Politische Ideengeschichte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Infografik 1: Der analytische Ansatz

Der analytische Ansatz interpretiert einen Text, indem systematisch ausgewertet wird, was der Text inhaltlich und explizit aussagt.


Aus Gründen des Platz- und Zeitmangels wird man im Rahmen einer analytischen Interpretation nicht sämtliche fehlenden Prämissen und Schlussfolgerungen ergänzen und sämtliche Einzelargumente rekonstruieren können. Man muss also beurteilen, welche Argumente einer detaillierten Analyse unterzogen werden sollen und dem verbesserten Verständnis der Gesamtargumentation des Texts am meisten zuträglich sind.

2. Das Anwendungsbeispiel: James Madisons Federalist Paper Nr. 10

Den analytischen Ansatz wollen wir anhand des Federalist Paper Nr. 10 von James Madison illustrieren. Bei diesem Text handelt es sich um einen Kommentar zur Amerikanischen Verfassungsdebatte, der heute als eines der wichtigsten Dokumente der konstitutionellen Gründungsgeschichte der USA gilt. Veröffentlicht wurde der Artikel am 22. November 1787 in der Zeitung New York Packet unter dem Pseudonym „Publius“. Neben James Madison verwendeten auch John Jay und Alexander Hamilton dieses Pseudonym. Gemeinsam veröffentlichten sie zwischen Oktober 1787 und August 1788 insgesamt 85 Zeitungsartikel, um die Ratifikation des Amerikanischen Verfassungsentwurfs zu befördern. (Man bezeichnet sie als die Föderalisten.) Gegen Publius erhoben Autoren ihre Stimme, die ihrerseits unter Pseudonymen, wie z. B. Cato, Brutus, Centinel oder Federal Farmer schrieben (die sogenannten Anti-Föderalisten).

All dies muss uns aber im Folgenden nicht interessieren, denn der historische Kontext, die Biografie des Autors und die Rezeptionsgeschichte spielen beim analytischen Ansatz keine Rolle. Es geht nur um das, was explizit im Text geschrieben steht, die Interpretation erfolgt textimmanent. Wie zuvor dargelegt, muss deshalb im Folgenden lediglich der Aussagegehalt bestimmt und die zentralen Begriffe geklärt werden, um daraufhin die Argumente des Federalist Paper Nr. 10 rekonstruieren zu können.

3. Vom Wortlaut zum Aussagegehalt: Die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10

3.1 Untersuchungsziel und Hauptaussagen des Texts

Das Federalist Paper Nr. 10 ist weitgehend klar geschrieben, so dass der erste Analyseschritt – die Identifikation des Aussagegehalts – keine allzu großen Herausforderungen bereithält. Nehmen wir uns die ersten Zeilen des Texts im Detail vor. Zunächst filtern wir die Einzelaussagen („A“) aus dem Text heraus. Dabei heben wir sogleich uneindeutige Pronominalbezüge (durch eckige Klammern) und klärungsbedürftige Begriffe (durch Unterstreichung) hervor.


TextAussagen
„Keiner der vielen Vorteile, die von einer sinnvoll aufgebauten Union zu erwarten sind, verdient sorgfältiger untersucht zu werden als der, mittels ihrer die Gewalt der Faktionen brechen und unter Kontrolle halten zu können. Nichts lässt den Befü rworter der Volksregierung so sehr um deren Ruf und Schicksal bangen wie das Wissen, welch starke Neigung zu diesem gefährlichen Laster ihr zueigen ist. Er wird deshalb jeden Plan gebü hrend zu wü rdigen wissen, der ein geeignetes Heilmittel dagegen bereitstellt, ohne dabei die Prinzipien zu verletzen, die fü r ihn bindend sind.“ (P1)7A1: Eine wohlgeordnete Union verspricht viele Vorteile. A2: Die Fähigkeit, die Gewalt der Faktionen zu unterbinden, ist ein solcher Vorteil. A3: Die Integrität und die Existenz von Volksregierungen wird durch [dieses] Problem gefährdet. A4: Volksregierungen sind für das Problem anfällig. A5: Befürworter von Volksregierungen streben nach einer Lösung für das Problem, die nicht die Prinzipien der Volksregierungen verletzt.

Den unterstrichenen unklaren Begriffen (Union, Gewalt der Faktionen, Volksregierung, Prinzipien der Volksregierung) kann sinnvoll erst nachgegangen werden, sobald alle Aussagen des Texts identifiziert sind, da sich später möglicherweise Definitionen finden lassen. Zunächst gilt es die Einzelaussagen im Text zu Hauptaussagen zu komprimieren. Die fünf Einzelaussagen des zitierten Textausschnitts lassen sich aber vereinfachend unter folgender Überschrift zusammenfassen: Faktionen sind ein Problem für Volksregierungen. Aufgrund des grammatisch uneindeutigen Pronominalbezugs in A3 („dieses“) muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass das Problem weniger in den Faktionen selbst, als vielmehr in einem bestimmten Aspekt von Faktionen, nämlich „der Gewalt von Faktionen“, besteht.

Hauptaussage Paragraf 1

Faktionen sind ein Problem für Volksregierungen.

Oder:

Die Gewalt, die von Faktionen ausgeht, ist ein Problem für Volksregierungen.

Im zweiten Paragrafen wird sehr wortreich ausgeführt, dass die Hauptkritikpunkte an der Amerikanischen Volksregierung zum Abfassungszeitpunkt – „Misstrauen gegenüber Verpflichtungen der öffentlichen Hand und das Bangen um private Rechte“ – auf den „Faktionsgeist“ zurückzuführen ist. Der dritte Paragraf reicht eine Definition von „Faktion“ nach und im vierten Paragrafen erweist sich, dass die Doppeldeutigkeit des Pronominalbezugs im ersten Abschnitt, die unklar ließ, ob das Problem in der Gewalt der Faktionen oder den Faktionen selbst besteht, beabsichtigt gewesen war, da nun zwei Vorschläge zur Problemlösung unterbreitet werden:

Es gibt zwei Methoden, das Übel der Faktion zu kurieren: erstens, durch Beseitigung ihrer Ursachen; und zweitens, durch Kontrolle ihrer Wirkungen. (P4)

Hauptaussage Paragraf 4

Das mit den Faktionen verbundene Problem kann gelöst werden, indem entweder die Bildung von Faktionen verhindert wird oder aber die Auswirkungen von Faktionen reguliert werden.

Die folgenden Paragrafen verfolgen zunächst den ersten Problemlösungsvorschlag und dann den zweiten. Wenn man das Übel an der Wurzel packen wolle und die Bildung von Faktionen verhindern möchte, könne dies nur dadurch geschehen, dass entweder die Freiheit der Bürger unterminiert wird oder alle Bürger dazu gebracht würden, dieselben Meinungen, Interessen und Leidenschaften zu teilen. Dieser erste Problemlösungsvorschlag wird daraufhin verworfen. Nimmt man sich stattdessen vor, nur die Auswirkungen des Problems zu regulieren, dann zeigt sich, dass das Problem im Rahmen einer Volksregierung tatsächlich nur bei Mehrheitsfaktionen besteht. Unterschiedliche Formen von Volksregierungen („reine Demokratien“ und „Republiken“) stellen wiederum unterschiedliche Möglichkeiten zur Regulierung der Effekte von Faktionen bereit, wobei auch die Anzahl der Bürger und die Größe des Territoriums relevante Faktoren seien. Die Diskussion wird durch die Aussage abgeschlossen, dass eine große Republik am Besten die Auswirkungen der Faktionen regulieren könne. Die Struktur der Gesamtargumentation des Texts, inklusive der Leitfrage der Untersuchung, kann damit wie folgt dargestellt werden:

Grobstruktur des Federalist Paper Nr. 10


Natürlich lässt es diese Darstellung nicht zu, sämtliche Einzelaussagen oder auch nur die Hauptaussagen wiederzugeben. Sie gibt lediglich einen Überblick über die thematische Anordnung des Aussagegehalts des Texts und bezeichnet somit nur die Zusammenfassung des Ergebnisses des ersten Analyseschritts, der aus der Identifikation aller Einzelaussagen, der Klärung von zweideutigen Pronominalbezügen und der Komprimierung auf Hauptaussagen besteht, so wie er am ersten Paragrafen im Detail durchgeführt wurde. Im dritten Analyseschritt – der Rekonstruktion der Argumente des Texts – werden wir nochmals genauer auf einige Einzel- und Hauptaussagen zurückkommen. Zuvor gilt es aber klärungsbedürftige Begriffe näher zu bestimmen.

3.2 Begriffsklärungen

Bereits im ersten Paragrafen sind uns einige klärungsbedürftige Begriffe aufgefallen: Union, (Gewalt der) Faktionen, Volksregierungen, Prinzipien der Volksregierung. In den folgenden Paragrafen kommt eine Vielzahl von weiteren klärungsbedürftigen Begriffen (wie z. B. Freiheit, Eigentum, reine Demokratie, Republik) vor und wir sind gezwungen, uns auf die Klärung jener Begriffe zu beschränken, die die größte Bedeutung für die systematische Rekonstruktion der Argumente des Texts haben. Dies sind Faktion, öffentliches Wohl und Republik.

Faktion

Der Begriff der Faktion ist von entscheidender Bedeutung für die Interpretation des Federalist Paper Nr. 10. Die Leitfrage des Texts zielt ja auf die Lösung des mit der Existenz von Faktionen verbundenen Problems ab. Die Bestimmung des Begriffs der Faktion wird dadurch unterstützt, dass der Text eine ausführliche Definition bereitstellt:

Unter einer Faktion verstehe ich eine Anzahl von Bü rgern, sei es die Mehrheit, sei es eine Minderheit, die von gemeinsamen Leidenschaften oder Interessen getrieben und geeint sind, welche im Gegensatz zu den Rechten anderer Bü rger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft stehen. (P3)

Eine Faktion erfüllt gemäß dieser Definition drei Kriterien: (i) es handelt sich um eine Gruppe von Bürgern, (ii) die Gruppe teilt bestimmte Leidenschaften oder Interessen und (iii) die Handlungsabsichten der Gruppe sind mit den Rechten anderer Bürger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft inkompatibel. Auch wenn die Definition weitgehend verständlich ist, verweist sie aufgrund des dritten Kriteriums auf eine weitere klärungsbedürftige Unterscheidung, nämlich die zwischen den Interessen einer Faktion und den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft. Bevor wir aber dieser Unterscheidung (über den Begriff des öffentlichen Wohls) nachgehen, gilt es erstens zu kontrollieren, ob die Verwendung des Begriffs der Faktion an anderen Stellen des Texts Aspekte miteinschließt, die über die Definition hinausgehen oder ihr widersprechen, sowie zweitens, ob im Text andere Begriffe im selben oder ähnlichen Sinn verwendet werden.

 

Im Hinblick auf Ersteres ist festzuhalten, dass der Begriff der Faktion an sämtlichen Stellen des Texts im Sinn der Definition verwendet zu sein scheint. Allerdings werden neben der Definition weitere, für die Begriffsbestimmung potenzielle relevante, Informationen gegeben, die untereinander nicht völlig harmonieren. Paragraf 9 beginnt damit, dass Faktionen letztlich von der menschlichen Natur herrühren („Die verborgenen Ursachen für die Entstehung von Faktionen liegen also in der menschlichen Natur“). Die Wortwahl in der Diskussion von konkreten Ursachen für die Bildung von Faktionen im Text suggerieren aber, dass Faktionen nicht essenziell mit der menschlichen Natur verbunden sind, sondern vielmehr von kontingenten Umständen abhängen. Faktionen entstünden beispielsweise solange Eigentum ungleich verteilt sei oder solange die Regierung die unterschiedlichen Fähigkeiten der Bürger, Eigentum zu erwerben, schütze (P8). Insgesamt seien Versuche, Faktionen zu unterbinden entweder unweise oder kaum realisierbar; als theoretisch unmöglich werden sie aber nicht bezeichnet (P7).

Im Hinblick auf Begriffe, die in ähnlichem Sinn wie „Faktion“ verwendet werden, fällt der Begriff der Partei auf. Zunächst wird auf den Unmut von amerikanischen Bürgern verwiesen, das öffentliche Wohl und die Rechte von Minderheiten würden zu oft in den Konflikten der rivalisierenden Parteien ignoriert (P2). Dies legt nahe, dass Parteien nicht identisch mit Faktionen sind, weil Faktionen ja definitionsgemäß – und nicht nur empirisch gesehen häufig – dem öffentlichen Wohl oder den Rechten von Bürgern entgegenstehen. An anderer Stelle aber werden Faktionen und Parteien gleichgesetzt: „So ist zu erwarten, dass die zahlenmäßig stärkste Partei oder mit anderen Worten: die mächtigste Faktion die Oberhand gewinnen wird“ (P11). Wie sich in diesem Zitat bereits andeutet, ist im Text eine leichte Begriffsverschiebung zu konstatieren, da Faktionen nach der Gleichsetzung mit Parteien zunehmend mit der größten oder dominanten Partei identifiziert werden. Doch diese Begriffsverschiebung scheint durch den Gang der Untersuchung gerechtfertigt zu sein, da in den Paragrafen 15 und 16 zu erkennen gegeben wird, dass nur Mehrheitsfaktionen ein Problem für die Volksregierung darstellen, da Minderheitsfaktionen aufgrund des Majoritätsprinzips in Schach gehalten würden.

Öffentliches Wohl

Für den Begriff des öffentlichen Wohls stellt der Text keine Definition bereit. Wir müssen uns daher Einsichten über die Bedeutung des Begriffs im Text durch die Parallelstellenstrategie erhoffen. Dafür sind zunächst alle Verwendungen des Begriffs „öffentliches Wohl“ relevant sowie weiter die Stellen an denen andere Begriffe synonym verwendet werden. „Öffentliches Wohl“ scheint im Text im selben Verständnis wie „Öffentliches Gut“, „Wohl des Ganzen“, „Gemeinwohl“, „ständige Gesamtinteressen der Gemeinschaft“ sowie ferner sogar „Erforderniss[e] der Gerechtigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ verwendet zu werden, denn die Frage danach, was Faktionen ignorieren und verletzen, wird scheinbar austauschbar mit dem einen oder anderen Begriff beantwortet. Die Analyse des Begriffs der Faktion hat gezeigt, dass Faktionen (bzw. Parteien) immer (oder meist) das Wohl ihrer Mitglieder auf Kosten des Wohls anderer Bürger und der Gesamtgesellschaft zu vergrößern suchen. Dies impliziert, dass dominante politische Gruppierungen den Staat zur Förderung von ihren Partikularinteressen einspannen. Allerdings impliziert es auch, dass die anderen politischen Gruppierungen nur dadurch abgehalten werden, ihrerseits den Staat zu instrumentalisieren, da sie zahlenmäßig unterlegen sind. Faktionen rivalisieren um die Geltungsmacht ihrer jeweiligen Partikularinteressen. Worin besteht dann das öffentliche Wohl? Kann es dergleichen überhaupt als politiktheoretisch fassbare Kategorie geben, wenn, wie vom Text suggeriert, die Neigung zur Faktionsbildung in der Natur des Menschen liegt und Parteien nicht nur meistens, sondern notwendig das eigene Wohl über das anderer stellen? Welche Politik könnte anstatt auf der Förderung von Partikularinteressen auf das öffentliche Wohls ausgerichtet sein?

Aufgrund dessen, dass sich der Begriff des öffentlichen Wohls textimmanent nur vage bestimmen lässt, können nur unterschiedliche Hypothesen aufgestellt werden: Das öffentliche Wohl könnte die Summe sämtlicher rivalisierender Partikularinteressen bezeichnen. Für diese Hypothese spricht, dass der Begriff des öffentlichen Wohls anscheinend synonym mit dem Ausdruck „Gesamtinteresse der Gemeinschaft“ verwendet wird. Da die Partikularinteressen untereinander aber in Konflikt stehen und auch die Begriffe „Erfordernisse der Gerechtigkeit“ und „Gerechtigkeit“ synonym anmuten, könnte das öffentliche Wohl alternativ einen fairen Kompromiss zwischen den rivalisierenden Interessen bezeichnen. Dementsprechend findet sich im Text die Überlegung, dass sich eine politische Ordnung nicht auf die Anwesenheit von „aufgeklärten Staatsmänner“ verlassen könne, obschon diese imstande wären, die „widerstreitenden Interessen auszugleichen und sie alle dem Gemeinwohl dienstbar zu machen“ (P12).

Denkbar wäre aber auch, dass die gesellschaftlichen Gesamtinteressen utilitaristisch zu deuten sind, womit die Beförderung eines bestimmten Partikularinteresses unter Umständen den gesellschaftlich größten Nutzen verspricht und die Zurückstellung anderer Partikularinteressen legitimiert. Schließlich könnte das öffentliche Wohl aber auch gänzlich getrennt von den konkreten Interessen der einzelnen Bürger und Gruppierungen sein. Dem öffentlichen Wohl wäre dementsprechend mit einem libertären Minimalstaat gedient, der keinen Zweck außer der Gewährleistung von Individualrechten hat, so dass die Bürger ihre Zwecke (ausschließlich) privat verfolgen können. Gegen Ende des Texts steht dementsprechend, dass eine religiöse Sekte zu einer politischen Faktion degenerieren könne (P27), womit einerseits die spezifischen religiösen Überzeugungen von Gruppierungen legitimiert werden, solange sie privat ausgelebt werden, und andererseits die Illegitimität von Faktionen darin verortet wird, dass sie legitimen Privatinteressen öffentliche Geltung verschaffen wollen.

Republik

Der Begriff der Republik wird im Text wiederum definiert und zwar erstens mittels einer positiven Definition und zweitens mittels der Abgrenzung gegen die Regierungsform der Reinen Demokratie. Die Definition lautet: „Eine Republik hingegen, also eine Regierungsform mit Repräsentativsystem […]“ (P18). Die im Text vorgenommene Abgrenzung zur Reinen Demokratie offenbart, dass die Republik als eine Unterform der Volksherrschaft aufgefasst wird, in der die Bürger nicht wie in der Reinen Demokratie direkt mit Regierungsaufgaben betraut sind (P17). Stattdessen herrschen die Bürger nur indirekt durch Repräsentation, indem sie eine beschränkte Anzahl von Bürgern durch Wahl zu Volksvertretern bestimmen. Im weiteren Unterschied zur Reinen Demokratie ist die Republik aufgrund des Mittels der Repräsentation über ein größeres Territorium und eine größere Anzahl von Menschen ausweitbar (P19). Eine Republik kann damit hinreichend als repräsentative Demokratie (im Gegensatz zur direkten Demokratie) charakterisiert werden.

3.3 Rekonstruktion der Argumente

Nach der textimmanenten Bestimmung von zentralen Begriffen kann zur Rekonstruktion der Argumente des Texts übergegangen werden. Wiederum sind wir hier gezwungen, uns auf die Wichtigsten zu beschränken. Erstens das Argument, dass Faktionen ein Problem für die Demokratie darstellen, und zweitens das Argument, dass das Problem der Faktionen nicht an den Ursachen angegangen werden kann; und drittens, dass repräsentative Demokratien die negativen Auswirkungen von Faktionen besser in den Griff bekommen als direkte Demokratien.

Argument 1: Faktionen sind ein Problem der Demokratie

Dass Faktionen ein Problem für Volksregierungen (bzw. Demokratien) darstellen, wird zu Beginn des Federalist Paper Nr. 10 behauptet. Im direkten Anschluss folgt die Begründung. Diese soll nun im Detail betrachtet werden. Dafür wird die Textstelle auf der Grundlage der tabellarischen Gegenüberstellung von Text und Aussagen, wie sie im ersten Analyseschritt erstellt (wenngleich nur anhand der ersten Zeilen des Texts illustriert) wurde, auf Prämissen und Schlussfolgerungen hin untersucht.


Text (mit Auslassungen)Aussagen
„Instabilität, Ungerechtigkeit und Konfusion waren, wenn sie in die öffentlichen Institutionen Einzug gehalten hatten, in der Tat die tödlichen Krankheiten, an denen die Volksregierung ü berall zugrunde gegangen ist. Zugleich sind sie nach wie vor ein beliebtes und ergiebiges Thema, aus dem die Gegner der Freiheit ihre am bestechendsten wirkenden Argumente beziehen. […]. Überall hört man die Klagen der besonnensten und ehrbarsten Bü rger, die sich ebenso sehr fü r öffentliche und private Redlichkeit einsetzen wie fü r die öffentliche und persönliche Freiheit, dass unsere Regierungen zu instabil sind, dass das Gemeinwohl in den Konflikten der rivalisierenden Parteien missachtet wird und dass zu oft Maßnahmen beschlossen werden, die nicht den Erfordernissen der Gerechtigkeit und den Rechten der Minderheit entsprechen, sondern nur aufgrund der größeren Macht einer interessengeleiteten und erdrückenden Mehrheit durchgesetzt werden. [… Solche Missstände] sind wohl hauptsächlich, wenn nicht sogar ausnahmslos Auswirkungen der Unbeständigkeit und Ungerechtigkeit, mit denen der Geist der Faktionen unsere öffentliche Administration vergiftet hat.“ (P1–P2)A6: Instabilität, Ungerechtigkeit und Konfusion sind die Ursachen für das Scheitern von Demokratien. A7: Demokratiekritiker konstatieren der gegenwärtigen Ordnung eben diese Missstände. A8: Die tugendhaftesten Demokratiebefürworter konstatieren der gegenwärtigen Ordnung ähnliche Missstände. A9: Derartige Missstände sind Auswirkungen der Instabilität und Ungerechtigkeit. A10: Instabilität und Ungerechtigkeit sind Auswirkungen von Faktionen.

Die zu Beginn des Federalist Paper Nr. 10 aufgestellte Behauptung, dass Faktionen ein Problem für die Demokratie darstellen, soll durch die Aussagen A6 und A10 begründet werden. Vereinfacht stellt sich das Argument wie folgt dar:


Argument 1a
Instabilität und Ungerechtigkeit sind die Ursache für das Scheitern von Demokratien (A6).= Prämisse
Faktionen verursachen Instabilität und Ungerechtigkeit (A10). der Demokratie.= Prämisse
Faktionen bedrohen die Demokratie.= Schlussfolgerung

Das Argument ist – formal betrachtet – schlüssig. Die Konklusion folgt logisch aus den Prämissen. Wie überzeugend das Argument ist, hängt deshalb von der Plausibilität der beiden Prämissen ab. Während die Evaluation der Argumente erst der Gegenstand einer systematischen Diskussion des Federalist Paper Nr. 10 wäre, die an die (deskriptive) Analyse sich anzuschließen anbietet, ist bereits hier zu kontrollieren, ob der Text selbst die Prämissen untermauert. Die Aussagen A7, A8 und A9 sind hierfür nur bedingt ergiebig. Die Aussagen A7 und A8 fungieren lediglich als Prämissen für die unausgesprochene Konklusion, dass die gegenwärtige Demokratie an Missständen leidet, die in früheren Situationen zum Scheitern von Demokratien geführt haben.


Argument 1b
Instabilität und Ungerechtigkeit sind die Ursache für das Scheitern von Demokratien (A6).= Prämisse
Die gegenwärtige Demokratie leidet an Missständen wie Instabilität und Ungerechtigkeit, und zwar gemäß Kritikern (A7) wie Befürwortern (A8) der Demokratie.= Prämisse
Die gegenwärtige Demokratie ist vom Scheitern bedroht, wenn nicht sowohl die Kritiker wie die Befürworter der Demokratie falsch liegen.= Schlussfolgerung

Die Aussage A9 behauptet schließlich ohne weitere Begründung das kausale Verhältnis zwischen den von Zeitgenossen wahrgenommenen Missständen einerseits und der Instabilität und Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Regierung andererseits, ebenso wie die Aussage A10 einen kausalen Zusammenhang zwischen Instabilität und Ungerechtigkeit einerseits und der Existenz von Faktionen andererseits behauptet. Textimmanent lassen sich keine weiteren offensichtlichen Begründungen der Behauptung finden, dass Faktionen ein Problem für die Demokratie darstellen. Denkbar scheint lediglich, dass der Begriff des Gemeinwohls – je nachdem wie er bestimmt wird (siehe 3.2) – eine Begründung ex negativo impliziert, weil das Gemeinwohl ja den Faktionen definitionsgemäß zuwider steht.

 

Argument 2: Das Problem der Faktionen kann nicht an den Ursachen behandelt werden

Für eine Lösung des Problems der Faktionen könne man, wie zuvor festgestellt (Hauptaussage 4), entweder an den Ursachen oder den Wirkungen von Faktionen ansetzen. Im Paragrafen 5 wird daraufhin ausgeführt, dass der ursachenorientierte Lösungsansatz untauglich ist und die Paragrafen 6–8 begründen diese Behauptung mit zwei Argumenten. Das erste Argument besagt, dass Freiheit eine notwendige Bedingung für Faktionsbildung sei. Die Freiheit abzuschaffen wäre aber töricht.


Text (mit Auslassungen)Aussagen
„Bei keiner Methode könnte man mit größerem Recht sagen, dass das Heilmittel schlimmer ist als die Krankheit, als bei der erstgenannten. Freiheit ist fü r Faktionen, was die Luft fü r das Feuer ist: die Nahrung, ohne die es augenblicklich erlischt. Aber es wäre nicht weniger töricht, die fü r das politische Leben unverzichtbare Freiheit abzuschaffen, weil sie die Faktionsbildung nährt, als die Abschaffung der fü r das animalische Leben unentbehrlichen Luft zu fordern, weil sie dem Feuer seine zerstörerische Macht verleiht.“ (P6)A11: Das Mittel zur Problemlösung ist schlimmer als das Problem. A12: Freiheit ist eine notwendige Bedingung für Faktionen. A13: Freiheit ist eine notwendige Bedingung für das politische Leben.

Die analytische Herausforderung besteht zunächst darin, den Aussagegehalt der Analogie zu identifizieren. Es ist unerheblich, ob Freiheit Ähnlichkeiten mit Luft und Faktionen Ähnlichkeiten mit Feuer besitzen; worauf es ankommt, ist das analoge Verhältnis von einerseits Freiheit/Faktionen zu Luft/Feuer sowie andererseits Freiheit/politisches Leben zu Luft/animalisches Leben. Während die erste analoge Proportion für sich allein betrachtet den logischen Schluss impliziert, dass wir die Freiheit zerstören sollten, da sie Faktionen ermöglichen, versinnbildlicht die zweite analoge Proportion die Widersinnigkeit eines solchen Schritts: Weil Freiheit eine notwendige Bedingung nicht nur für Faktionen, sondern für das gesamte politische Leben ist, schütte der ursachenorientierte Lösungsansatz das Kind mit dem Bade aus.

Die Triftigkeit des Arguments hängt damit vor allem an der Richtigkeit der analogen Proportionen, sowie daran, ob die Aussage A13 eine plausible Prämisse darstellt. Die Textstelle betrachtet es als eine selbstevidente Wahrheit, dass Freiheit eine notwendige Bedingung für Politik darstellt, was an sich eher zweifelhaft erscheint. Indem der restliche Text mitberücksichtigt wird, erweist sich aber, dass Freiheit, Politik und selbst Regierung in einen konzeptuellen Zusammenhang mit Demokratie gestellt werden – Demokratiekritiker werden z. B. als „Gegner der Freiheit“ bezeichnet (P1) –, so dass die Abschaffung der Freiheit als Mittel zur Beseitigung von Faktionen abgelehnt zu werden scheint, weil dadurch die Demokratie abgeschafft würde. Und wie zu Beginn des Texts erläutert, wird eine Lösung für das Problem der Faktionen gesucht, das mit den Prinzipien der Demokratie kompatibel ist (P1).

Auch das andere Argument hebt die Inkompatibilität des ursachenorientierten Ansatzes mit den Prinzipien der Demokratie hervor. Anstatt die Freiheit abzuschaffen, könne man das Problem zwar alternativ durch Gleichschaltung8 lösen – indem man „jedem Bürger dieselbe Meinung, dieselben Leidenschaften und dieselben Interessen verschafft“ (P5) – doch würde auch dadurch notwendig die Demokratie abgeschafft. Während die Behauptung nur Wenigen kontrovers erscheinen wird, ist die im Text gelieferte Begründung bemerkenswert. Denn abgesehen davon, dass es schwer realisierbar sei, die unterschiedlichen Meinungen und Leidenschaften (die Menschen nun einmal haben) anzugleichen, so Madison, dürfte eine Demokratie nicht die Eigentumsverhältnisse angleichen, die ihrerseits zur Ausprägung von unterschiedlichen Interessen führten (in P8–P10):


Argument 2
(1) Aufgrund von unterschiedlichen individuellen Begabungen gelingt es manchen Menschen besser als anderen, sich Eigentum anzueignen.
(2) Reiche Menschen haben andere Interessen als arme Menschen.
(3) Damit die Bürger eines Staats dieselben Interessen hätten, müsste das Eigentum gleich verteilt werden.
(4) Aber der Hauptzweck eines demokratischen Staats ist der Schutz der individuellen Begabungen (inklusive jener, die der Aneignung von Eigentum dienen).
(5) Folglich ist Gleichschaltung (durch Angleichung der Interessen) keine akzeptable Lösung für das Problem der Faktionen in der Demokratie.

Argument 3: Das Repräsentationsmodell ist die Lösung zum Problem der Faktionen

Nachdem ursachenorientierte Lösungsansätze verworfen wurden, geht das Federalist Paper Nr. 10 zur Frage nach wirkungsorientierten Lösungsansätzen über. Faktionen seien in der Demokratie bei zahlenmäßig unterlegenen politischen Gruppierungen kein Problem, da der Angriff von Minderheitsfaktionen auf das öffentliche Wohl oder die Rechte Anderer durch das Majoritätsprinzip vereitelt wird (P14). Mehrheitsfaktionen hingegen stellen ein Problem dar, da sie durch das Majoritätsprinzip gerade zur politischen Gestaltung ermächtigt werden (P15). Die entscheidende Frage ist also, ob demokratische Systeme eine Lösung für das Problem der Mehrheitsfaktionen haben.

Reine Demokratien, in denen alle Bürger direkt an der Regierung beteiligt sind, heißt es daraufhin, verfügten im Gegensatz zu Republiken über keinen institutionellen Schutzmechanismus (P17–P18). Wie ist diese Behauptung begründet? Weshalb können Republiken besser die Auswirkungen von Mehrheitsfaktionen kontrollieren als Reine Demokratien? Paragraf 19 rekapituliert zwei Unterschiede der beiden Typen von Volksregierungen. In den Folgeparagrafen werden daraufhin die institutionellen Vorteile von Republiken für die Kontrolle der negativen Effekte von Mehrheitsfaktionen diskutiert.

Der erste Unterschied zwischen Republiken und Reinen Demokratien ist, dass in der Republik die Bürger nicht direkt sondern nur mittels Repräsentanten an der Regierung beteiligt sind. Im besten Fall würde die Weisheit der Repräsentanten als Filter dienen, durch welchen die eigenwilligsten Meinungen, Leidenschaften und Interessen der einzelnen Bürger aus dem politischen Prozess herausgehalten oder zumindest abgeschwächt werden könnten. Im schlechtesten Fall aber würden sich besonders bornierte und hinterlistige Menschen erst die nötigen Wählerstimmen erschleichen, um dann die Interessen der Bürger zu betrügen (P20). Zwar ermögliche die Feinjustierung des Verhältnisses von Anzahl von Repräsentanten zu Anzahl von Bürgern die schlechten Fälle zu minimieren (P22– P23), doch könne nicht gänzlich verhindert werden, dass sich das Instrument der Repräsentation manchmal verschärfend auf das Problem der Mehrheitsfaktionen auswirke.

Dem zweiten Unterschied wird deshalb mehr Relevanz attestiert. Republiken seien Reinen Demokratien bezüglich der Kontrolle von Mehrheitsfaktionen überlegen, weil sie sich über eine größere Spannweite des Territoriums und Anzahl der Bürger erstrecken lassen:


TextAussagen
Je kleiner eine Gemeinschaft ist, umso geringer wird wahrscheinlich die Zahl der Parteien und Interessengruppen sein, aus denen sie sich zusammensetzt. Je geringer die Zahl der Parteien und Interessengruppen, um so eher wird eine Partei die Mehrheit erringen. Und je kleiner die Zahl der Individuen, die eine Mehrheit bilden, und je kleiner der Bereich, innerhalb dessen sie operieren, umso leichter werden sie zu einer Einigung gelangen und ihre Unterdrü ckungsabsichten ausfü hren können. Erweitert man den Bereich, so umschließt er eine größere Vielfalt an Parteien und Interessengruppen. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mehrheit ein gemeinsames Motiv hat, die Rechte anderer Bü rger zu verletzen. Wenn aber ein solches gemeinsames Motiv besteht, wird es fü r alle, die es teilen, schwerer, sich der eigenen Stärke bewusst zu werden und gemeinsam zu agieren. (P25)A14: Je kleiner das Territorium und die Anzahl der Bürger, desto weniger politische Splittergruppen. A15: Je weniger politische Splittergruppen, desto leichter kann eine Gruppierung zur Mehrheitsfaktion werden. A16: Je kleiner das Territorium und die Anzahl der Bürger, desto leichter können Allianzen geschmiedet werden. A17: Wh. A14. A18: Wh. A15. A19: Wh. A16.

Die sechs Aussagen A14–A19, die zur Begründung der Behauptung dienen, dass Republiken aufgrund der größeren Spannweite des Territoriums und der Anzahl der Bürger Vorteile im Umgang mit Mehrheitsfaktionen gegenüber Reinen Demokratien haben, können auf drei reduziert werden, da die drei Vergleichssätze in der Form von drei Konditionalsätzen mit (nahezu) identischem propositionalen Gehalt wiederholt werden. Die Aussagen A14 und A15 (bzw. A17 und A18) liefern dabei eine Begründung, die Aussage A16 (bzw. A19) eine zweite.