Amnesia Orange

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Als ich den Speisesaal betrat, vorsichtig noch und zögerlich, schwappte mir ein sonderbares Gemurmel entgegen. Etwa sechzig Personen saßen auf rosa gepolsterten Stühlen und kauten, wie es mir schien, alle im Gleichtakt, und wenn sie die Gabel und das Messer ablegten, redeten sie durcheinander, gleich­zeitig und gleich­mäßig, so dass sich das Gerede gegenseitig ab­sorbierte. Eine Kellnerin kam auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Namen, sie bat mich, ihr zu folgen. Sie drückte mir eine rosafarbene Stoffhülle in die Hand, in der eine harte, blütenweiße Serviette steckte, die knarzen würde, wenn man sie entfaltete. An der Stofftasche waren zwei kleine Plastiketiketten befestigt, jeweils mit meinem Namen versehen, das orangene war für normale Kost und das grüne für vegetarische, man konnte an einer Wand das entsprechende Schildchen an einen Nagel hängen, damit die Kellnerin wußte, welche Speise man am nächsten Tag wünschte.

An dem Tisch, an den sie mich plazierte, saßen eine alterslose Frau und ein Mann, er hatte einen wuscheligen Schnurrbart und mußte um die fünfzig Jahre alt sein. Ich stellte mich artig vor, nannte meinen Namen, die Frau verweigerte meinen Handschlag und der Mann erwiderte mit tiefer Stimme den seinigen, ohne aufzusehen, er kaute weiter an seiner Brotkruste, und sagte, nachdem er ausgekaut hatte: „Ich rede nicht viel und beim Essen schon gar nicht.“ Der dritte Platz war abgeräumt, Brot­krumen und Käserinden zeugten von ab­geschlossenen Vorgängen. Als mein Sitznachbar behäbig aufstand, grummelte er etwas, das ich nicht verstand, er hatte schon seinen sperrigen Körper in Richtung Ausgang gerichtet, als er sich noch einmal zu mir umwandte und sagte: „Du weißt schon, dass man den Tisch auch wechseln darf…?“ Ich erwiderte nichts und war geradezu erleichtert ob dieser grob über­mittelten Information, und ehe ich es selber merkte, hielt ich bereits Ausschau nach einem anderen Tisch.

Am Buffet erkundete ich die Lage, ich sah möglichst unauffällig hierhin, während ich meinen Teller mit Salatblättern, sauren Gurken, Käsequadraten, Schin­ken, und Lyoner Wurst belud, ich sah dorthin, als ich Leber­käs, Spiegelei und Bratkartoffeln auf den noch freien Streifen hievte. Immerhin, bemerkte ich in einer Blitz­bilanz, war die Altersstruktur ausgewogen, zahl­reich waren die Personen in meinem Alter, viele ältere und einige junge waren auch dabei. Ich sah zunächst keinen Tisch, an dem Leute saßen, die ich als in­teres­sant und sympathisch einstufte, und an dem noch ein Stuhl frei war. Als die Kellnerin zwei große Schüsseln mit pudding­ähnlichem Inhalt zum Buffet brachte, wurde sie unverrichteter Dinge von einer Meute gefolgt, die, als sei sie durch das Zeichen der Leitbache aufgescheucht, wie Hauswild an die Tröge stürmte.

Von meinem Platz aus, von dem ich meine Erkundun­gen fortführte, sah ich einen Tisch, an dem nur zwei junge Frauen saßen, vor einer Glasfassade, wie ich jetzt erkannte, hinter dem sich ein weiterer kleiner Speisesaal verbarg. Vermutlich starrte ich einen Augenblick zu lange in diese Richtung, denn jetzt hielten die beiden Frauen, die zuvor in eine angeregte Diskussion vertieft waren, inne und schauten zu mir, mit einem Blick des Erstaunens, den ich bei der dunkleren von beiden, die ich betrachtete, vermutete, Erstaunen und Neugier, wie ich meinte. Wenig später erhoben sich die Frauen, recht geräuschvoll, wie mir schien, und schritten forsch auf den Ausgang hin, sie ignorierten mich hartnäckig, wie es einem Neuen, der sich einzuordnen und zu bewähren hatte, gebührte.

Im Foyer standen Grüppchen von Insassen beisammen, sie tauschten Anstaltserlebnisse aus, Befindlichkeiten und Ahaeffekte, die der eine oder andere an diesem Tage erfahren haben mochte, einige standen Schlange, auch sie sich angeregt unterhaltend, vor dem Schwestern­zimmer. Ich scheute die Menschenmenge und begab mich unverzüglich in meine Dachkammer. Ich blickte hinaus, erkannte inmitten dunkler Nacht ein kleines leuchtendes Giebeleck in der Ferne. Ratlos war ich, wußte nicht viel mit mir an­zufangen, nicht lesen mochte ich und auch Shirin anrufen, wollte mir nicht gelingen, eine SMS hatte ich bereits geschickt. Die überteuerten öster­reichischen Anbieter hatten sich aufgedrängt, doch nachdem ich das Handy einige Male gegen die Tischkante geschlagen hatte, bekam ich meinen Sender hinein, wenngleich mit geringem Empfang. Jetzt stand ich am Fenster und kam mir vor wie ein Gefangener auf einer Strafinsel.

Nachdem ich Badehose und Bademantel übergezogen hatte, ging ich auf den Gang, grüßte verschämt mich kaum beachtende Gestalten, betrat den Aufzug. Sonder­bar kam es mir vor und ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, was es war: während der Fahrstuhl vom Dach­geschoß in den Keller glitt, mischte sich Grillen­zirpen unter die gewöhnlichen Ruckelgeräusche, so schien es mir, und ich horchte genau hin und versicherte mich, dass ich unter keiner Sinnes­eintrübung litt, es war eindeutig das Zirpen einer Grille, das vom Dach des Fahrstuhls herrührte. Ich hörte die Umwälzgeräusche schon in der Ferne und war beglückt, dass das Becken menschenleer war: ein­tauchen, ein Hauch von schwere­los, kräftige Züge, halbstündig die Zeit aufheben. Als ich schon atemlos war, dachte ich für einen kurzen Augen­blick, wie schön es war, nicht zu denken, bevor ich erneut nicht dachte, minutenlang.

Schwarz

Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem traum­losen, lang währenden Schlaf, vor meinem Fenster ging die Welt unter. Schwere, gräuliche Wolkentürme schoben sich rasend und mit Wucht beiseite, es toste und tobte, ein wenig gedämpft durch die Scheibe, dennoch schien es mir bedrohlich. Als ich aufstand, bemerkte ich, dass sich in der Düsternis ein weißlicher Schimmer zeigte, und tatsächlich sah ich die vielen weißen großflächigen Flocken, die bei genauer Betrachtung wie grobe Bildpunkte durch mein Sichtfeld jagten, horizontal von der einen Seite zur anderen und auch in umgekehrter Richtung, und doch mußten sie irgendwann zur Ruhe kommen, so weiß wie es auf den Wiesen und Wipfeln war, nur schemen­haft konnte ich den Wald erkennen.

Im Foyer machte sich Betriebsamkeit breit: Früh­sportler mit Stöcken kamen mit wäßrigen Flocken übersät hinein, aufrecht laufende Personen mit der Aura von Ärzten liefen vorbei, eine Frau hatte einen Stapel Akten unter dem Arm, mit dem sie aus einem Raum hinter der Rezeption hervorkam und in einem Gang verschwand. Ich reihte mich ein in die vier oder fünf Gestalten, die entlang einer Wand vor den Unter­suchungszimmern saßen, ängstlich blickende, un­glückselige Kreaturen, denen als Neuzugang genauso unwohl zumute war wie mir. Beschwingt kamen zwei junge Ärzte des Weges, ein recht junger, sportlich aussehender und seine junge Kollegin, die ein wenig aufgekratzt schien, zu hoch die Stimmlage, die Wangen gerötet, sie strahlte uns an und warf uns ent­gegen: „So, wer mag als erstes…!?“ Niemand mochte so recht sich Blut abnehmen lassen zu früher Morgen­stunde, und es dauerte eine Weile, bis der blonde Ärztinnenkopf aus der angelehntgelassenen Tür hervorschaute und uns zugleich fragend und ein wenig beleidigt anblickte, weil sich niemand erhoben hatte.

Noch im Speisesaal machte sich eine wuselige Stim­mung breit, hastig liefen die einen heraus, angespannt und steif in der Haltung die anderen. Wenige Minuten vor neun Uhr war ich einer der wenigen, die noch an ihrem Tisch saßen, ein letztes Mal einen Schluck Kaffee tranken, sich einen Löffel Müsli in den Mund schoben. Im Foyer schwappte mir überspannte Erwar­tung entgegen. Die Menschen saßen an den Tischen im rustikalen Stil, alle dem Foyer, mir zugewandt. Eng saßen sie beisammen, quetschten sich auf Bänke, manche hatten sich auf den Boden gesetzt. Ratlos stand ich vor der Menge und suchte mir eine freie Kante auf einer der hinteren Bänke.

Ein hoch­gewachsener Mann mit forschem Schritt kam aus dem Kellergeschoß ins Foyer hinein, gefolgt, ein paar Trippelschritte rückversetzt, von einem kleinen Heer an Fachpersonal, von Ärzten, Turnlehrern und Masseurin­nen. „Das ist Doktor Fichte“, wisperte eine Frauen­stimme hinter mir wie eine Souffleuse, und ein junges Mädchen neben mir sagte: „Aha.“ Doktor Fichte nahm samt seiner beschwingten Entourage Stellung ein, frontal vor uns aufgereiht, er wenige Schritte weiter vorne, eine offenbar eingespielte Formation, und der medizinische Direktor sagte mit einem Blick nach draußen: „Guten Morgen an einem Tag, an dem die Welt untergeht!“, und ich dachte, dass das mein Satz war.

Ich beschloß, der Gruppensitzung fernzubleiben, weil ich wußte, das wäre nichts für mich: mit heulenden Frauen im Kreise sitzen. Vor dem Mittagessen lernte ich meinen Bezugsarzt kennen. Doktor Humpe trug das graue Haar zentimeterkurz, das graue Spitzbärtchen verlängerte sein hervorstehendes Kinn noch ein wenig, sein Körper war drahtig, sogar die Unterarme zeigten zähe Muskelstränge. Er war ein bißchen blaß für seinen Typus und wirkte trotz seiner straffen Muskelmasse ein wenig zerbrechlich, er war nur wenige Jahre älter als ich. Er saß in einem Lehn­sessel und ich ihm gegen­über, die Sessel in leicht seitlichem Winkel zu­einander, vermutlich um das Kon­frontative der Situation auf­zuheben. Der Arzt schwang das eine Bein über das andere, sein Hosensaum rutschte hoch, ich besah mir das mit Haarbüscheln übersäte Schienbein, sah die blaue Socke mit einem gelben Schriftzug auf dem Sockensaum: action. „Na, dann wollen wir uns mal kennenlernen“, sagte Doktor Humpe, und ich erwiderte: „Ja, das wollen wir.“

„Vegetative Dystonie, das ist alles und nichts“, sagte er, „beschreiben Sie doch mal Ihre Beschwerden“, und so zählte ich die Symptome der vergangenen Monate auf, die niemals alle zugleich auftraten, zumeist suk­zessive, doch manches Mal rotteten sich drei oder vier zu perfider Effizienz zusammen: ein gestörtes Gleich­­gewicht, das mir ein schwankendes Schiff unter den Füßen suggerierte, eine allgemeine Auf­gelöstheit, als schwirrten die Atome auseinander, dann plötz­liche Übelkeits­attacken, zumeist in der Nacht, Frösteln, Schwindel, Ohn­machts­­­anwandlungen, Sum­men im Ohr und zuckende Blitze im Blick, die die latent vor sich hin wogenden schwarze Wellen über­lagerten – eine allgemeine körperliche Starre, mise­rabler Schlaf mit miesen Träumen, innere Unruhe, angespannte Erschöp­fung, rasender Puls, kribbelnde, manchmal taube Arme und Beine, meist auf der linken Seite, Höhenangst und Klaustrophobie, stockender Atem, Absencen und Verwirrungen, eine schreckhafte Grun­dierung mit Panik­­momenten, erhöhte Herz­neurose und plötzlich auf­keimende Todesangst, das ganze vor dem Hintergrund einer latenten Schwermut, und ich fügte an: „Ich würde das mit einer gewissen Durchlässigkeit meinerseits zu­sam­men­fassen.“

 

Doktor Humpe, der sich unbeeindruckt gab, musterte mich eine ganze Weile, dann sagte er: „Das ist allerhand“, und ich bestätigte, dass sich auch nach meinem Ver­ständnis einiges angehäuft hatte, das Leben mir schwer und fremd geworden war, und Doktor Humpe sah mich jetzt mit dem Ausdruck unterdrückter Verwunderung an, als er sagte: „Na ja, so viel ist es auch wieder nicht.“

Er hatte einiges mit mir vor, in den kommenden Wochen. Er sagte, er wolle meine Selbstwahrnehmung als Mann stärken, und ich erwiderte: „Aha“. Er beabsichtigte, meine Ängste aktiv und „von Angesicht zu Angesicht“ anzugehen, und vermutlich sagte ich erneut „aha“, während ich kaum wahr­nehmlich in meinem Lehnsessel absackte. Es folgte eine Liste mit Hausaufgaben, die ich in den kommenden Wochen zu absolvieren hatte: Ich mußte Briefe schreiben, an mich als kleiner Junge und an Shirin, Frauen im Haus sollte ich fragen, wie sie mich fanden, vorzugsweise schrift­lich verfaßt oder von mir pro­tokolliert, Sport. Gleich am nächsten Tag hatte ich in die Laufgruppe zu gehen, am darauffolgenden zur Rücken­gymnastik und am Tag danach zu Yoga, jeweils um sechs Uhr morgens, und ich sagte: „Ja, ja“, und dachte: Nein, im Leben nicht!

Er befragte mich nach der beruflichen Situation, und ich wunderte mich nicht, dass sie so früh kam, die alles definierende, einordnende Frage: Was macht er denn. Wenn ich nannte, was ich tat, mußte ich meine Auskunft relativieren, weil ich etwas stets zur Zeit tat und es eigentlich das falsche war, ich fühlte mich niemals einem Soziotop zugehörig. Zurzeit, berichtete ich wahrheits­gemäß, war ich Über­setzer, weil ich zwei­sprachig auf­gewachsen war und das Übersetzen auch ein paar Jahre studiert hatte.

Ahnungslos hatte ich zunächst Rechts­wissenschaft studiert, um mich zwei Wochen vor dem Examen vom Juristenwesen abzuwenden: diese Zahlen- und Absatz­zählerei, die ewig pedantische Suche nach dem richtigen Begriff, dem alles entscheidenden Wörtchen im Wust unverständlicher Paragraphen, das Durch­wühlen von Gesetz zu Gesetz, das nach Schema mechanische Ab­spulen der Sach­verhalts­prüfung, das gebetmühlen­artige Herunter­deklinieren vorgestanzter Phrasen, letztlich Versub­stantivierung und Erstarren der Sprache und somit der Denkprozesse, das Einfrieren des Intellekts.

Als gescheiteter Jurist, der ich war, wollte ich etwas mit deutscher Sprache machen und bewarb mich um ein Re­daktionsvolontariat bei einer Zeitung im Süd­westen. Zu meinem Erstaunen bekam ich die Stelle als einer von sechs unter 900 Bewerbern, und scheiterte sogleich als Journalist in jämmerlicher Weise: zu abgründig waren meine Texte, wenn es um Todes- oder Unfälle ging, bei denen ich die Szenerie dreier überschlagener und inein­ander verkeilter Autos auf der Bundesstraße samt der Hirnmasse, die sich über den Asphalt ausgebreitet hatte, bildreich beschrieb, statt nüchtern die monotonen Amtsdeutsch­fakten der Polizeibeamten wiederzugeben, als „Schön­schreiber!“ wurde ich geschimpft, was bei einer Regional­zeitung einem Todesurteil gleicht.

Dann wollte ich etwas ganz und gar anderes machen, und verdingte mich als Page in einem Luxushotel in Baden-Baden, doch es ent­sprach, wie ich nach einer Weile bemerkte, nicht meinem Naturell, das servile Gehabe. Ich schrieb Reise­reportagen für Die Zeit, bis mir das Reisen zunehmend anstrengend wurde, mit ersten, sich mir nicht er­schließenden körperlichen Kapriolen: Panik, wenn die Tür eines Zuges zuschlug, beispielsweise, der un­bändige Drang, die Kabinentür zu öffnen und das Flugzeug zu verlassen, obwohl ein Arzt, der in der Reihe vor mir saß, mir bereits zwei Tavor gegeben hatte. In dieser Reduktion fiel ich bis auf weiteres auf das zurück, das mir am wenigsten ein Bekenntnis zu einer Zunft und Wesens­gemeinschaft abverlangte, weil es in der stillen Kammer stattfand: das Übersetzen.

Nachdem Doktor Humpe das Kreuzverhör, wie es mir vorkam, vorerst beendet hatte, untersuchte er mich auf meine Körperlichkeit, maß Puls, Blutdruck und ließ mich aus akupunkturideologischen Gründen die Zunge heraus­strecken. Er drückte mich am Bauch und zwickte die Waden, klopfte die Wirbelsäule entlang, horchte mit dem Stethoskop in die Regungen meiner Lunge. Er drückte auf meine Oberarme, und es kam mir vor, als packte er wie der Hirschkäfer eine Fichten­nadel, so dünn mußte ihm mein Bizeps vorkommen, und er sagte: „Ihre Muskelmasse ist ein wenig unter­entwickelt, und zu dünn sind Sie auch für Ihre Körpergröße, wir werden Sie ein bißchen aufpäppeln“, sagte Doktor Humpe. Er sah mich an und ich ihn, ich sah, wie er zunächst etwas zu sagen zögerte und dann doch noch sprach: „Wir werden auch Ihre distanzierte Haltung ein wenig brechen“, und mir kam es vor, dass er das Wort „brechen“ mit einem aggressiven Unterton sagte.

Nun kam er auf die basisbiographischen Gegebenheiten zu sprechen, mit wem ich wo unter welchen Um­ständen aufgewachsen war. Er bat mich, meine Mutter zu charakterisieren, und ich sagte spontan: „Wankel­mütig, vorwurfsvoll, maßlos überfordert“: mit mir als Kind, mit einem Abendessen, wenn Besuch an­gekündigt war, mit dem rückwärtigen Ausfahren aus der Garageneinfahrt, beispielsweise. Nachdem ich das Jurastudium ab­gebrochen hatte, sagte sie: „Das kannst du deinem Vater nicht antun, dass er eines Tages mit dem Gefühl stirbt, aus seinem Sohn ist nichts geworden.“

Ich berichtete, dass mein Vater, seit ich Junge war, schwieg, und als Mann im Elterngefüge selten anwesend war, weil er stundenlange Spaziergänge machte, sich im Keller mit seinen Kriegsschiffchen verbar­rikadierte. Als ich später das Studium abbrach, sagte er: „Frauen wollen keine Versager“, danach hüllte er sich erneut in Schweigen, nahezu ohne Unterlaß bis zum heutigen Tag. Natürlich redete mein Vater, über Politik oder Geographie, von Shirin beispielsweise wollte er wissen, aus welchem Teil des Iran ihre Eltern kamen, und er suchte dann Orte und Landschaften in einem Atlas und besah sich noch lange die geologischen und klimatischen Beson­der­heiten der betreffenden Region. Er wußte durch aufmerksame Zeitungslektüre, wie es sich im Iran mit dem Wächter- und dem Expertenrat verhielt, und wer wen in welche Staatsämter benannte, er wußte, wer die Zarathustra waren und wer die Jünger Mehdis. Doch mein Vater schwieg, wenn es um persönliche Dinge ging, über den Krieg, beispielsweise, seinen Krieg, in den er 1940 als 16jähriger geworfen worden war. Er schwieg, wenn es um unsere, also auch um meine Vergangenheit ging, oder über so etwas wie Liebe, niemals habe ich ihn das Wort Liebe sagen hören. Er war nicht gefühlskalt, er spaltete ab. „Wie meinen Sie das?“, fragte Doktor Humpe.

„Mein Vater leugnet beispielsweise Fakten aus seiner Bio­graphie“, setzte ich an. Ich berichtete von einem Foto, dass ich im Spiegel zu einem Artikel über den Ostfeldzug der Wehrmacht entdeckt hatte: eine braunstichige Schwarz­­­weißaufnahme, auf der ein Soldat eine frappierende Ähnlichkeit mit meinem Vater aufwies, der, das wußte ich damals, mit der Wehrmacht durch den Kaukasus marschiert war; unter dem Foto stand die Bildunterzeile: „Deutsche Kompanie beim Marsch durch die Sowjetunion“. Als ich es näher betrachtete und ein Foto meines Vaters als Schüler, der er vor dem Krieg war, zur Hand nahm, hatte ich keinerlei Zweifel, dass der Mann auf dem Foto mein Vater war, und auch Shirin, die einen Blick auf das Bildnis warf, sagte, dass er es war, zweifels­frei. Als mein Vater kurz darauf allein bei uns zu Besuch war, be­trachtete er recht lange das Foto, das ich ihm nach einem Abendessen mit Wein und Cognac vorgelegt hatte. Er besah es sich lange, schien in Gedanken zu versinken und sagte vielleicht eine Minute lang kein Wort, doch dann streckte er seinen Rücken, legte das Heft beiseite, und sagte: „Nein, das bin ich nicht“. Ich könnte heute noch schwören, dass er es ist.

Doktor Humpe fragte mich, wie ich als Junge war, und ich sagte, ohne nachdenken zu müssen: „Still, ver­ängstigt, introvertiert.“ Als neun- und zehnjähriger und lange noch darüber hinaus versuchte ich, die bösen Männer zu vertreiben, nachdem ich ein verdächtiges Geräusch in der Nacht gehört hatte und aus dem Schlaf geschreckt war, wie mir meine Muter, viel später, als ich schon Erwachsener war, berichtete. Ich zog ein Bettlaken über den Kopf und lief mit ausgebreiteten Armen durch das Treppen­haus und machte „huuh!, huuh!, huuh!“ Meine Eltern waren belustigt, mein Vater hatte einmal ein Foto machen wollen, doch er war zu müde, um im Keller nach dem Blitzgerät zu suchen. Sie nahmen mich dann widerwillig in ihr Schlafzimmer, in dem ich auf dem Boden auf der Gymnastikmatte meiner Mutter schluchzend und vor Angst auf das erste Tagesicht wartete. An den darauffolgenden Morgen, nachdem meine Mutter bereits aufgestanden war und das Frühstück richtete, sagte mein Vater jedes Mal aufs neue: „Ein echter Kerl weint nicht!“, stand auf und verließ das Zimmer.

In dieser Zeit wurde ich schlagartig schlechter in der Schule. Meine Eltern ließen mich ihre Enttäuschung darüber spüren, da ich in der ersten Grundschulklasse so etwas wie ein Klassenprimus gewesen sein muß, sofern das in dem Alter schon möglich ist. Sie steckten mich in Nachhilfeunterricht, an den ich mich kaum noch erinnere, nur vom Logopäden habe ich sehr deutliche Versatz­stücke in meinem Kopf. Es habe mir quasi von einem Tag auf den anderen die Sprache verschlagen, sagte meine Mutter einmal, ich habe nicht mehr klar artikuliert, statt dessen undeutlich gesprochen, mit Wort­verdrehun­gen und Laut­ver­schiebungen. Ich erinnere mich, dass ich Texte im Fischers-Fritze-Fische-Genre rauf und runter beten und auswendig lernen mußte. Ich sehe mich in kurzen Hosen, mit einem Kassettenrecorder in die belgische Schule bei uns im Viertel laufen, in der der Logopäde, ein kahler Mann mit grauen Nackenlöckchen und Mund­geruch, seine Privatstunden abhielt. Die Texte waren auf der Rückseite akkurat zurechtgeschnittener und zusam­men gehefteter Tapetenfetzen geschrieben.

„Haben Sie Geschwister?“, fragte Doktor Humpe. Still wurde ich, ein sanfter Schwindel entfaltete sich in der Schalt­zentrale. „Ich hatte eine Schwester“, sagte ich, „sie starb, als wir neun Jahre alt waren. Ich habe keiner­lei Erin­nerun­gen an sie.“ Doktor Humpe sah mich schweigend an, ich sah, wie seine Pupillen sich weiteten, der Blick des Anglers, an dessen Angelhaken soeben ein Karpfen an­gebis­sen hat. „Berichten Sie“, forderte er mich mit ruhigem Ton auf. Ein sonderbares, weil frühzeitiges Vertrauen nahm ich in mir wahr, ich war bereit, ihm von meiner Schwester zu berichten, wenngleich ich dazu weit­gehend nur als Kolportage imstande war.

Ich wußte so gut wie nichts über den Tod meiner Schwester. Ich nenne sie meine kleine Schwester, obwohl sie 23 Minuten vor mir auf die Welt ge­kommen war, im Neon­­dämmer des Kreißsaals an einem trüben Winter­tag, an dem vermutlich Nie­sel­regen in grauen Schlie­ren über das graue Brüssel gefallen war. Die Infor­matio­nen, die meine Eltern mir wie Brot­krumen hin­warfen, waren knapp gehalten wie eine Polizeimeldung in der Zeitung: In der Nordsee er­trunken, während eines Sommer­­urlaubs auf der Insel Spiekeroog, von einer Strömung ergriffen und hinaus­gezogen auf das offene Meer. Meine Eltern hatten mir später gesagt, dass ich Glück gehabt hatte, dass wir beide in die Brandung und in die Strömung gegangen waren, von einer Welle waren wir gepackt und herunter gedrückt worden, und nach Minuten erst war ich aufgetaucht, doch von meiner Schwester hatte man noch nicht einmal den leblosen Körper gefunden, nicht am selben Tag, nicht am nächsten und auch nicht am über­nächsten, hieß es in der Überlieferung meiner Eltern, und ich konnte mich an all das nicht erinnern.

Noch heute erinnere ich mich lediglich an Bilder von ihr, an die wenigen, die meine Mutter aus der Asche gerettet hatte, in einem verschlossenen Holzkästchen auf­bewahrte und mir manchmal, wenn mein Vater nicht im Hause war, überließ. Sie sind mit Tiefen­schärfe in mir gespeichert: zwei schilf­grüne, un­gewöhn­lich große Augen, mit frühreif kokettem Lächeln, die schwarzen Haare zu knappen Zöpfchen gebunden, die wie Lauch­strünke von ihrem schmalen, blassen Gesicht abstehen. Manchmal geraten die Bilder in Bewegung, verändern sich wie ein Phantombild auf dem Bildschirm eines Kriminal­isten, bekommen Kon­turen, wenn ich mir vorstelle, wie sie später aus­gesehen hätte. Ich sehe sie vor mir mit zwölf, mit fünfzehn, als junge Frau, ich sehe ihr Gesicht von heute: Sie hat nach wie vor ein mädchenhaftes Antlitz, ein paar Fältchen um die Augen, die Lippen schmal und weich, der Teint blaß und schön, ein neugieriger, wacher, schilfgrüner Blick. Die schwarzen Haare trägt sie glatt nach hinten bis kurz über die Schulter fallend, von einem Haarreif über der Stirn gehalten, und so frühreif erwach­sen sie aussah, als sie neun Jahre alt war, so wirkt das Gesicht jetzt mädchenhaft und jung.

 

Es gab Situationen in meinem Leben, nach Tagen, an denen ich nicht an sie gedacht hatte, da sah ich eine Frau in der U-Bahn, ein junges Mädchen auf einem Bahnsteig, eine junge Mutter mit Kinderwagen auf der Straße, und ich erschrak, weil ich meine Schwester sah, einen Kinder­wagen schiebend, auf einen Zug wartend, verträumt in der U-Bahn in einem Buch lesend, vielleicht spielte sie mit der rechten Hand an einer Strähne, versunken in eine andere Welt. Es fällt mir schwer, zu beschreiben, was in solchen Augenblicken in mir vorging, ein Glücksgefühl überkam mich jedes Mal mit Wucht, und dann Erschrecken, Verwirrung, Schuldgefühl.

Wenn ich als Jugendlicher und junger Erwachsener in den Alben geblättert hatte, sah ich die blinden Flecken, die sich wie quadratische und rechteckige Schatten über die bebilderten Familienarchive legten. Von manchen der verbliebenen Fotos, die ein hauch­dünnes, per­gament­ähnliches Papier voreinander schützte, schien ein Teil abgeschnitten worden zu sein, die mit geradem Scheren­schnitt verkürzten Bildflächen sahen aus wie korrigierte Nah­aufnahmen aus meiner Kind­heit. Und auch heute noch, wenn ich mir die Fotos ansehe, stechen mir die Freiflächen, die durch den stärker verblaßten Hintergrund beinahe wie ein­gerahmt wirken, ins Auge. Es gibt ein anämisch wirkendes Foto, das mich am Strand zeigt, das Meer liegt hinter mir und ich blinzele, und an der Stelle, an der das Bild abrupt endet, sind zwei Finger zu sehen, die auf meinem rechten Unterarm liegen, zwei blasse, schmale Mäd­chen­­finger.

Ich erinnere mich, wie ich als Junge, ich muß zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, meinen Vater dabei beobachtet hatte, wie er die Bilder vernichtete. Ich konnte, als habe ich eine Vorahnung gehabt, nicht schlafen, ging zu fortgeschrittener Nachtstunde die Treppe hinunter in die untere Etage. Ich sah meinen Vater durch den Türspalt, sah, wie er auf dem Boden kniete und in Zeitlupentempo die Alben wälzte, einzelne Fotos herausnahm und andere mit einer Schere be­arbei­tete, bevor er sie dem Album entnahm und in das Feuer des Kamins warf. Manchmal wippte sein Kopf eine Weile hin und her, ein ver­langsamtes Nachnicken, bevor er sich der nächsten Seite zu­wendete. Lautlos setzte ich mich auf eine der kalten Stufen der Steintreppe, hörte das Lodern des Feuers, das metallene Geräusch, wenn mein Vater die Schere auf den hellbraunen Kachelboden legte.

Vielleicht saß ich auf der Treppe eine Stunde lang, vielleicht länger, ich mußte eingenickt sein, denn mein Vater, den ich nach wie vor durch den Türspalt sah, saß jetzt im Lehnsessel. Er war blaß und regungslos und blickte auf einen auf dem Boden vor sich liegen­den Punkt. Von rechts, aus der Küche kommend, hörte ich die leisen Schritte meiner Mutter, die vor dem Kamin stehen blieb. Im Feuer wölbten sich die letzten Ecken und Kanten der Fotos, sie lösten sich auf mit leisem Zischen und einer kleinen bunten Stichflamme. Meine Mutter ging zu meinem Vater, rüttelte ihn sanft, und nachdem er nicht reagierte, ertastete sie seinen Puls, legte ihr Ohr an seinen Mund, schüttelte ihn fester, und als er die Augen zum ersten Mal bewegte, meinte ich, ein Schluchzen zu hören. Meine Mutter beugte sich vornüber, legte ihren Kopf auf die Brust meines Vaters und umklammerte ihn. Sie strich mit dem Handrücken über seine Wange, und mein Vater sah meine Mutter ratlos und verloren an, er ließ sich an ihrem Arm aus dem Lehnsessel ziehen, und ich hörte meine Mutter sagen: „Du legst dich ins Bett, ich mache dir eine Kraftbrühe und einen Lindenblütentee, du legst dich jetzt hin“, und als sie ihn zur Wohn­zimmertür führte, lief ich lautlos die Treppe hinauf und verkroch mich unter meiner Decke.