Amnesia Orange

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Braun

Hell war es geworden, in diesen Tagen, hell der Himmel und weiß das Land. Ich sah, wenn ich aus dem Fenster blickte, den Alpengürtel in der Ferne, der sich durch mein Blickfeld erstreckte, die Gipfelzacken sahen aus wie in Beton gefaßte Glasscherben auf einer Schutzmauer. Direkt vor mir, wenn ich geradewegs nach vorne blickte, erhob sich der höchste Zacken, ein kleines Dreieck, das sich aus meiner Perspektive gleich oberhalb der Kirche mit dem Zwiebelturm, das zum österreichischen Dorf gehörte, befand. Morgens, wenn der erste Dämmer durch das Tal kroch, schimmerte der Himmel hinter den Gipfelspitzen zartrosa und blau­grau, die Luft schien zu vibrieren. Manch­­­mal thronten die Bergketten hin­ter­­einander in der Tiefe des Raumes, wabernd hoben sich die Dunst­felder aus den Tälern. Sie tat mir gut, diese Weite, ich mochte das Tal, das hinter unserem Gebäude sacht über Wiesen abfiel und sich auf der anderen Seite bis zum Dorf, das sich ganz oben auf dem Kamm befand, dehnte. Das kleine dunkle Wäld­chen zur rechten, Wiesen, die Zäune, auf denen sich Schneekristalle zu Trauben festgefroren hatten, Bauern­häuser und Gehöfte in der Ferne: es war ein schöner, ruhiger, ein wohltuend ab­geschiedener Ort.

Ich hatte mir angewöhnt, allein spazieren zu gehen, jeden Tag zwei Stunden, stapfend durch den Schnee. Ich schwamm meist spätabends, wenn das Becken leer war, sprang von der abgerundeten hellblauen Stein­kante an der Stelle, an der auf einem hübschen Messing­­schildchen stand: „vom Beckenrand springen ver­boten“. Ich durchbrach das Wasser, Wellen schlugen hoch, wenn ich meine Bahnen zog, aus­dauernd, rauschhaft schnell, ich spürte mein Herz rasen und gegen das Brustbein klopfen.

Vor dem Mittagessen besah ich mir die Nazarovsche Rüttelmaschine. Doktor Humpe hatte gesagt, sie sei ein gutes Begleittraining, um meine dürftige Muskel­masse ein wenig aufzubauen, ein Gerät, das nichts anderes tat, als zu vibrieren, es war ursprünglich für sowjetische Kosmo­nauten entwickelt worden. Die Schwingungen, sagte er, stimulierten die Muskel­stränge und förderten die Durchblutung, das konnte nicht schaden, in meinem Fall war es sogar ratsam, dennoch sollte ich den Frühsport nicht vergessen. Jetzt befand ich mich auf dem kleinen Dachboden der Turnhalle, in dem die Tischtennisplatte stand und der Boxbeutel hing, ich fand die Maschine hinter einem Vorhang, hinter dem sich der Durchgang zu einem kleinen Lagerraum verbarg, genauso wie es mir Doktor Humpe beschrieben hatte.

Sie bestand aus einem metallenen, würfelähnlichen Kasten, der auf einem sonderbar leichtfüßigen Gestell aus metallischen Streben befestigt war. Auf dem Kasten war ein mit Gummi überzogener, gerundeter brotlaibförmiger Körper montiert. Das ganze Gebilde konnte man nach Belieben in seiner Position verstellen, es sah in seiner Zerbrechlichkeit aus wie ein eisernes Streichholztier mit einer großen und einer kleinen Kastanie, Pferd oder Hund, man konnte es wie bei von Kindern gefertigten Figuren nicht so recht unterscheiden. Doktor Humpe hatte gesagt, dass ich mich auf einen Stuhl setzen und die Füße auf den laibähnlichen Körper legen sollte. Ich suchte zunächst den Einstellschalter, machte einen Probelauf, indem ich alle vier Geschwindigkeiten nacheinander ein­stellte. Es summte recht unspektakulär und ich mußte genau hinsehen, um zu bemerken, dass der Laib sich bewegte, ganz sachte, ein Zittern vielmehr. Ich setzte mich auf den Stuhl, nachdem ich den Laib herunter gebogen hatte, und legte meine Füße darauf.

Es vibrierte. Ein angenehmer Schauder zog sich durch mein Muskelgeflecht bis hinauf in die Kopfhaut, der rückwärts über den Nacken kroch und die Wirbelsäule entlang sich in der Region um das Steißbein verlor. Ich erinnerte mich, dass mir dieses Gefühl vor sehr langer Zeit vertraut gewesen war, wenn mein Vater sich zu mir setzte und mir Dinge des Lebens erklärte, also den Fall von Konstantinopel, zum Beispiel, die Vertreibung der Griechen durch die Osmanen und was es auf sich hatte mit dem Schisma im Jahr 1054. Zumeist war es die Fortsetzung eines Schulstoffes, in die mich mein Vater einweihte, damit sein Sohn einen Wissens­vorsprung hatte, doch mein Geschichtslehrer wußte nicht, was ein Schisma war, seitdem hatte ich das Bonuswissen für mich behalten. Wenn mein Vater neben mir am Schreibtisch saß, vor uns irgendwelche historischen Landkarten oder auf­ge­schlagene Bücher, versank er recht ausschweifend in seine Wissens­berichte, und ich hörte ihm zu, lauschte und nahm den gleichmäßigen Klang seiner Stimme in mich auf und schon lange nicht mehr den Inhalt dessen, wovon er sprach, und in diesem Zustand, der mir, so will es mir heute erscheinen, etwas Trancehaftes hatte, spürte ich irgendwann eine wohlige Körperlichkeit, zunächst einen leisen Kitzel, dann einen Schauder, der wohlsam über meine Haut flirrte, wie Wüstensand, der kaum merklich über die Wanderdünen streift. Ich wurde angenehm müde in solchen Minuten, mein schon als Kind nahezu permanent eingeschaltetes Radarsystem glitt für Augen­blicke in den Schlummer­zustand, und mein Vater, der dies glücklicherweise meist erst nach einer Weile bemerkte, strafte mich mit strengen Blicken und wies mich an, Haltung zu wahren.

Durchgerüttelt und leichtfüßig, wie ich seit langem nicht mehr war, ging ich in den Speisesaal, es gab Cordon bleu mit Pommes frites und zerkochtem Gemüse. Zu meiner rechten, hinter den Fenstern in der dünnen Bretterwand, sah ich die Privaten, die die Kellner mit Speck und Spiegeleiern bedienten. Nadine hatte in der Bastelstunde Fische aus Papier geschnitten, grünliche, violette, blau­schwarz gestreifte und gelbe, und hatte sie mit Tesafilm an die Glaswand des Aquariums geklebt, wie wir das Séparée der Privaten nannten.

Zarah kam jeden Morgen geräuschvoll in den Speise­saal geschlurft und begrüßte Nadine und mich mit zwei Wangenküssen, ohne etwas zu sagen, und setzte sich an ihren Platz. Sie berichtete ungefragt, wie sie geschlafen hatte, unterbreitete uns ausführlich Traum­inhalte und Depressionsfortschritte: „So miserabel wie gestern Abend ging es mir hier noch nie“, sagte sie jeden Morgen. Sie war distinguiert, stolz, aufrecht im Gang, sie wußte in jedem Augenblick von ihrer strahlenden Eleganz, die Augen dunkel und maronen­braun, der blasse Teint unter schulterlangen, gewellten schwarzen Haaren, eine formvollendete Symbiose aus deutschem und iranischem Elternteil. Zahlreich waren die Blicke, die ich hinter mir spürte, wenn ich am Buffet stand, Männerblicke, die mir mißgünstig in den Rücken stachen.

Nadine war wie ein edles Weinglas: zerbrechlich, schön. Es war sonderbar, wenn ich Nadine, die am Tisch zu meiner linken saß, in meiner Nähe spürte. Es war, als spanne sich ein Magnetfeld zwischen uns, eine Anziehung, die auf das Knistern der Geschlechter zu reduzieren nur unzureichend beschrieben wäre, ich wußte nicht genau, was es war, ahnte eine Kraft, die wirkte und die ich schon oftmals gespürt hatte, flüchtig wie ein Brise süßlichmodrigen Herbstwindes: etwas Wohliges und Unheimliches zugleich. Während ich aß und redete und ein sich verselbständigender Wort­wechsel zumeist mit Zarah stattfand, nahm ich in meinem linken Sichtfeld die linke Hand von Nadine wahr, den Unterarm, der dünn war, hell, die Finger filigran, so wie alles an ihr zurückhaltend und tastend wirkte, unaufdringlich, auch ihre recht große Nase wirkte dezent im schmalen, feinen Gesicht. Nadine war Musikstudentin, mit Querflöte im Hauptfach und Tinnitus im Ohr. „Aber eigentlich bin ich wegen etwas anderem hier“, hatte sie an unserem ersten ge­meinsamen Abend im Speisesaal gesagt.

Nach dem Essen stand die Jungengruppe auf meinem Plan. Ingrid, die für Bewegung und Tanz zuständig war, hatte brennende Kerzen in der Turnhalle verteilt. Die Woche zuvor hatten wir Jungenspiele gespielt, Völkerball, Hallenhockey, archaisch laut ging es zu und mancher war erstaunt, wie furios ich bei den Ballspielen war, ein Stürmer und Dränger mit dem labberigen Plastikschläger, und meine Würfe beim Völkerball sollen die härtesten gewesen sein. Jetzt hatte Ingrid den Raum in Kerzenlicht und herunter ge­dimmte Halogenidylle gehüllt, wir waren nur eine kleine Gruppe von sieben oder acht Kerlen, alle im jahrgangsnahen Alter von Anfang zwanzig bis Ende dreißig. „Wir sind jetzt ganz unter Männern“, sagte Ingrid, „wir brauchen uns nicht zu bewähren“, sie hatte das „Selbstverständnis als Mann“ als Thema mit­ge­bracht, wie sie sagte, und sie fragte uns, ob wir damit ein­verstanden waren, wir nickten. Außer dem Thema hatte sie noch groß­formatige Bögen Papier dabei, sowie Stifte, bunte, schwarze, Kreide, Filz, Pastell. Sie bat uns, in aller Stille uns selber zu malen, und keiner fragte nach oder feixte, wir legten die Bögen auf den Boden und malten uns selbst.

Eine Stunde später saßen wir im Halbkreis. J. hatte sich lässig gegen die Wand gelehnt, M. saß aufmerksam im Schneidersitz, C. mehr liegend als sitzend, den Kopf auf den Ellbogen gestützt. D. hatte den Mut, als erster sein Bild in die Mitte zu legen. Wir guckten und staunten, ich beneidete ihn um seine Fähigkeit, zu zeichnen: ein schöner nackter Männerkörper war zu sehen, auf dem Bauch gelegen, die Beine leger verschränkt, das Kinn in die Hand gelehnt, D. schien in einem vor sich auf dem Boden liegenden Buch zu lesen. Der ganze Körper war bis in die Kniekehlen realistisch gezeichnet, die Muskeln und sogar sogar die einzelnen Muskelstränge waren zeichnerisch ange­deutet, und die Proportionen stimmten bis ins Detail. Ingrid sagte, das Bild sei von bestechender Ästhetik, doch darum ginge es jetzt nicht und sie bat uns, zu sagen, was uns auffiel, und wir sagten dieses und jenes und dann dies und das und bescheinigten D. in der Gesamtheit ein durch und durch gesundes Verständnis von Männlichkeit.

Jetzt lag mein Bild in der Mitte, und die anderen schwiegen und betrachteten es, so auch ich. Mickrig war das Männchen, das ich malte, die Ärmchen zu dünn, die Taille wespengleich, die Füße viel zu lang. Die anderen guckten ernst und ich war willens, die Situation mit einer selbstironischen Bemerkung auf­zulockern, wie es mir oft und spielerisch leicht bei den Mahlzeiten mit Zarah und Nadine gelang, doch jetzt wollte mir nichts Geistreiches einfallen, also schwieg ich, von mir selbst enttäuscht und ein wenig betreten. J. sagte, der Kopf sei zu groß im Verhältnis zum Restkörper, die Brille dominant, obwohl es tatsächlich nur ein dünnes, schwarz gerundetes Gestell war. C. sagte, die Arme seien die eines Käfers, und auch die Beine seien viel zu dünn, der Körper wirke insgesamt recht zerbrechlich, steif und starr, zu gerade geraten, wie mit dem Lineal gezogen, und M. sprach den Lenden­bereich an, den ich bewußt ausgelassen hatte, und genau das sagte er jetzt: „Mir fällt auf, dass du den Lenden­bereich schwarz schraffiert hast, als wolltest du nicht, dass er existiert“, und ich hörte zu, als die anderen mein Bildnis kommentierten, und sagte weiterhin nichts. Nachdenklich waren wir alle, als wir nach zwei Stunden auseinander stoben. M., der ein paar Jahre älter war als ich und fast wahnsinnig geworden war, nachdem ihn seine Frau wenige Wochen zuvor verlassen hatte, legte seinen Arm um meine Schulter, als wir hinüber liefen zum Haupt­gebäude.

 

Später am Abend ging ich mit M. in eine der beiden Dorfkneipen. Einer unserer Ärzte schäkerte mit einer neuen Kollegin, sie grüßten uns verstohlen und wir zurück, wir bestellten große, helle Biere, und achteten darauf, dass wir uns nicht betranken. M. sagte: „In der Psychiatrie war ein junges, dürres Mädchen, das ist mir überall hinterhergelaufen. Wenn ich zum Kaffee­auto­maten ging, kam sie hinterher, wenn ich in den Ergo­raum ging, trottete sie mir nach, und wenn ich aus meinem Zimmer kam, wartete sie bereits auf dem Gang auf mich.“

Vor dem Frühstück hatte ich einen Termin bei einem Arzt, der den Ruf eines Übervaters der systemischen Auf­stellung hatte, man konnte ihn zu­sätzlich zu den Gesprächen mit dem Bezugsarzt um einen Termin bitten, und manchmal, wenn ihm die Person interes­sant erschien, gewährte er einen. Ich berichtete, nach­dem er mich dazu aufgefordert hatte, alles, was ich bis zum damaligen Zeitpunkt über mich wußte, von dem Vorfall in der Nordsee und meiner chro­nischen Rat­losigkeit, von den soma­tischen Kapriolen und der dumpfen Verzweiflung, die mich seit jeher begleitete. Der Arzt schaukelte seinen schweren Kopf hin und her, kratzte sich dann und wann am Kinn und sagte in regelmäßigen Ab­ständen: „Fahren Sie fort...“ Nachdem ich aus­erzählt hatte, musterte er mich und sagte: „Stellen Sie sich mal hin“. Der Übervater forderte mich auf, zu wippen, und als ich wippte und nachdem er das eine Weile betrachtet hatte, setzte er mir einen kurzen Stoß in den Rücken und faßte mich an den Schultern, bevor ich strauchelte. Er sagte: „Sie haben keinen festen Stand“, und ich entgegnete: „Deshalb bin ich ja hier.“

Er setzte sich auf den Drehstuhl, blickte mir tief in die Augen, sagte mit einer Bärenstimme: „Ihre Geschichte ist die traurigste Männer­­geschichte, die ich seit langem gehört habe.“ Ich schaute ihn fragend an und über­legte, ob ich jetzt einen Preis überreicht bekam, doch ich bekam keinen Preis, noch nicht einmal einen Merksatz mit auf dem Weg, für die der Arzt in diesem Hause berühmt und berüchtigt war. Stattdessen sagte er: „Legen Sie sich mal auf die Bahre.“ Er drückte im Stile eines Arztes, der er war, auf meinen Bauch, faßte die Schultern, schüttelte kurz meinen Kopf, woraufhin mir augen­blicklich schwindelig wurde, dann strich er erst zaghaft, dann feste unterhalb meines Brust­korbes, tastete einen Muskelstrang ab, wie mir schien, und sagte: „Sie haben einen Schockmuskel“, ein Muskel, der sich quer entlang des Zwerchfells zog und außer­gewöhn­lich ausgeprägt war, und ich sagte: „Aha.“ – „Sie müssen mal einen ungeheuerlichen Schock erlitten haben“, fuhr er fort, „können Sie sich an etwas erin­nern?“ Ich sagte, dass ich mich an nichts erinnerte, es aber dieses Ereignis in der Nordsee gab, und der Arzt sagte „hm…“ Er ver­abschiedete mich mit einem Händedruck, der schmerzte. Ratlos ging ich die Treppen hinab, schüttelte meine rechte Hand aus und begab mich schnurstracks ans Frühstücks­buffet.

Am Abend stellte ich mich nackt vor den Spiegel, so wie es den Hungermädchen bei uns im Haus emp­fohlen wurde, um ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln. Ich tastete meinen Thorax ab, spürte die ein­zelnen Rippen, es schmerzte stechend, als ich in die Mitte drückte, ich tastete mich weiter herab, und tatsächlich, dort, wo die Rippen­bögen aus­ein­ander gehen, hatte sich ein Quermuskel gebildet, ein fester Strang, der sich deutlich und sichtbar ab­hob. „Don­­­­ner­wetter!, mein Schockmuskel!“, mur­melte ich, und zog mich rasch wieder an, weil ich mit M. zum Tisch­tennis verabredet war und mich danach noch ins Schwimm­bad begeben wollte, und wenn noch etwas Zeit blieb, gedachte ich, mich für wenige Minuten auf die Rüttelmaschine zu stellen.

Rot

Es gab eine Veranstaltung im Sanatorium, die eine Art Filet­stück war, berühmt und berüchtigt und einzig­artig, glaubte man den Worten des medizinischen Di­rek­tors, der Tanz der verlorenen Seelen. Schon bei der mor­gend­­­lichen Ein­stimmung, wenn die 100 Seelen des Hauses mit dem Personal im Foyer zusammen­trafen und Dinge be­sprachen, Abschied nahmen, Such­mel­­dungen abgaben: verlorene Nachtruhe oder die Gucci-Sonnenbrille, schlich sich etwas ein, das sonst nicht vorhanden war, eine leicht aufgekratzte Wach­heit, bei manchem der schon länger anwesenden legte sich Ernst über die Gesichtszüge. Geduldig wurden diese und jene Verschiebungen im Ablauf und die Zoten des medizinischen Direktors mit Schmunzeln oder Staunen wahrgenommen, und wenn Doro, die zum Bewegungs­personal gehörte, den Tanz an­kün­digte, sah man, wie sich Köpfe im dichtbevölkerten Foyer reckten, um zu hören, was altbekannt war und sich doch wie nie gehörtes jeden Mittwoch aufs neue offen­­­­barte: „Wir werden uns drei Stunden lang aus­toben“, sagte Doro. „Nehmen Sie sich eine Flasche Wasser und ein Handtuch mit, Sie werden schwitzen!“, und es folgte der Hinweis, dass jene mit ausgeprägtem Tin­nitus, die Gehbeschwerten und Herzkranken nicht zum Tanz gehen durften, sie gingen statt dessen zur Ohr­­genuß­gruppe und streichelten und massierten sich die Ohren, in die sie brennende Wachsstäbchen steck­ten, die langsam und wohltuend das Ohr um­räucher­ten.

Dicht beieinander gedrängt standen die Insassen in der abgedunkelten Turnhalle. Einige schüttelten Arme und Beine und beugten sich vor, ein Mann setzte seine Hacke auf das Fenstersims und machte Dehnübungen, die anderen standen und warteten auf etwas, das gleich geschehen würde, und tatsächlich, aus unsichtbaren und vermutlich großen Boxen erdröhnten die ersten Takte eines Songs und dann sein Refrain: „Das Leben ist schön, ich kann eure Tränen nicht verstehen, das Leben ist schön…“, und die Insassen begannen, sich im Kreis fortzubewegen, durchbrachen dann die Ord­nung, liefen mal hierhin und mal dahin, quer und diagonal, mir kam das ver­mutlich zielorientierte Gewusel vor wie auf dem Vor­platz eines Ameisen­haufens. Die Insassen sahen sich in die Augen, fixierten den nächsten, machten eine Drehung um­einander, nickten still und schweigend und fuhren mit dem Ritual immerfort. Mir wurde unheimlich zumute, ich stand in einer Ecke und traute mich kaum zu bewegen, ich war erleichtert, dass niemand meinen Blick suchte, ich hatte die Aura des Skeptikers und die Scheu des Frischlings, ich strahlte nicht aus und so strahlte niemand zurück.

Doro stand vorne, dort, wo sich ein paar Ärzte, Tanz- und Turnpersonal sowie ein oder zwei Praktikantinnen postiert hatten, die uns wie Securityleute bei einem Konzert im Blick hatten. Doro war klein und schmächtig und hatte die schulterlangen Haare zu zwei Zöpfen gebunden, jetzt sagte sie in die Stille nach der Musik: „So, nachdem Sie mal geschaut haben, wer heute alles da ist, begrüßen Sie sich mit dem Finger, bitte nach wie vor ohne zu reden“, und als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, blickten sich die anderen nicht mehr nur an, sondern drückten die Kuppe des Zeigefingers aneinander, und es schien, als sei ein Ruck durch die sich aus­tauschende Menschen­menge gegangen. Bei einem recht bärtigen Mann mit voluminöser Haarpracht, der einen Jüngling per Finger­druck begrüßte, kam mir un­weiger­lich das Bild vom Finger­zeig Gottes aus der Sixtinischen Kapelle in den Sinn, in der es, vorwärts gedrängt durch die Tou­risten­peitscher, ähnlich eng zuging wie in dieser Turnhalle irgendwo im bajuwarischen Alpenvorland. Ich er­schrak, als plötzlich Nadine vor mir stand, forsch und stramm und ernst stand sie da und peilte meinen Finger an, den sie konzentriert berührte, feucht und kalt fühlte es sich an, mich fröstelte es wohlig für Augenblicke.

Die Musik wurde schleichend lauter, klar und rockig, die Bassschläge nachdrücklich, nach und nach began­nen die anderen zu tanzen, ein jeder für sich über die Halle verteilt, und als Safri Duo in der Endlosschleife trommelte, da sah auch ich mich tanzen und weiterhin umher blicken im kürzer gewordenen Beobachtungs­radius. Ich sah einen recht korpulenten Mann in Trainingshose neben einem zierlichen jungen Mädchen im schwarzen kurzen Kleid, ein jeder in sich ver­sunken, lediglich mit der feinen Achtsamkeit, sich nicht zu berühren oder aneinander zu stoßen, mit der sich auch Menschenmassen durch Einkaufsgassen und Métrogänge bewegen, ohne zu kollidieren. Der Schweiß rann den Nacken hinunter, die Kniekehlen fühlten sich naß an, Safri Duo trommelte unentwegt, es trommelte in meiner Brust, mein Herz paßte sich dem elektronischen Schlag an, wie mir schien, ich wußte, ich wollte nicht aufhören zu tanzen, solange das Gedröhne zu hören war, das alsbald abrupt endete und nach einer Sekunde der Stille überging in Gitarren­akkorde und Mick Jaggers Stimme, die uns suggerierte: „…and I try, and I try, bit I can`t get no satisfaction“, und wir sprangen und hüpften und imitierten Gitarren­griffe, kaum steigerungsfähig steigerte es sich in AC / DC und TNT und bei Van Halens Jump schon spürte ich meinen Körper nicht und spürte ihn zugleich wie schon lange nicht mehr, eine leichte Schwere, Bein­muskulaturen brannten, mein Herz pumpte, es katapultierte Blut durch die Bahnen, ich spürte die Schläge am Rachen, an den Schläfen, und ich spürte meinen Kopf nicht, so leicht wie er plötzlich war, ich sprang in die Höhe, nochmals und nochmals, und erst als Opus Jubelösterreicher ihr Life is life besangen, besann ich mich und hielt inne, und ich genoß den Schwindel, der mich ergriff, ein süßer, legitimer Schwindel, ich genoß das Simple und ein wenig Debile, ertappte mich dabei, wie ich einstimmte in den Chor der verlorenen Seelen, la-là-là-là-la, kitschig kam es mir vor und befreiend zugleich.

Die Musik hielt inne, meine Ohren dröhnten. Aus der Ferne drangen Doros Worte zu mir, ich hörte die Wörter „schnaufen“ und „abgrenzen“, und tatsächlich begannen die Menschen, als die Musik wieder auf­gedreht wurde, rhythmisch die Arme wie die Kuppel­­stangen einer Dampflokomotive zu bewegen, hinauf und hinunter, hinauf und hinunter, und dann steckten sie mit aus­gestreckten Armen und mit ange­winkelten und auf­rechten Handflächen den Raum um sich herum ab, manch einer schnaufte, ein bißchen thea­tralisch, wie mir schien, und die Neuen schauten und staunten und machten es den Alteingesessenen zaghaft nach. Rufe mischten sich jetzt vereinzelt in die Musik, verschreckt hörte ich die anderen „Nein!“ rufen, erneut „Nein!“ und „Nein!“, und ich dachte Auweia!, nicht doch, bitte nicht! – immer lauter wurden die Rufe, immer zahlreicher, brummend, hell, gequält, staccato­haft, langgezogen, und dann und wann, aus einem spröden Impuls heraus, hauchte ich ebenfalls mein „Nein!“ in den akustischen Sumpf, und war froh, dass es keiner hörte.

Doktor Humpe stand plötzlich vor mir. Er fixierte mich mit festem Blick, haute sich mit der geballten Faust auf die Brust, und schrie: „Ich kann Sie nicht hören! Lauter!“ Ich spürte den Lufthauch gegen mein Gesicht, ich war willens, ihn nicht zu enttäuschen, doch zu brüllen vermochte ich nicht, ich artikulierte den Mund und schonte die Stimme, doch Doktor Humpe brüllte erneut: „ICH KANN SIE NICHT HÖREN!!“, und es stimmte, auch ich hörte mich nicht. Es half nicht, dass alle um mich herum dasselbe Wort schrieen, ganz im Gegenteil, es paralysierte mich geradezu, eine Nein-Welle überrollte mich, von hinten, von vorne, von allen Seiten drang das Wort auf mich ein, die Schreie verschlangen mich, drückten sich förmlich in mich, und Doktor Humpe gestikulierte, packte mich sogar an den Schultern, einmal meinte ich, ihn „bitte…“ sagen zu hören, er bat und bettelte und schrie mich an: „Nein!, Nein!, Nein!“ – dann reichte es mir, und ich schrie, ich brüllte mit meiner ganzen Kraft, und Doktor Humpe wich einen Schritt zurück, verschreckt für einen Augenblick, bevor er mich anstrahlte, und ich war verwundert und erschrocken, spürte das Pochen meines Herzens im Kehlkopf, der Hals tat weh und brannte, ich staunte über mich und wußte nicht so recht, wie mir geschah.

 

Wir tanzten, jetzt wieder still und stumm. Die elektronischen Trommeln pochten erneut gegen meine Brust, mein Herz fügte sich der Frequenz des Bass­schlages, es zuckte in mir. Ich war Teil von etwas, das ich nicht war, ich war Teil von irgendwelchen kos­mischen Schwingungen, die mich ergriffen und mich weitertrugen, ich war Luft, ich war Universum, ich lauschte der Musik: „In the jungle, in the jungle“, und hörte einen Nachhall in meinem Ohr, der so klang wie „tingeltangel, tingeltangel“, und dann vernahm ich ein Grollen, wie jenes von Schiffsschrauben unter Wasser, ein Rumoren, ein gefährlich, im Crescendo an­stei­gendes Rumoren, und tatsächlich, Doro, die ich sah, als ich nach vorne blickte, beugte sich nach vorne, dem singenden und stampfenden Pulk entgegen, sie riß ihren Mund, den sonst so süßen, kleinen Schmoll­mund, weit auf zu einem Oval, und ein Grollen entfuhr ihr, und die anderen machten es ihr nach: „rroooaaaah, rroooaaaahhh…“ Ich richtete mich auf, drückte einmal den Rücken durch, ging in die Knie und beugte mich vor, wie es die anderen taten, nur ein Löwengrollen wollte mir nicht entweichen, und ich war froh, als die Löwenphase endete.

Das Gewummer fuhr fort mit Bässen und Akkorden, erneut drang wildes Getrommel in mein Gehör, in das zarte Geflecht des Nervensystems hinein, ich war dankbar, dass das Summen in meinem Ohr, das in den vergangenen Wochen dramatisch zugenommen hatte, in dieser Stunde nicht zu hören war. Ich ging in die Knie, so wie die anderen es taten, in die Position, in der ich als Jugendlicher auf Skiern die schwarzen Pisten hinunter gestürmt war, solange, bis ich einen Sturz hatte, die Ärzte Teile meines Schlüsselbeins im Gewebe der Schulter suchten und meinen Eltern den Rat gaben: „Skischule und ein bißchen Stil täten ihm gut.“ Jetzt federte ich ein wenig auf und ab und hörte Doro rufen: „SCHREIEN!!“, und tatsächlich, als hätten sie alle nur auf diesen einen Moment gewartet, entfuhr den dutzenden Kehlen um mich herum ein Schreien, ein gräßliches, sich rasant steigerndes, dann in Wellen durch die Halle dahin schwappendes, un­arti­kuliertes Gebrüll, das mal in der einen Ecke einen ins Hyste­rische kippende Höhepunkt erlangte, dann aus einer anderen Richtung grell und in kürzeren Atem­intervallen hinaus gepreßt kam, eine regelrechte Kakophonie des Grauens, ein vielstimmiger Dämonen­gesang, ich spürte einen starken Luftstrahl, Winde von hinten, doch wagte ich nicht, mich umzudrehen. Die Schreie, die ich bis hierhin wiederholt vereinzelt ausmachen konnte, ver­mengten sich zu einem Ganzen, einem in sich verschmelzenden Schrei, und ich wußte, wollte ich mich nicht erdrücken lassen, mußte ich einstimmen. Ich öffnete meinen Mund und versuchte, Töne heraus zu drücken, doch in dem Moment, als die Kiefermuskulatur schmerzte, der Rachen sich trocken anfüllte und prickelte, als liefen tausend Ameisen in ihm umher, als ein Würgen sich um den Kehlkopf ausbreitete, ich förmlich spürte, wie sich die Hals­schlagader hob, sich von der Halsmuskulatur löste, verstummte ich, kein Ton wollte entweichen.

Die Schreie um mich herum zogen sich ebbengleich zurück. Tief in mir war ich, in einem Kokon, der mich umhüllte, gefangen und geschützt zugleich, ich vernahm dumpfes Pochen und Atemstöße, Nässe, die die Wirbelsäule entlang herunter kroch. Ich öffnete die Augen, und sah, wie eine Frau wie ein Blitz vorbei­flitzte, die Tür aufriß und hinausrannte, Doktor Humpe im Eilschritt hinterher.

Plötzlich war es still im Raum, für ein paar Sekunden, die Musik war abgestellt worden, eine sonderbare Stille erfüllte den Saal. Ich meinte, Schweißkristalle zu sehen, die durch den Raum schwirrten, losgelöste Adrenalin­partikel kreuzten überdreht ihre Bahnen, Endorphine sprangen unkoordiniert und fluoreszierend hin und her, so kam es mir vor. Dann war ein Geräusch zu hören, in Kaskaden plätscherndes Wasser und schließlich der Ruf von Delphinen oder von Walen, eine sanfte Melodie entfaltete sich nach und nach, eine ruhige Klavierstimme, begleitet vom ruhigen Gezupfe eines Elektro-Basses. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin setzten sich die anderen auf den Boden, manche lehnten sich gegen die Wand, ich sah, wie einzelne sich ein Handtuch über den Kopf zogen. Ich vernahm ein sachtes Weinen, es war das Mädchen im kurzen schwarzen Kleid, das unterm Handtuch zu schluchzen begann, zuerst ganz zaghaft, dann wurde ihr Ober­körper von leichten Vibrationen erschüttert, man merkte es nur, wenn man genau hinsah, und auch die anderen, nach und nach, stimmten in das Weinen ein, aus manchen brach es heraus, eine Frau weiter vorne wälzte sich auf dem Boden.

Ich sah, wie die Ärzte und die anderen vom Personal durch die Menge gingen, dem einen legten sie sanft die Hand auf die Schulter, anderen reichten sie Papier­tücher unter das Handtuch, eine Ärztin kniete sich zu einem jungen Mädchen, und behielt sie im Auge, im Abstand von wenigen Zentimetern, sie wartete ab, während der Jung­mädchenkörper geräuschlos zuckte. In diesem Moment wünschte ich mir, dass auch ich zu weinen begänne, seit Jahren und Jahrzehnten hatte ich es nicht gekonnt, statt dessen bekam ich Schwindel­anfälle, schwarze Wellenlinien huschten vor den Augen, ich wünschte, nicht erneut der Ausgegrenzte zu sein, der sich als einziger nicht in einen Löwen verwandelte, und dann geschah etwas Unerhörtes: das Würgen im Hals löste sich aus der Starre, die Gesichtsmuskulatur verschob ihre Tektonik, die Augen kniffen sich zu, eine sich ver­selb­ständigende, mir fremde körperliche Laune, in heftigen Schüben schüttelte es mich, verschämt zog ich die Hände vor das Gesicht, setzte mich zu Boden, ver­schränkte die Arme über die Knie und ließ mich weinen.

Als ich zum Abendessen hinunterging, hörte ich sie schon in der Ferne, Klänge, wie sie dieses Haus, seit ich hier war, noch nicht gehört hatte, schönste Klavier­sonaten, zärtlich und gekonnt dahin getastet. Die Leute standen in losen Grüppchen, sprachen mit ge­dämpfter Stimme oder lauschten der Musik, alle, auch die gröbsten unter den Insassen, zollten der Kla­vier­spielerin Respekt, und einer der Männer, die ich nach kurzer Musterung dem eher unterbelichtetem Naturell zugeordnet hatte, stand trancenhaft und allein in einer Ecke, starrte auf Nadine, man konnte fast meinen, gleich passiere etwas mit ihm, er beginne zu brüllen, doch er blieb still, versunken in das Klavier­spiel, das auf wun­der­same Weise jeden im Foyer berührte.

Lang­sam, um nicht zu stören, ging ich die letzten Stufen hinab, am Flügel vorbei, und lehnte mich an die Rezeption, von wo aus ich sie beobachtete. Schmetter­linge waren in bunten Farben auf ihre rechte Wange gemalt, und als ich mich umblickte, sah ich weitere Frauen mit Blumenmustern kunstvoll versehen, andere hatten fragmentierte Farbfelder über das Gesicht verteilt, niemand wunderte sich, es war vermutlich das Bezeugnis aus der Frauengruppe, das Äquivalent zu unseren Jungenspielen. Jetzt hörte Nadine auf zu spielen, und in genau diesem Augenblick spürte ich einen Sog im Seitenblick, als die wartenden Insassen in den Saal strömten, nachdem eine Kellnerin den Quer­balken aus der Flügeltür entnommen und die Tür geöffnet hatte. Ich betrachtete Nadines schmalen Hals, sah ihre filigranen Finger, als sie behutsam die Tas­tatur­klappe zumachte, ohne ein Geräusch zu erzeugen, und als sie aufstand und zu mir sah, erschrak ich fast, Nadine kam auf mich zu, legte ihren Arm um meine Hüfte und so gingen wir, ohne ein Wort zu sagen, in den Speisesaal.

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