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Aus der Reihe: Dein Leben
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Die Drei Transformationen

Alvin Toffler zog in seinem Werk einen großen Bogen, zeitlich wie geografisch. Meine Einteilung der Transformation ist etwas kleiner dimensioniert.

Die Erste Transformation ergab sich aus der Industrialisierung. Man kann gar nicht sagen, auf welchen Lebensbereich die Industrialisierung keinen Einfluss hatte. Sie stellte praktisch alles auf den Kopf: die Familie, die Produktionsweisen, die Infrastruktur (Eisenbahnen), die Erziehung, das Staatswesen, alles. Es wäre naiv zu glauben, dass eine solche im weitesten Sinne »traumatisierende« Erfahrung, die ganzen Völkern widerfuhr, als für den menschlichen Geist unwichtig abzuhaken wäre. Als 1835 die erste Eisenbahn, der »Adler«, von Nürnberg nach Fürth fuhr, warnten damalige Ärzte davor, die Jungfernfahrt mitzumachen. Bei der hohen Geschwindigkeit der Lokomotive würde man den Verstand verlieren. Der menschliche Geist könne dieser Sinnesverwirrung nicht standhalten.

Natürlich hat er standgehalten. Diese kleine Anekdote zeigt jedoch, wie umwälzend manche Erfahrungen und technologischen Neuerungen wahrgenommen werden können. Im besten Falle nutzen wir das störende Element des Neuen, das Disruptive, um uns kreativ daran zu reiben und daran zu wachsen. Im schlechtesten Fall entsteht daraus eine kollektiv-soziale Klage, ein andauernder Kulturpessimismus, der in erster Linie vor neuen Technologien warnt, bevor er sich den damit verbundenen Chancen widmet.

Auch wenn der »gefühlte« Eindruck ein anderer ist: Die Welt ist sicherer geworden und die Armut weniger

Dabei wird leicht vergessen, dass es mit der Welt im Großen und Ganzen doch sichtbar aufwärtsgeht. Man denke nur an die Bekämpfung ehemals tödlicher Krankheiten, an den Siegeszug der Demokratie in der Welt – auch wenn es manchmal anders scheint: »Es ist fast egal, welchen Indikator man nimmt – Bildung, Gesundheit, Ernährung – in den allermeisten Ländern zeigt der Trend stabil in eine positive Richtung. Heute sterben dank Impfungen, sauberem Wasser und besserer medizinischer Versorgung sechzig Prozent weniger Kinder als 1970. […] Auch die landwirtschaftliche Produktivität nimmt zu: Seit den siebziger Jahren hat sich die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern verdreifacht. Mittlerweile verlieren mehr Menschen gesunde Lebensjahre durch Übergewicht als durch Unterernährung.«4 Und dennoch glauben beispielsweise 75 Prozent der Deutschen, dass es den Menschen in der Dritten Welt »immer schlechter gehe«.5 Übrigens hat die Organisation Freedom House ermittelt, dass innerhalb der letzten 40 Jahre die Staaten, die man als »funktionierende Demokratien« bezeichnen kann, von 44 auf 90 zugenommen haben.6

Wie man unschwer erkennen kann, ist die damalige Bahnfahrt gegen unsere heutige Informationsflut geradezu lächerlich. Genau wie auf dem politischen oder dem medizinischen Sektor schreitet die Menschheit im technologischen Bereich weiterhin mit Riesenschritten voran. Der Zeitforscher Stefan Klein hat berechnet, dass wir in einem Jahr genauso vielen Reizen ausgesetzt sind wie weiland Goethe in einem ganzen Leben. Und trotzdem schaffen wir es, unsere fünf Sinne leidlich zusammenzuhalten.

Während die Industrialisierung nun ihre Anfänge bereits im 18. Jahrhundert hatte und bis ins 20. Jahrhundert andauerte (also über einen Zeitraum von knapp 200 Jahren!), datiere ich die tatsächlich »psychische Transformation«, die akute Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit den neuen Verhältnissen, in einen relevanten Zeitraum von ca. 1850 bis 1900. Diesen Zeitraum kann man als »Hochzeit der Industrialisierung« beschreiben. Die »Kinderkrankheiten« der Produktion waren überwunden, die europäischen Staaten ordneten sich (während Amerika gerade in den entscheidenden Krieg taumelte), die medizinische Forschung machte enorme Fortschritte. Gleichzeitig waren die beiden Weltkriege, die das Gesicht der Welt verändern sollten, noch nicht ausgefochten. Man hatte gesellschaftlich Zeit, nach innen zu schauen, buchstäblich wieder »zur Besinnung zu kommen«. Nicht umsonst fällt Sigmund Freuds Entwurf der »Psychoanalyse« in diese Zeit; 1896 verwandte er den Begriff zum ersten Mal. 1899 erschien dann sein erstes wichtiges Werk: »Die Traumdeutung«.7

Freuds Verdienst war es – und ist es noch – den Blick der Menschen zurückgelenkt zu haben auf ihr Inneres, nachdem sie über 150 Jahre der industriellen Maschine gehuldigt hatten. Denn rein wirtschaftlich gesehen geschah in der Industrialisierung genau das: eine Verlagerung der Produktion weg von der Muskelkraft (muscle) hin zur maschinellen Produktion in Serie (machine). Handwerkliche, im großen Maßstab wenig zuverlässige, im Kosten-Nutzen-Verhältnis eher teure Produktionsweisen wurden von Fabriken abgelöst, die durch Massenproduktion Dinge von vorhersagbarer Qualität zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis hervorbrachten.

Betrachten wir den Zeitraum ab ca. 1860, so erkennen wir, dass unter Ärzten und Psychologen schon damals ein »Burnout«-artiger Begriff kursierte. »Neurasthenie« nannte der amerikanische Psychiater George Beard das Phänomen, das er vor allem in Ballungsgebieten wie New York City ausmachte: Schlaflosigkeit, Besorgnis, nervöses Zittern, psychosomatische Beschwerden etc.

Neurasthenie: Seelenleid der Jahrhundertwende

Im Grunde etwas Ähnliches wie das, was wir heute unter Burnout verstehen. Beard verfasste über Neurasthenie sogar ein Buch und überschrieb es etwas reißerisch: »American Nervousness«, die »Amerikanische Nervosität«.8 Beard brachte die Neurasthenie in Verbindung mit den schnellen Veränderungen der Moderne: der rasanten technologischen Entwicklung, dem neuen, noch unsicheren Selbstverständnis der amerikanischen Nation, ja sogar mit der aufkeimenden Frauenbewegung. Im Rückblick kann man sagen, dass Beard hier die Erste Transformation sehr treffend beschreibt: das Aufeinanderprallen des menschlichen Geistes mit tiefgreifenden technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die daraus entstehende Unsicherheit griff tief in den menschlichen Organismus ein und sorgte für eine mentale, emotionale und physische Erschütterung. Und sie tut es noch heute in der Dritten Transformation. Die Erste jedoch klang nach der Jahrhundertwende ab und fand im Ersten Weltkrieg ihr abruptes Ende.

Die Zweite Transformation ließ dann auch etwas auf sich warten – fast 50 Jahre. Zunächst schafften der Erste und Zweite Weltkrieg eine Zäsur von historischem Ausmaß. Besonders der Zweite Weltkrieg sorgte global für eine komplette Neuordnung der Verhältnisse – politisch, kulturell, technologisch:

Nachdem der Pulverdampf verraucht war, formierten sich im Kalten Krieg der kapitalistische und der kommunistische Block – eine Zweiteilung der Macht, die ein halbes Jahrhundert Bestand haben sollte. Westeuropa wurde als geografischer Puffer gegen die Sowjetunion benutzt und in die NATO integriert. Die UdSSR antwortete mit dem Warschauer Pakt.

Amerika als wirtschaftlich größte Macht des Planeten exportierte seine kulturellen Vorstellungen in alle Welt, von Coca-Cola bis Hollywood. Im zerstörten Europa (vor allem in Deutschland, das fast seine gesamte Intelligenz ins Exil oder in die Vernichtungslager getrieben hatte), stillte man damit ein Bedürfnis, füllte eine wirtschaftliche und kulturelle Leerstelle.

Auch auf dem technologischen Sektor dominierten die USA: »The postwar American technological lead had two conceptually distinct components. There was, first of all, the long standing strength in mass production industries that grew out of unique conditions of resource abundance and large market size. There was, second, a lead in ›high technology‹ industries that was new and stemmed from investment in higher education and in research and development, far surpassing the levels of other countries at that time.«9

Da sich die USA selbst als Supermacht mit kultureller und technologischer Überlegenheit betrachteten, traf sie 1957 der »Sputnik-Schock« hart: Der Sowjetunion war es gelungen, einen Satelliten ins All zu schießen, und sie hatte damit den Wettlauf um die erste erfolgreiche Weltraum-Mission gewonnen. Der Sputnik-Schock markiert gleichzeitig den Eintritt in die Zweite Transformation der westlichen Gesellschaften. Während der nächsten 30 Jahre, bis zum Fall der Berliner Mauer 1989, erlebte die ökonomische Welt ihren zweiten wichtigen Wandel: von einer reinen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Maschine (machine) zum Geist (mind). Natürlich waren kluge Köpfe auch vor der Zweiten Transformation wichtig. Neu war das massenhafte Auftauchen neuer Berufszweige, die den direkten Kontakt Mensch zu Mensch erforderten. Es wurden immer mehr Arbeitsplätze für Büro-Angestellte, Service-Kräfte oder im Gesundheitsbereich geschaffen.

Das war auch nötig, da in der reinen Produktion, dem Stammbereich der Industrialisierung, die Produktivität immer mehr zunahm und Arbeitskraft dort dramatisch verbilligte.

Der Tertiäre Sektor entstand, weil sich Arbeitskraft verbilligte

Die Arbeitsverlagerung und die Schaffung massenhafter Dienstleistungen nannte man den »Tertiären Sektor«. Betrug der Anteil der Beschäftigten in diesem Dritten Sektor 1960 (also kurz nach dem Sputnik-Schock) europaweit knapp über 40 Prozent, schnellte dieser Wert bis 1990 (kurz nach dem Mauerfall) auf über 60 Prozent hoch.10 Der Anteil von Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in Deutschland heute bei rund 70 Prozent – immerhin Platz 18 der weltweiten Rangliste. Spitzenreiter ist Hongkong mit einer Quote von 91 Prozent.11

 

1974 schließlich, mitten in dieser Phase der wirtschaftlichen Umwälzung, formulierte der amerikanische Psychologe Herbert Freudenberger erstmals den Begriff »Burnout«. Bereits 2011 schrieb ich hierzu: »In der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Thema, der Schrift ›Staff Burn-out‹ von Herbert Freudenberger, war Burnout als psychologisches Phänomen in seinen Grundzügen so gut wie vollendet. Freudenberger verwendet nur drei Fußnoten, in denen er ausschließlich eigene, frühere Werke zitiert. Fast könnte man meinen, Freudenberger habe das Thema ›Burnout‹ bewusst in einen eher gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang stellen wollen statt in einen psychopathologischen. […] Vielleicht hätte man bereits Mitte der 1970er-Jahre eine Debatte über die gesellschaftlichen Implikationen von Burnout führen sollen. Burnout als Oberbegriff für eine Störung der modernen und postmodernen Gesellschaft, eher ein Sammelbecken an Symptomen und Befindlichkeiten als ein psychopathologisches Syndrom.«12

Der neue Dienstleistungssektor erfordert vor allem soziale Kompetenz

Neu an dieser wirtschaftlichen Umwälzung war, dass ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung – nämlich vor allem im Dritten Sektor – weitere Kompetenzen jenseits ihrer fachlichen Qualifikation benötigte: Sozialkompetenz, Empathie, Konfliktfähigkeit. Dinge, die man braucht, wenn man zivilisiert und vor allem zielgerichtet mit anderen Menschen umgehen soll. Damals, zu Zeiten Freudenbergers, wurde die Sicht auf das Phänomen Burnout allerdings durch zwei wichtige Dinge getrübt:

Viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs litten an »Kriegsdepressionen« – verständlicherweise. Es gab Scharen dieser traumatisierten Soldaten, überall auf der Welt. Leider ähneln sich die Symptome von Kriegsdepression und Burnout, zumindest auf den ersten Blick. Das erschwerte eine genaue Diagnose ungemein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Burnout erst ab den 1970ern in den Fokus der Forschung trat – als die Kriegsdepression in der Masse der Patienten an Bedeutung verlor.

Außerdem wurde eine individuelle Erschöpfung durch den rasanten Aufschwung kollektiv konterkariert. Nach dem Motto »Wie soll jemand an etwas leiden, was der Gesellschaft kollektiv so guttut?« (nämlich an dem schnellen technologischen Fortschritt und der immensen Verbesserung der Lebensverhältnisse) konnte man sich ein Syndrom wie Burnout schlicht nicht vorstellen. Besonders in Deutschland und seinem »Wirtschaftswunder« erschien die Vorstellung, Einzelne könnten an diesem Aufschwung individuell scheitern, abseitig.

Insgesamt begleitete Burnout als »Beeinträchtigung des Geistes« die Zweite Transformation eher im Stillen. Nachdem in der Ersten Transformation im ausgehenden 19. Jahrhundert das Konzept von Burnout (bzw. Neurasthenie) erstmals formuliert wurde, jedoch noch keine gesellschaftliche Rolle spielte, trat es ab den 1970ern deutlicher hervor. Leider nahm Burnout gleich die »diagnostische Abkürzung« und wurde als individuelles Leiden abgetan. Dass dies nicht mehr funktioniert, zeigt die momentane Explosion des Phänomens. Womit wir bei der Dritten Transformation wären.

Die Dritte Transformation findet gerade statt. Nach Ende der Zweiten Transformation hat es – dank eines ungeheuren Schubs in der Informations- und Telekommunikationstechnik – nur zehn Jahre gedauert, bis Burnout in der Mitte der Gesellschaft ankam. Ich würde den Anfang auf den Zusammenbruch der Internetblase im Jahr 2000 datieren. Das war ein starkes wirtschaftliches Signal der Veränderung. Noch mehr erschüttert, allerdings politisch, wurde die Welt durch die Anschläge des 11. September 2001. Deren seismografische Wellen sind bis heute spürbar und haben die wirtschaftlichgeistige Unsicherheit leider nicht geschwächt, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Da jede Transformation bislang mehrere Jahrzehnte gedauert hat, gehe ich auch für die aktuelle Dritte von einer Dauer bis mindestens ins Jahr 2025 aus. Erst dann werden wir in der Masse individuelle und kollektive Methoden entwickelt haben und Arbeit, Technik sowie soziales Zusammenleben entsprechend organisieren und gehirngerecht nutzen.

Der Kern der Dritten Transformation besteht in der Konfrontation des menschlichen Geistes mit der dichtesten, schnellsten und gleichzeitig abstraktesten Vernetzung, derer er sich je gegenübersah. Alle drei Transformationen veränderten die menschliche Psyche enorm. Stellt man sich die Transformationen als Himmelskörper vor, die auf die Erde prallen, so wäre die Erste Transformation (= Industrialisierung) ein eher kleiner Asteroid, der einen folgenlosen Krater hinterlässt. Die Zweite Transformation (= Dienstleistungsgesellschaft) wäre schon ein größerer Brocken, der ein Land in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die Dritte Transformation (= globale Vernetzung) hätte das, was die Astronomie einen deep impact nennt: Er würde das Leben auf dem gesamten Planeten beeinflussen.

Diese Analogie soll nicht vermitteln, dass die Dritte Transformation katastrophal enden wird oder dass sie per se etwas Schlechtes ist. Im Gegenteil. Die Dritte Transformation gibt uns die Chance, uns ganz neu mit unserem Lebensstil, unserer Art zu wirtschaften und zu kommunizieren auseinanderzusetzen. Sie hat nur viel mehr Wucht als ihre beiden Vorgänger. Denn noch nie waren die Zeiten so günstig für den mentalen »perfekten Sturm«: Auflösung bisheriger Familienstrukturen, dauerhafte wirtschaftliche Unsicherheit, ein Trommelfeuer aus Information und Kommunikation, massive technologische Veränderungen in kurzer Zeit sowie massiver Vertrauensverlust in politische und religiöse Autoritäten. Dennoch stecken darin auch Chancen – wenn wir uns geistig »über Wasser« halten können. Die hauptsächliche Herausforderung der Dritten Transformation besteht im Übergang von der Dienstleistungs- und Wissensarbeit hin zu den »vernetzten Köpfen« und einer vollständigen Globalisierung von Kommunikation, Märkten und politischen Entscheidungen – vom einzelnen Menschen und seinem Verstand (mind) hin zum vernetzten Denken (networked mind).

Das »vernetzte Denken« als Zukunftsmodell des 21. Jahrhunderts

Das »vernetzte Denken« beschreibt unter anderem eine Forschungsgemeinschaft der Universität Oxford als wegweisend für das 21. Jahrhundert: »The networked mind is the new mindset we all require in the 21st century. Given the proliferation of Web-based technologies such as blogs, wikis and social networking tools in our daily lives, these technologies have become a cause for all praise, scorn and worry. What would it become and what would be the cultural ramifications of its pervasive use? […] In this century, chance favors the networked mind; so let’s take the opportunity to continually remain students ourselves, testing and sharing best practices for new forms of engagement.«13

Die Autoren fordern ihre Leser auf, sich selbst immer wieder als Lernende, nicht nur als Lehrende zu betrachten. Die Halbwertszeit des menschlichen Wissens wird immer kürzer, wir müssen neue Erkenntnisse immer schneller akzeptieren und in unsere Praxis integrieren. Auch dieser Befund verdeutlicht das Große, das Drängende, die umspannende Veränderung innerhalb der Dritten Transformation.

Die Brisanz des Themas zeigt sich unter anderem auch in der epidemischen Zunahme von »psychischen Störungen« von Burnout über Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Leiden bis hin zu Suizidversuchen. Auch wenn man eine genauere Diagnostik und eine bessere Selbstbeobachtung des Einzelnen in Rechnung stellt, fällt die massive Zunahme im Bereich der psychischen Störungen doch auf. Das Gehirn wird zum zentralen Leidensorgan des 21. Jahrhunderts (nachdem die körperlichen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit uns nun ein halbes Jahrhundert begleitet haben). Ich behaupte: Geistige Leiden wie Depression oder Burnout werden noch mehr zunehmen, als dies ohnehin bereits der Fall ist. Sprach George Beard während der Ersten Transformation von »Neurasthenie« und Herbert Freudenberger 1974 von »Burnout«, würde ich das heutige Phänomen aufgrund seiner massenhaften Verbreitung »Struktureller Burnout« nennen. Diesen massenhaften Burnout zurückzudrängen und den Menschen ihr Wohlbefinden und ihre Handlungsfreiheit wiederzugeben, ist das zentrale Anliegen, das maximale Bestreben, dem wir uns innerhalb der Dritten Transformation widmen müssen. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir die entscheidenden Fragen stellen. Zum Beispiel: Welche Veränderungen bringt die Dritte Transformation für Unternehmen?

Veränderungen durch die Dritte Transformation

Ein kleines Gedankenspiel soll das Modell der Transformation verdeutlichen. Nehmen wir an, Ihr Auto muss in die Werkstatt. Nichts Großes, aber es muss gerichtet werden. Sie fahren hin, geben Ihr Auto ab und warten. Vielleicht sehen Sie Leute in der Werkstatt arbeiten und trinken einen Kaffee. Schließlich nehmen Sie wieder Ihr Auto in Empfang und fahren los. Ohne es zu bemerken, waren Sie Zeuge aller drei bedeutenden Transformationen der jüngeren Industriegeschichte:

Ein Werkstattmitarbeiter wuchtete mit Muskelkraft Ihre Reifen herunter und anschließend wieder herauf. Die Muskelkraft war das Kennzeichen der Arbeit vor der Industrialisierung: Landwirtschaft, Handwerk, Kriege trugen alle die Handschrift der Muskelkraft; Maschinen spielten so gut wie keine Rolle.

Dies änderte sich mit der Ära der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts (begonnen hatte die Industrialisierung allerdings schon im 18. Jahrhundert, unter anderem mit der Erfindung der Dampfmaschine). Nun rückten Fabriken und Maschinen in den Mittelpunkt. Wo vorher mehrere Menschen nötig waren, um etwas zu produzieren, erledigten das nun Maschinen zu einem Bruchteil der Zeit und der Kosten. In unserem Beispiel bringt der Werkstattmitarbeiter die Schrauben an Ihren Reifen nicht mehr mühsam mit einem Schraubenschlüssel an, sondern mit einem leistungsstarken Akkuschrauber. Was früher anstrengend war und mehrere Minuten dauerte, ist nun innerhalb von Sekunden mit einer geeigneten Maschine erledigt.

Während Sie auf Ihr Auto warten, sitzen Sie vielleicht in einem bequemen Sessel, eine Assistentin bringt Ihnen Kaffee und Sie lesen ein wenig in der Zeitung. Dies symbolisiert die Phase der Dienstleistungen und der Wissensarbeit, die Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts immer wichtiger wurden. Nachdem die Maschinen einen enormen Produktivitätsschub gebracht hatten, entwickelten sich für Menschen neue Tätigkeitsfelder, unter anderem alle möglichen Servicetätigkeiten und Beratungsdienstleistungen.

Die letzte Phase, in die wir erst einzutreten begonnen haben, wird als Vernetzung der Menschen und Maschinen untereinander in den nächsten Jahrzehnten einen Höhepunkt erreichen (»networked mind«). Die Zukunft Ihres Werkstattbesuches könnte daher so aussehen, dass Sie nicht mehr von einem echten Menschen empfangen werden, sondern von einem Hologramm (das natürlich ebenso freundlich ist und dazu immer gut gelaunt). Sie bezahlen auch nicht mehr mit Geld oder Karte, sondern mit einem Chip, der in Ihr Handy eingebaut ist. Sie wischen mit dem Handy kurz über einen kleinen Kasten an der Rezeption und das war’s. Auf Wunsch wird von nun an auch Ihr Wagen per GPS geortet, um Sie auf die nächstgelegenen Vertragswerkstätten aufmerksam zu machen. Das Ergebnis wird Ihnen in Ihre Multicodex-Frontscheibe gespiegelt, die seit 2020 zum Standard aller großen Autohersteller gehört.

Wie man sieht, gehen wir aufregenden Zeiten entgegen. Das kleine Beispiel der Autowerkstatt soll zeigen, wie weit wir uns von Pflugscharen und Katapulten wegbewegt haben und wie viel wir bei Modernisierung und Produktivität bereits erreicht haben. Doch natürlich geht diese Entwicklung nicht reibungslos vonstatten. Besonders während der Übergänge von einer Phase zur anderen, den Transformationen, rüttelt es die Gesellschaft ganz schön durch. Worin bestehen nun die gewaltigen Veränderungen, die innerhalb der Dritten Transformation stattfinden?

 

Vernetzung: Da wäre zunächst einmal die massive Zunahme von Information und Kommunikation zu nennen. Menschen, Unternehmen und Gesellschaften vernetzen sich untereinander in einem Ausmaß, das noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Facebook, das größte virtuelle Netzwerk auf diesem Planeten, hatte im Oktober 2012 nach eigenen Angaben rund eine Milliarde monatlicher, aktiver Nutzer. Ein durchschnittliches Smartphone hat heutzutage mehr Rechenleistung als ein PC vor zehn Jahren. Diese rasante Technisierung und Informatisierung durchdringt mittlerweile all unsere Lebensbereiche.

Unsicherheit: Während Kommunikation und Information alle Sphären des menschlichen Zusammenlebens durchdringen, wirkt sich die Dritte Transformation natürlich speziell auf den Arbeitssektor aus. Hier sind an erster Stelle die Veränderungen in den Arbeitsformen zu nennen. Bereits heute nimmt die Zahl der Niedriglöhner, 1-Euro-Jobber und der Selbstständigen zu. Es gibt weniger Vollzeitstellen und traditionelle Karriereverläufe. In der Arbeitswelt von morgen muss der Einzelne eine größere Unsicherheit ertragen. Das Berufsleben, die Karriere und damit das Leben an sich wird weniger planbar und unterliegt einer größeren Eigenverantwortung und Flexibilität.

Psychische Belastungen: Mit dieser Unsicherheit und der informationellen Überforderung brechen sich neue Krankheiten Bahn. Die Stressbelastung steigt an, Depressionen und Burnout nehmen zu. Psychische Erkrankungen allgemein steigen an. Offensichtlich halten die Bewältigungsmechanismen der Menschen mit den neuen technischen und organisatorischen Anforderungen im Job nicht Schritt. Viele Menschen fühlen sich zudem – trotz der großen Vernetzung – in ihrer Berufswelt isoliert und alleingelassen. Auch diese »virtuelle Einsamkeit« verstärkt das Risiko psychischer Belastungen und Krankheiten.

Sinnsuche: Nicht zuletzt rückt, mit dem Megatrend Gesundheit im Schlepptau, die Frage nach dem Sinn in der Arbeit verstärkt in den Mittelpunkt der individuellen Lebensgestaltung. Immer mehr Menschen verlangen eine Antwort auf die Frage: Wozu tue ich das? Ergibt diese Tätigkeit für mich Sinn? Das bislang vorrangig gelebte Modell »viel Arbeit, viel Geld, wenig Zeit, wenig Familie« verliert für immer mehr Menschen deutlich an Attraktivität. Arbeit und Beruf sollen nicht mehr die einzig tragende Identitätssäule des Lebens sein, sondern sich einreihen in ein Gesamtkonzept von sozialem Leben, intellektueller Befriedigung, Gesundheit und spiritueller Reifung.

Führung: Auch die Organisationen müssen sich der Dritten Transformation stellen. Eine der wichtigsten Fragen lautet hier: Verändert sich durch die Dritte Transformation das Wesen der Führung, die damit verbundenen Anforderungen? Brauchen wir »neue Chefs«? Brauchen wir Führung im traditionellen Sinne überhaupt noch? Vor allem im Bereich der Wissensarbeit stellen Beschäftigte das klassische Oben-Unten von Führen und Geführtwerden infrage. Hier zeigt sich der Wunsch nach neuen Formen der Organisation und der Zusammenarbeit, nach Produktivität bei gleichzeitig erhöhter Eigenmotivation durch Selbstverantwortung.