Amnesia Orange

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Amnesia Orange
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Martin Rose

Amnesia Orange

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Weiß

Schwarz

Braun

Rot

Gelb

Weiß II

Blau

Grün

Schwarz II

Grau

Weiß III

Wiesengrün

Orange

Rosa

Violett

Schwarz III

Impressum neobooks

Weiß

Amnesia Orange

Roman

Martin Rose

What was it that so darkened our world?

I don’t know, dear, I don’t know.”

W. G. Sebald, „Austerlitz”

Ein Mensch, der seine Erinnerung, sein Gedächtnis verloren hat, ist in einer illusorischen Existenz gefangen. Er fällt aus der Zeit heraus und verliert damit die Fähigkeit zu einer eigenen Bindung an die sichtbare Welt. Das heißt, dass er zum Wahnsinn verurteilt ist.“

Andrej Tarkovskij

Es scheint mir nicht, dass wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht.“

W.G. Sebald, „Austerlitz“

Vor kurzem erst und mehr als 26 Jahre später habe ich erfahren, was mit mir geschehen ist, als ich neun Jahre alt war und einige Wochen im Koma lag. Vermut­lich wäre mir meine Geschichte weiterhin verborgen geblieben, hätte mich nicht eine mehr oder weniger zufällige An­ein­ander­reihung von körperlichen Kaprio­len in das Sanatorium geführt, das, oberhalb des Sees in den Vorbergen idyllisch gelegen, korrekterweise Klinik für Psychosomatik heißt, doch ich nenne die Klinik Sanatorium, weil es harmloser klingt. Nicht viel wußte ich über mich, als ich mich auf die Suche nach meiner Vergan­genheit begab, ich hatte keinerlei Erin­nerungen an meine Kindheit.

An einem frühen, noch dunklen Novembermorgen stieg ich in einen Intercityexpress, der zunächst bis Braun­schweig nach Westen fahren würde, und dann nach Süden, über Frankfurt und Stuttgart nach Ulm. Von dort würde mich ein Regionalbähnchen zum See brin­gen, und dann ein Taxi in die Vorberge, zum Sana­torium. Ich stieg im Hauptbahnhof zu, in seiner unteren Etage, in Haupt­bahnhof tief. Es saßen nur wenige Reisende im Zug, als er auf das Gleis rollte. In einem der wenigen Sechserabteile, die, als seien sie eine Reminiszenz an alte Eisenbahn­zeiten, wie Portier­logen die Großraum­wagen der Intercity­express hüten, saß lediglich ein Mann mit seitlich zum Fenster gerichtetem Gesicht. Er trug grauen Hut und grauen Mantel und mochte um die fünfzig Jahre alt sein.

Ich dachte, dass es nichts zu sehen gebe, dort, wohin der Mann blickte, als ich die Tür aufzog, ein Pilaster aus grauem Beton versperrte die Sicht vor seinem Platz. Es fiel mir auf, wie er mich ansah, nachdem er sich mir zugewandt hatte, er sah mich an mit dem Ausdruck der Verwirrung, des Verlorenseins in den ein oder zwei Sekunden, in denen man aus einer anderen Welt in die Banalität des Hier und Jetzt zurückkehrt, die in diesem Moment für uns beide das kleine Abteil in dem großen, langen Zug war. Ich grüßte und der Mann grüßte zurück, und mir schien, als habe er kurz den Hut gehoben, obwohl ich keine dazugehörige Arm­bewegung gesehen hatte.

Ich verstaute mein Gepäck, setzte mich an den Gang und legte die soeben gekaufte Süddeutsche und die Frank­furter Allgemeine auf den freien Platz neben mir. Ich nippte am Papp­becher mit dem brühheißen Kaffee und bemerkte erst jetzt, dass der Mann, der mir schräg gegenüber saß, Sebald ähnelte, mit Einsteinscher Ferne und Skepsis im Blick, grau der Schnauzer, die Haare, mit Wirbelansatz über seiner linken Seite, den Körper in aufrechter und zugleich weicher Haltung, mit einer sonderbaren Durch­­sichtigkeit, wie mir schien. Ich war nicht erstaunt, ihn am Fenster­platz zu sehen, und je genauer ich schaute, desto mehr mußte ich glauben, dass er es tatsächlich war. Ich hatte seinen letzten Roman bei mir, als mögliche Lektüre für eine lange Reise durch das grau däm­mernde Land.

Der Zug setzte sich mit einem geräuschlosen Gleiten in Bewegung und als die Lüftung zu summen begann, gingen die Lichter an und tauchten das Abteil in ein mattes Gelb. Vor dem Fenster flirrten mit zu­nehmen­der Geschwindig­keit die grauen Pilaster in kürzer wer­den­­den Abständen vorbei. Sebald hatte, wie ich be­merkte, kaum Gepäck bei sich, nur eine Leder­tasche, die wie die Tasche eines Landarztes aussah, wie ich sie mir in einem Heimatfilm vorstelle, mit Strie­men über­zogen, braun oder schwarz, mit un­verhältnis­mäßig riesigen Tragegriffen. Aus Grün­den, die mit mei­ner somatisch vor sich hin dümpelnden, manch­­­­mal, wenn auch selten, anfallartiger Todes­angst zu tun haben, hätte es mich beruhigt, wäre er Arzt gewesen.

Der Intercityexpress glitt durch den Bahnhof Pots­damer Platz, der in seiner neonmatten und menschen­leeren Erscheinung gespensterhaft wirkte. Ich nahm das Sebaldbuch zur Hand und bemühte mich zu lesen. Ich war darüber verwundert, dass die Ge­schichte zum Teil in Belgien spielt, dem Land, in dem ich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, ohne sagen zu können, dass es meine Heimat ist, und es beglückte mich, als später, als sei es eine geheime Botschaft, ein in Büchern und Zeitungen selten erwähnter Ort vorkam, den ich kannte, dem walisischen Llyn Tegid oder Bala Lake, einem kleinen Binnengewässer, in dem allen Natur­gesetzen zum Trotz sich anfallartig Fluten erheben sollen.

Ich las schon eine ganze Weile, als ich be­merkte, dass mir das kaum mögliche gelang. Zu­nehmend war es mir in den Mo­naten zuvor schwer geworden, zu­sam­men­hängende Wortreihen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, hier, in diesem Zug, wirkten das Abteil und die ausschleichende Nacht, die sich noch zwei oder drei Stunden halten würde, wie ein ge­schützter Raum, der mich befähigte, mich für eine Weile zu sammeln.

Seit Monaten schon hatte ich keinen Text mehr über­setzt, und obwohl die Presseagenturen immer noch anfragten, lehnte ich unter den unterschiedlichsten Vorwänden ab, und auch Romane zu lesen, war ich seit langem kaum imstande. Manchmal wußte ich auf Seite 8 nicht mehr, welches der Titel war, wer der Verfasser. Ich begann, mir die Buchstaben auf den Seiten, die ich nicht lesen konnte, anzusehen, sie zu betrachten, die schönen von den häßlichen und von den mittelmäßig ästhetischen zu unterscheiden. Ich zählte die ß auf einer Seite, die s und die y und die z, die schönsten Buchstaben, wenn man sie für sich be­trach­tet, und die in Bedrängnis geraten, wenn sie zwischen Konsonan­ten eingeklemmt sind: das y in Synapse, das s in Botenstoff oder das z in Schwanz­flosse; und auch das ß, das stets mit einem Vokal verbunden ist, wird mitunter von einem einzelnen Konsonanten bedrängt, in Schmeißfliege, beispiels­weise, frei und schön neben einem dezenten i, doch zur rechten eingeengt durch ein aufsässiges f. Ich zählte die a auf einer Seite und die o, unterteilte sie in große am Beginn eines Wortes und in kleine mitten­drin. Ich zählte die Zeilen, die Buchstaben in ihnen, bemerkte, dass die Zeilen mit überwiegend flachen Buchstaben – t, f, i, l – auch mehr Zeichen hatten, als die, in denen die bauchigen dominierten: das a, das o, e, q, b und g. Ich konnte mir die Details nicht merken, nie­mals wußte ich am Abend, dass ich am Morgen 208 e, 14 ä und 137 n auf Seite 69 gezählt hatte, doch es gab mir so etwas wie Gewißheit für den Augenblick, es gelang mir, mich auf etwas zu konzentrieren und ein wenig von meiner Welt festzuhalten, die sich zu­neh­mend in Auflösung befand. Ich zählte und zählte nach und war beruhigt, wenn das zweite Ergebnis mit dem ersten über­­einstimmte, so hatte ich ganze Stun­den ver­bracht.

In der Folge hatte ich mich auf leichtere Lektüre be­schränkt, auf die Süddeutsche und den Spiegel, dessen Bilder und Grafiken meine Aufmerksamkeit für eine Weile aufrecht hielten. Auf den Wissensseiten las ich über schwarze Löcher und schwarze Materie, ohne etwas zu ver­stehen, über ferne, bedrohliche Asteroiden und Ko­meten, die bald auf die Welt stürzen würden, solche Ängste hatte ich damals. Ich las über die abstoßende Casimir-Kraft, das Quantenrauschen des Vakuums, stieß auf einen Artikel, der vor Langzeitfolgen von Schlaf­störungen warnte: Tumor­e, Schlag­anfälle, Herzstill­stand, Wahn­sinn. Meine persönliche Sorgenliste las sich in um­gekehrter Reihenfolge, Wahnsinn und Herz­versagen standen an vorderster Stelle, an Hirnschläge und Tumore dachte ich auf unerklärliche Weise so gut wie nie.

 

Shirin kam meistens an den Abenden, als wir noch ein Paar waren, wir aßen zu einer Flasche Rot­wein. Ich erzählte von irgend­welchen Artikeln, die ich gelesen hatte, und sie hörte mir zu und störte sich nicht daran, dass ich manchmal recht lange brauchte, weil ich Mühe hatte, zusam­men­hängende Gedanken zu formulieren.

Es gab Augenblicke, in denen ich mich der Welt zugehörig fühlte und sie festzuhalten versuchte. Ich sah Schwalben, die an einem milden Früh­sommer­abend im Gleitflug die Baum­wipfel streiften, ein Kas­tanien­blatt, das im Wind schwang, den zucken­den Schatten, den eine Gaslaterne nachts auf das Relief einer Balkonputte warf. Ich hörte ein Lachen in der Ferne, erhaschte das Lächeln einer Kellnerin, ein Kranken­schwester­lächeln, vertrauen­erweckend und in der nächsten Sekunde schon verflogen. Noch heute gelingt es mir, einzelne Moment­aufnahmen von damals abzurufen, obwohl die Zeit, von der ich berichte, schon mehr als fünf Jahre zurück liegt.

Der Schaffner war der einzige Mensch, der die sonder­bare Intimität unseres abgegrenzten Raumes durch­brach. Er erschien mir wie ein Gespenst, ein Wesen, das hier nicht hingehörte, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass der Mann mit den faustbreiten roten Streifen am Revers kein Wort sprach, als er hineintrat, sondern wartete, dass wir ihm unsere aus­gedruckten Fahrscheine und Kredit­karten hin­hielten, und es war vor allem die Tatsache, dass er weder Sebald noch mir auch nur einen flüchtigen Moment lang in die Augen sah. Er riß die Schiebetür auf und blinzelte ins schwarze Nichts, das nach wie vor hinter dem Fenster vorbeiflirrte, er blickte auch kaum auf den Bogen Papier, als er ihn abstempelte, und es erschien mir sonderbar, beinahe erschrak ich, als das dunkel­blaue Gespenst mit der roten Armbinde „Danke, meine Herren“, sagte, bevor es die Tür mit einem Lufthauch wieder schloß und nun den Blick in ein sich irgendwo auf dem Gang befindliches Vages richtete. In der Ferne flimmerte rosaviolett ein dünner Himmelssaum, das Land verbarg sich noch in der Vordämmerung, ich sah schemenhaft Hügel und Waldparzellen, sanft gewellt, novemberkahl.

Der Zug rollte sanft an Glasfassaden und Beton­klötzen vorbei, über denen Lasergebilde grelllila und orange am an­sonsten dunklen Himmel zuckten, und ich entnahm den beleuchteten Schriftzügen, die das Ufer eines Gewässers zierten, dass die Eisenbahn sanft und beinah geräuschlos in den Bahnhof der Auto­stadt Wolfsburg einfuhr. Wir hatten also bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, von Hauptbahnhof tief bis zur Autostadt, wobei es mir vorkam, als hätten wir den Geisterbahnhof vom Pots­damer Platz gerade erst hinter uns gelassen. Auch hier waren die Bahnsteige ges­pensterhaft leer, wie auch die ganze steinerne Promenade und die angrenzenden Vor- und Busbahn­hof­­plätze frei von jeglicher organischen Regung zu sein schienen. Der Zug setzte sich sogleich wieder geräuschlos in Bewegung und glitt, während er be­schleunig­te, gemächlich an monströsen Ziegel­stein­­gemäuern und qualmenden Schloten vorbei.

Sebald lächelte mich an, und ich bemerkte beinahe mit Erleichterung, dass er sich zum ersten Mal, seit ich in Hauptbahnhof tief zugestiegen war, wahrnehmlich be­wegte, indem er die Beine streckte und seinen Mantel auf Brust­höhe ein wenig lockerte, ohne ihn aus­zuziehen. Dann sah er mich einen Augenblick lang an, er sah mir in die Augen, mit Skepsis im Blick, die gebogene Falte über der Nasenwurzel zog sich zusam­men. Der Zug bremste ruckelnd ab, rollte mit mittlerer Geschwindigkeit durch die Nacht, bevor er wieder Fahrt aufnahm. Man konnte das tak-tak, tak-tak in der Phase der Be­schleuni­gung deutlich ver­nehmen, und es schien mir, dass mein Puls sich dem Takt des schneller werdenden Zuges für Momente an­paßte, bevor er weniger geräusch­voll als zuvor und nun mit rasendem Tempo über das nahezu un­sicht­bare Land glitt.

Schon eine ganze Weile hatte ich be­merkt, wie sich eine perfide, noch leise und scheinbar harmlos daher­kom­mende Übelkeit heran­schlich, die sich nach und nach entfaltete. Ich führte es auf die neue Gene­ration der Wagen zurück, die mit ihrer innovativen Technik schwank­ten und wogen. Ich öffnete die Schatulle, in der ich meine Medikamente aufbewahrte, und warf mir eine der kleinen rötlichen ein, die als Neben­effekt auf wundersame Weise Übelkeit unter­­drückten, mit einem Schluck kalten Kaffee, der sich am Grund des Papp­­bechers wie die letzte Pfütze in einem aus­trocknen­den Moorloch gehalten hatte. Sebald blickte nach draußen, ein Lächeln schien über seinen schnurr­bart­beschatteten Mund zu huschen, doch es konnte ein Lichtreflex sein, der, als wir einen im fahlen Neonlicht vor sich hin schlummernden ländlichen Bahnhof passier­ten, eine Irritation bewirkt haben mochte.

Ich hatte mich inzwischen im Buch, das mich gleich von der ersten Seite an regelrecht in einen Sog gezogen hatte, weit vorgelesen. Ich war passagenweise in der Lage, wach­­sam und konzentriert zu lesen, ganze Ab­schnitte mit all ihren geschilderten Details zu erfassen, wo hingegen ich an anderen Stellen seiten­weise Wort um Wort und Zeile um Zeile aufsog, ohne den Inhalt aufzu­nehmen, doch selbst in dieser kaum bewußten Lektüre konnte ich mich der Textmelodie nicht ent­ziehen und hatte das Gefühl, unbewußt Wissen und Bilder aufzu­nehmen, die ich später auf der einen oder anderen Weise erinnern würde. Jetzt stieß ich auf eine Stelle, in der Sebald beschreibt, wie sich der Prota­gonist als Junge um die Eichhörnchen und ihren Winter­vorrat sorgte: Wenn die Eichhörnchen, wie er stundenlang an milden Herbst­tagen beobachtet hatte, die Eicheln und Buch­eckern und Haselnüsse im Boden verscharrten, wie sollten sie sie wiederfinden, wenn im Winter der Boden von einer weißen Schneeschicht bedeckt war? Ich las: „Wie wissen die Eichhörnchen das, und was wissen wir überhaupt, und wie erinnern wir uns, und was entdecken wir nicht am Ende?“

Ich freute mich über die kleine Hommage an das Eich­hörnchen. Häufig war ich im Volkspark oder auf Fried­höfen, auf denen ich spazierengegangen war, stehen geblieben und hatte minutenlang Eichhörnchen beo­bachtet, wie sie erstarrt und verwundert sich an die Rinde einer Eiche klammern, das Knopfauge einen reglos be­trachtet und auch der schmale Körper sich scheinbar keinen Millimeter bewegt, keine Atmungs­dehnung ist zu sehen, noch nicht einmal das Zucken eines Muskel­stranges oder des Schweifs, und dann, wie auf ein un­sichtbares Zeichen hin, hüpfen sie leicht­füßig den Baum­stamm hinauf, schwerelos, grazil. An manchen Tagen meiner Irrungen war das Eich­hörn­chen das einzige Lebe­wesen, das mich zum Lachen brachte, daran dachte ich jetzt, als ich die ent­sprechende Stelle bei Sebald las. Auch kam mir wie dem Sebald-Protagonisten, dem als erwach­sener Mann das seit seiner Kindheit nicht mehr ver­wendete tschechische Wort veverka in den Sinn kam, der französische Name für Eichhörnchen aus fernen Zeiten in Erinnerung, écureuil. Ich war ihm seit meiner Kindheit, als ich die Eichhörnchen im Parc de Woluwé beobachtet hatte, wie sie sich auf den mächtigen Stämmen der Buchen und Eichen und über die herabhängenden Äste hinweg regelrecht jagten, nicht mehr begegnet.

Ich blickte aus dem Fenster und sah in der Ferne die Insel der nied­lichen Wolkenkratzer mit schichtweise erhellten und ver­dunkelten Etagen und mit rot blinkenden Lämp­chen auf den Funkmasten der Dächer. Auch sah ich die kleinen roten Lichter der Flug­zeuge, die sich näherten und entfernten und an der aus dem trüben Nichts wie eine Pappeloase sich hervorhebenden Ansammlung von Hoch­­­­­­häusern vorbei­zogen. Im Inneren des Zuges hatten sich die Licht­verhält­nisse nicht wesentlich verändert, seit wir die Katakomben von Hauptbahnhof tief verlassen hatten, lediglich ein neonblasser Schim­mer durch­brach bei der Durch­fahrt eines Provinz­bahnhofes das ansonsten vor­herrschende matte Gelb unseres Abteils.

Sebald hatte seine Sitz­position lange Zeit kaum ver­ändert, die Beine gelegentlich ausgestreckt, einmal hatte er den Hut hochgehalten und sich an einer hinteren Stelle des Schädels gekratzt, ansonsten hatte er sich nach wie vor kaum gerührt und seinen Mantel nicht ausgezogen. Nun sah ich zu ihm herüber, sah, dass sein Oberkörper leicht vornüber gekippt war und mit den Erschütterungen der Uneben­heiten des Gleis­geflechts ab und zu ein bißchen wippte. Ich meinte, seine Augen zu sehen, die bei genauer Betrachtung von den Lidern überzogen sein konnten, es war nicht zu unterscheiden im dumpfen Matt der gelben Be­leuchtung. Als auch ich mich nach vorne beugte, um an Sebald näher heran zu kommen, richtete er sich unverrichteter Dinge auf, öffnete die Augen, blinzelte ein paar wenige Augenblicke orien­tierungs­los in den kleinen Raum, sah zu mir herüber, sah mir in die Augen noch mit dem Anblick des Erschrockenen, und er lächelte, er lächelte mich an, zog seinen Mantel ein wenig zurecht, richtete sich vollends auf und streckte seinen Oberkörper, streckte die Arme von sich, warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und sah, dass der Tag sachte auf­dämmerte.

Ich blickte erneut zu Sebald herüber, und weil er meinen Blick fragend erwiderte, sagte ich: „Sie ähneln sehr einem Autor, von dem ich einen Roman dabei habe“, und ich hob das Buch, hielt ihm den Titel entgegen, und fragte: „Kennen Sie den?“ Sebald blickte ein wenig bemüht auf den Buch­deckel, er beugte sich vor, da ich ihn vermutlich in keinem günstigen Winkel hielt, dann schüttelte er den Kopf, sagte: „Habe ich nie gehört. Aber Sie glauben ja gar nicht, für wen man mich schon alles gehalten hat: für Einstein, für einen altmodisch auftretenden Arzt, für einen Professor der Raumfahrt­technik. Mit all dem habe ich nichts am Hut, aber es schmeichelt mir, und dank Ihnen bin ich heute zum Schriftsteller gekürt worden.“ Er grinste, streckte seine Beine, seine ganze Körperhaltung er­schien mir plötzlich ein wenig ordinär, für Augen­blicke. Der Zug blieb stehen, Sebald erhob sich. „Be­dauere, dass ich nicht der bin, für den Sie mich halten.“ Er reichte mir die Hand, sie war kalt und samtig. Sebald ver­schwand im Dämmerlicht des Ganges.

Inzwischen war es taghell geworden, jedenfalls so, wie es an einem grauen Novembertag möglich ist, mit mattem Dunst in der Ferne und sich ab­hebende Konturen in gerin­gerer Distanz: eine Stahl­gitter­brücke, die über eine schmale, baumbewachsene Schlucht führt, Handy­masten, die sich wie Markierungs­fähnchen ver­schos­sener Muni­tion am Schau­platz einer tödlichen Schießerei über das wellige Land ver­teilen.

Wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich die Welt an mir vorbei schwirren, und ich erahnte an den Rändern meines Blickfeldes ihre Auflösung, ihr Verschwinden. Ich wußte nicht, was mich im Sanatorium erwartete, ich war un­entschlossen zwi­schen Neugier und Skepsis. „Vegetative Dystonie“ hatte Doktor Bernauer, meine Hausärztin, in der Diagnosenzeile der „Ver­ordnung von Krankenhaus­behandlung“ ein­getragen. Ich war ent­täuscht über diese banale und zugleich alle Möglich­keiten offen haltende Diagnose, wie mir schien, es kam mir vor als sei sie unter- und über­interpretiert zugleich. Ich hatte, nach­dem ich den Begriff im bebilderten Gesundheits­lexikon aus den 60er Jahren nicht gefunden hatte, Doktor Google befragt. In Bruchteilen von Sekunden hatte er für die Begriffspaarung etwa 26.000 Einträge aus den Weiten des Netzes zu­sammengestellt, die in alle Richtungen wiesen: Angst und Panik, Trauer und Schwermut, Neurosen und Psychosen, zerbrochene Lebensläufe, Strafe Gottes, wenn man wollte, und sogar Wahn.

Ich nahm die Zeitungen zur Hand. Ich blätterte die vorderen Seiten mit dem Habitus der gesättigten Un­interessiertheit vor, innenpolitische Scharmützel und komplizierte internationale Belange wollten mich nicht infizieren an diesem Morgen. Ich hatte zunehmend Gefallen an den kleinen ungewöhnlichen Geschichten gefunden, die sich in den hinteren Seiten befanden, an den Meldungen des Ressorts Pano­rama, die mich neben den Wissensseiten gelegentlich in Staunen versetzten. Nun las ich einen kurzen Bericht über das Gerichts­verfahren eines Einbrechers: ein Marok­kaner war am frühen Abend in eine Wohnung ein­gebrochen, um sein Ticket zurück nach Marokko zur finanzieren. Nach­dem er Laptops, Schmuck und Bargeld eingesammelt hatte, ging er in das Kinderzimmer, in dem die sechs und neun Jahre alten Jungs mit Computer­spielen be­schäftigt waren. Der Einbrecher erbat die Herausgabe des Kinder­computers, woraufhin der größere Junge in heftigen Protest verfiel. Der Einbrecher versuchte, den Jungen zu überreden, doch der verhandelte und gab dem Einbrecher schließlich 15 Euro anstelle des Com­puters, womit er sich begnügte unter mit Worten der Entschuldigung die Wohnung verließ.

 

Ich blickte aus dem Fenster, sah, als der Zug ge­räuschlos eine weite Kurve fuhr, in der Ferne den Turm des Münsters, der wie ein Fingerzeig Gottes in den Himmel wies. Ich verließ eiligst den Intercity­express, nachdem er geräuschlos auf das Gleis ein­gefahren war, und stieg in ein regionales Bähnchen, das mich über Meckbeuren und Kressbronn an den See bringen würde.

Als wir uns vom Bahnhof entfernten, sah ich die Straße in Brüssel vor mir, in der ich aufgewachsen war. Ich sah die sechs oder sieben Häuser auf jeder Seite der stark abfallenden Straße, sah mich aus dem Kinder­zimmer blicken auf das gegenüberliegende Haus. In meiner inneren Welt spielte sich jetzt die Szene ab, die ich als Kind aus diesem Blickwinkel beobachtet hatte. Ich war in der Nacht vom Türschlagen eines Autos aufgeschreckt worden, das einzige Geräusch in stiller Nacht in unserer kleinen, bürgerlichen Straße. Ich spürte oder ahnte oder wußte, dass etwas geschah, ich stand auf und blickte hinaus und sah einen blauen Renault 5 vor dem Haus gegenüber stehen, den ich dort noch nie gesehen hatte, und dann bemerkte ich den Schwarzen, einen Jugendlichen, der vermutlich an der Regenrinne hinauf zum Küchenfenster in der ersten Etage geklettert war, und just in diesem Augenblick, da der Fensterflügel sich mit einem dumpfen Knacken nach innen öffnete, erschall der gräßliche Ton der Alarm­anlage, die, das war üblich in unserem Viertel, auch bei Anwesenheit der Bewohner in der Nacht eingeschaltet worden war.

Erschrocken sprang der Bursche vom Fensterbrett, ins Auto hinein, rollte ohne Licht und ohne laufenden Motor die Straße hinunter, startete schließlich den Wagen und verschwand in der Seitenstraße. Nur wenige Augenblicke später erschien der Herr von gegen­über, ein Immo­bilienmakler, der sein Geld im Kongo gemacht hatte, in früheren Jahren. Er stand breitbeinig in der Tür in einen weißen Schlafrock gekleidet, das speckige, tags ge­scheitelte Haar ver­wuschelt in alle Rich­tungen stehend, in den Händen, ein wenig auf seinen runden Bauch abgelegt, ein Schießgewehr mit doppeltem Lauf. Da stand der Nachbar, blickte links die Straße hinunter, rechts hinauf, und dann sah er zu mir, fixierte mich mit seinem Blick, ich winkte.

Am frühen Vormittag klingelten die Gendarmen, sie sagten, ich sei der einzige Zeuge, sie benötigten meine Aussage. Meine Mutter bat die Herren von der Gen­darmerie und den Nachbarn herein, sie setzte Kaffee auf und servierte Aachener Printen mit den Worten, dies sei eine deutsche kulinarische Spezialität, sie mögen sie probieren, deutsche Küche sei besser als ihr Ruf, am besten tunke man die Printen in den Kaffee, dann seien sie leichter zu kauen. Die drei Herren interessierten sich nicht für den missionarischen Eifer meiner Mutter. Ich berichtete, was ich sah, und der dicke Nachbar schüttelte immer wieder den Kopf: „Ausgerechnet ein Schwarzer!“, empörte er sich, „dabei bin ich im Kongo immer so gut zu denen gewesen!“ Später, als ich allein in meinem Zimmer saß, fühlte ich mich schuldig, weil ich den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, ich hoffte, sie würden den Burschen nicht finden, und ich war froh, dass ich das Nummern­schild im diffusen Schein der Straßen­laterne nicht erkannt hatte.

Wir näherten uns dem See, der sich in der Ferne durch ein fleckiges rosaviolettes und blechernes Schimmern an­kündigte. Die Berge, die ich, der von Norden kam, zu meiner linken Seite vermutete, sah man kaum, eine sachte Ahnung nur, so wie man das Meer zu riechen meint, wenn man weiß, dass es in der Nähe ist. Von hellen Wol­ken­­schwaden waren die Berge umhüllt, dunkle Grun­dierun­gen deuteten sich an. In der Mitte des Sees zog eine Fähre ein sich ins Un­end­liche weiten­des V hinter sich her. Zeiten später fuhren wir mit lang­samem, regelmäßigem Gepoche über einen Damm auf die Inselstadt, die auf mich wie eine fried­liche, unflucht­bare Sackgasse wirkte.

Die Luft war mild und süßlich, Möwen kreisten ge­räuschlos über dem Bahnsteigdach, eine lärmende und alkoholi­sierte Männerhorde zog durch die Bahn­hofs­halle. Da bin ich, dachte ich, und wünschte mir, sogleich zu ver­schwin­den, zurück­zufahren, wohin auch immer, mich vielleicht in meine Altbau­woh­nung zu flüchten, zu verharren und abzu­warten, bis die Welt unterging und alles belanglos wurde. Ich war klein, erbärmlich und lächer­lich, in diesen Minuten, doch drückte ich meinen Rücken durch, zog den Koffer hinter mir her und lief forschen Schrittes geradewegs auf den Taxistand zu.

Der Fahrer wußte, dass die Adresse des Sanatoriums nicht die von einem Sporthotel war, er fuhr los mit der schweigsamen Abgeklärtheit des Wissenden, auch ich blickte auf die Straße und schwieg. An einer Baustelle am Rande der Stadt unter­breitete uns die für Bau­stellen und Verkehr zuständige Behörde zwei mög­liche Umleitungen: „Alle Richtun­gen“ besagte ein Schild, und wies nach rechts, und ein anderes, mit der Auf­schrift „Andere Rich­tungen“ versehen, wies nach links. Der Fahrer fuhr un­bekümmert geradewegs in die Baustelle hinein, das ein Verbotsschild zierte mit den Worten „Anlieger frei“. Nach mächtigem Geholper auf schotterigem Belag fand sich ein Ausgang aus dem Baugelände, der Fahrer beschleunigte auf der breit­spurigen Bundes­straße.

Ich beobachtete das Taxameter, vermutete, dass die Fahrt hinauf in die Berge etwa eine halbe Stunde dauerte. Jetzt sah ich die Zahlen, die sich stetig empor drehten, es erinnerte mich an die Drehscheibe des Stromzählers, die sich fortwährend und eiligst drehte, wenn ich im Flur stand und darauf wartete, bis Shirin mit dem Duschen fertig war, doch das Wasser strömte durch den Durch­lauferhitzer, und ich wartete gebannt vor der rasenden Drehscheibe des Stromzählers, deren feine Riffelungen zu einem dünnen Strich ver­schwam­men. Wir fuhren durch Wald, dann nahm die zuvor breitspurige Straße einen engen Verlauf, in zunehmend scharfen Kurven zog sie sich den Hang empor, und dort, wo die Kurven sich am engsten bogen, waren sie mit Namensschildern ver­sehen: Kehre 7, Kehre 6, et cetera.

Schwarze Wolkengebilde schoben sich ineinander, ver­schachtelte Wolkenmasse. Der Himmel war mit jedem Kilometer dunkler geworden, den wir hochwärts fuhren. Wind peitschte in Böen über das Alpenvorland, nackte Jungbäume bogen sich wie Kunsttänzerinnen auf der Turnmatte. Die ersten traurigen Gestalten kamen uns entgegen, als wir das Dorf hinter uns ließen und uns dem Gelände näherten, gekrümmte, gebückte Gesellen, die Kapuzen zugezogen, eine Frau kämpfte mit einem Schirm gegen den Wind, obwohl es nicht regnete. Als ich ausstieg, roch es nach Schnee. Schnee, dachte ich, Weiß.

Kalt wirkte das Gebäude, ein Neubau mit schmuddel­weißem Putz und Balkonen aus nacktem Beton. Die Empfangshalle hatte das Flair eines altmodischen Sport­hotels, mit rosa­farben überzogenen Polstersesseln und angekratzter Patina an den Lehngriffen, überhaupt hatte alles hier einen Rosa­stich, sogar die künstlichen Blumen­gewächse, die gleich­mäßig im Foyer in kleinen weißen Väschen verteilt waren, hatten zentimeterbreite rosa­farbene Riffellungen. Ein Flügel stand wie verloren neben dem Aufzug, im Hinter­grund standen mit weiß­lichen und rötlichen Stoffdecken über­zogene Tische, hell­hölzerne Stühle im rustikalen Stil. Die Empfangsdame hieß mich willkommen, drückte mir die Hausordnung und den Zimmerschlüssel in die Hand, das Abendessen gab es in zwei Stunden.

Auch das Zimmer hatte einen rosa geprägten Stich, rosa­farbene Tischdecke und Kunstblumen in der Vase auch hier, immerhin ging der Teppich in Bordeaux über. Das Tischlein stand auf einer kleinen Empore, die man über zwei mit hölzernem Gelände versehene Stufen betrat, das Fenster war breit in die Schräge des abfallen­den Daches geschlagen.

Draußen stürmte es. Ich horchte in die tosende Stille, vernahm kein störendes Geräusch, das aus dem Inneren des Hauses kam, ich war froh und dankbar, eines der wenigen Dachgeschoßzimmer bekom­men zu haben, noch dazu mit Bergblick, wenn die düsteren Wolken­gebilde verwehten. Ich war erleichtert, mich hier oben unterm Dach in der räumlichen Ab­geschiedenheit zu befinden, und zugleich überkam mich ein Gefühl von Bedrängnis, eine sich mir nicht weiter erschließende Bedrücktheit schlich sich ein, eine Ahnung von einem Lagerkoller, von einer Einengung in einer mir fremden, unentrinnbaren Welt, wenngleich mein Aufent­halt hier freiwillig war und ich jederzeit wieder abreisen konnte. Ich blickte mißtrauisch in die grauschwärzliche Trübnis vor dem Fenster und erschrak, als ich in der Scheibe plötzlich mein Spiegelbild erblickte.