhand farblich verändert. Das langweilige Grau war einem intensiven Magenta gewichen. Ebenso erschienen Symbole auf den Umhängen, die noch verwegener aussahen, als die Kristalle der Muriel-Klasse. Es waren mehrzackige Kronen, aus denen unentwegt kleine Flammen emporloderten. Zwischen den Flammen glänzten Lichtpunkte. Und über jeder Krone leuchtete eine Neun, die in einen wabernden Feuerschein gehüllt wurde. Gigantisch!

»Was ist das für ein Symbol?«, staunte Martin nicht schlecht, während Erik vorsichtig seine Kukulle über den Tisch ausbreitete, um sie näher in Augenschein zu nehmen.

Pauline schaute ängstlich zu, weil sie befürchtete, er könne sich an den Flammen verbrennen. Es passierte aber nichts weiter. Es waren eben nur Symbole, die sich auf unterschiedliche Weise bewegten.

Doch nicht nur vor den vier Freunden lag eine magentafarbene Kukulle. Justus beobachtete, wie in ihrer Nähe ein weiteres Mädchen versonnen eine gleichfarbige Kukulle in ihren Händen hielt. Sie machte einen ruhigen und zurückhaltenden Eindruck und befühlte vorsichtig den vor ihr liegenden Stoff.

Dann sah sie Pauline und die Jungs der Reihe nach an. In ihrem Blick lag etwas Fragendes. Pauline spürte das. Sie drehte sich zu ihr um, wies auf die magentafarbene Kukulle und sagte: »Hallo, wie es scheint, werden wir zusammen in eine Klasse gehen.« Dabei sah sie die neue Klassenkameradin aufmerksam an. »Und wie heißt du?«

»Ich bin Miriam«, kam es etwas zögerlich zurück. »Und ihr?« Erwartungsvoll blickte sie die vier an.

»Also ich bin Martin, mein Bruder Erik, das ist Justus und sie heißt Pauline«, stellte Martin ihre kleine Gruppe vor, wobei er auf jeden Einzelnen von ihnen zeigte.

»Das ist ja schön, direkt jemand kennenzulernen«, erwiderte Miriam und lächelte ihre neuen Klassenkameraden an.

»Setz dich doch morgen früh zu uns«, lud Justus sie ein.

Aber die Freude, noch jemand Neues kennengelernt zu haben, fand bei Justus ein jähes Ende. Er sah, dass sich Edelmund und Ottokar bereits ihre Umhänge überwarfen, die ebenfalls in Magenta erstrahlten. Seine Befürchtungen, die er gerade eben Pauline gegenüber geäußert hatte, bestätigten sich.

Er beobachtete die beiden unauffällig und konnte auf Edelmunds Gesicht ein selbstgefälliges Grinsen entdecken. Mitschüler, die sich für besser hielten als andere, konnte er nicht ausstehen. Es blieb abzuwarten, wie sich das Miteinander in der Klasse gestalten würde.

Zeit sich mit den anderen darüber auszutauschen, blieb keine, denn schon klang ein weiteres langgezogenes „Gonnng“ durch den Saal. Die nächste Klasse war dran. Ihr Name lautete: „Anael“.