Geschichte des frühen Christentums

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In Palästina entstand an der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. das 4. Buch Esra, das einen anderen Weg zur Bewältigung der Katastrophe einschlug: Die Zerstörung des Tempels wird hier in die grundsätzliche Verstricktheit des Menschen in die Schuld eingeordnet, die ein Grundelement des gegenwärtigen Zeitalters (Äons) sei. Dagegen stehe die Forderung nach Einhaltung der Gebote Gottes, die dem Einzelnen die Möglichkeit eröffne, das zu erreichen, was Gott in seinem erwählenden Handeln versprochen habe, nämlich das endzeitliche Heil. Der Fokus auf die individuelle Erlösung sowohl durch Gottes Gnadenhandeln als auch durch Einhaltung der Tora wurde über diese Schrift hinaus zu einem wichtigen Element des jüdischen Glaubens nach der Tempelzerstörung.

(Das Imperium und das judäische Volk / Fiscus Iudaicus)

In der Stadt Jerusalem wurde währenddessen die Legio X Fretensis stationiert und Judäa zu einer eigenständigen Provinz unter der Leitung des Legionskommandanten gemacht. Der römische Kaiser Vespasian sowie sein Sohn und Nachfolger Titus propagierten den Sieg über die Judäer durch eigene Münzprägungen, die u. a. dazu dienen sollten, andere Völker von Aufständen abzuschrecken. Auch der Triumphzug des Titus, der auf dem Titusbogen in Rom dargestellt ist, rückte die Unterwerfung der Judäer in die Mitte des öffentlichen Bewusstseins. Die Judäer wurden vonseiten des römischen Staates nun als Gesamtheit für den Aufstand verantwortlich gemacht, obwohl sich die Diaspora nicht daran beteiligt hatte. Es wurde eine Sonderabgabe, die ausschließlich Angehörige des judäischen Volkes zu zahlen hatten, der fiscus Iudaicus eingeführt (s. u. 3.7.2). Auch der JHWH-Tempel im ägyptischen Leontopolis wurde 71 n. Chr. geschlossen (Josephus, bell. 7,433–436).

3.5.3 Der zweite Aufstand (132–135 n. Chr.)

(Simon bar Kochba / Aelia Capitolina)

Der nach dem Anführer der Judäer benannte Bar-Kochba-Aufstand setzte im Jahr 132 n. Chr. ein. Als Anlass ist die Neugründung Jerusalems durch Kaiser Hadrian als Aelia Capitolina anzusehen. Diese war außerdem mit dem Bau eines Jupitertempels verbunden (Cassius Dio, hist. 69,12). Simon bar Kochba wurde zum Anführer des Aufstandes. Er wurde als Messias angesehen (yTaan 4,8 fol. 68d) und bezeichnete sich selbst als Fürst Israels (nasi). Über den Verlauf des Aufstands ist nicht viel bekannt. So ist unklar, ob die Aufständischen Jerusalem eroberten, den Tempelkult wieder begannen oder auch in Galiläa kämpften. Nach knapp vier Jahren wurde die Rebellion aber blutig niedergeschlagen. Die Bevölkerung wurde versklavt, die Städte der Region zerstört. Jerusalem wurde zur römischen Colonia Aelia Capitolina, Judäern das Betreten der Stadt verboten.

3.6 Das frühe rabbinische Judentum

(Rabbi)

Nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. sowie der Tötung bzw. Versklavung großer Teile der Bevölkerung musste sich das Judentum neu konstituieren. Nicht nur die letzten Reste politischer Selbstständigkeit, die bis zum ersten Aufstand durch das Synhedrion verwaltet worden waren, sondern vor allem die Orientierung am Jerusalemer Heiligtum mit seinem Kult war verloren gegangen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich daher u. a. aus der pharisäischen Gruppierung und den Schriftgelehrten eine neue Richtung innerhalb des Judentums, die nach den Titeln ihrer Lehrer („Rabbi“) als rabbinische Bewegung bezeichnet wird. Sie rückte statt des verlorenen Tempelkults die Tora in das Zentrum der jüdischen religiösen Identität. Deren Auslegung und Anwendung, vor allem hinsichtlich der Reinheits- und Speisevorschriften, sollte Israel zum heiligen Volk werden lassen.

(Die Rabbinerbewegung)

Obwohl die Überlieferungen in den rabbinischen Schriften (Mischna, Talmud, Tosefta, Midraschim) einen anderen Eindruck erwecken, war die rabbinische Bewegung nicht von Beginn an dominierend. Allerdings waren die Rabbinen dort, wo Fragen um judäische Identität und Grenzziehung zu anderen Formen des Judentums diskutiert wurden, offenbar von großem Einfluss. Hinter der polemischen Darstellung der Pharisäer und Schriftgelehrten in den Evangelien (v. a. Mt 23) lässt sich diese Konfrontation noch erahnen. Prägende Gestalten der frühen „formativen“ Phase der rabbinischen Bewegung waren Jochanan ben Zakkai, Gamaliel II., Aqiva und Jischmael. Das erste Zentrum war in Javne/Iamnia an der Mittelmeerküste, nach 135 n. Chr. im galiläischen Usha.

3.7 Das Diasporajudentum

Der weitaus größere Teil des judäischen Volkes lebte nicht in Palästina, sondern in der Diaspora („Zerstreuung“). Seit dem babylonischen Exil waren Judäer und Judäerinnen im Zweistromland präsent, mit der Hellenisierung sowie nach der römischen Eroberung Judäas durch Pompeius (63 v. Chr.) verbreitete sich das judäische Volk in weiten Bereichen des Mittelmeerraums. Dies setzte sich nach den beiden Aufständen weiter fort.

(Juden und Nicht-Juden)

Die Verhältnisbestimmung zur nicht-jüdischen Umgebung reichte von strengster Abgrenzung (Antagonismus) über die verbindende Aufnahme hellenistisch-römischer Kultur (Akkulturation) bis zur vollständigen Aufgabe judäischer Identität (Assimilation). Die Orientierung an Identitätsmerkmalen des Judentums wurde anhand unterschiedlich gewichteter Kriterien gestaltet. Dazu gehörten die Einhaltung des Sabbats und der Speise- bzw. Reinheitsgebote, die Beschneidung, die Beschränkung von Heirat auf Judäer und Judäerinnen (Endogamie), die Mitgliedschaft in lokalen Synagogen und die bilderlose Verehrung des einen Gottes (s. o. 3.1.4).

(Assimilation / Akkulturation / Antagonismus)

Ein Beispiel für vollständige Assimilation ist Tiberius Julius Alexander, ein Neffe Philos von Alexandrien. Er machte innerhalb des römischen Heeres Karriere und war u. a. Prokurator von Judäa (46–48 n. Chr.), Statthalter von Ägypten (66–69 n. Chr.) und an der Belagerung Jerusalems (70 n. Chr.) beteiligt. Sein Onkel Philo hingegen repräsentiert mit seiner philosophischen Durchdringung jüdischer Kultur sowie seinem politischen Kampf um eine Integration des Judentums in das griechische Bürgertum Alexandriens den Versuch, bei entschiedener Bewahrung judäischer Identität diese mit hellenistischer Bildung und Kultur zu verbinden (vgl. auch 4Makk). Die strenge Abgrenzung zur nicht-jüdischen Umgebung schließlich zeigte sich u. a. in sozialen Bereichen, etwa durch die Trennung von Nicht-Juden bei Mählern oder durch Endogamie. In Texten aus der Diaspora wie der Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), dem 3. Makkabäerbuch, den jüdischen Bestandteilen der sibyllinischen Orakel oder dem Bekehrungsroman „Joseph und Aseneth“ wurde dies literarisch ausgearbeitet, teils mit schärfster Polemik gegen andere Völker.

3.7.1 Lokale Entwicklungen in der Diaspora

(Judentum in Ägypten)

Geographisch lassen sich einige Regionen hervorheben, in denen judäische Minderheiten besonders stark vertreten waren: In Ägypten stellte das judäische Ethnos schon seit dem 6./5. Jh. v. Chr. eine auch zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungsgruppe dar, die in der frühen Kaiserzeit trotz ihrer Größe – Philo spricht von einer Million Judäern in Ägypten (Flacc. 43) – eine komplizierte gesellschaftliche Stellung innehatte. Seit den Ptolemäern waren die Judäer in sog. Politeuma organisiert, also in ethnisch strukturierten Einheiten mit begrenzter Selbstverwaltung, und galten als Bürger. In römischer Zeit verschlechterte sich diese soziale Stellung, da die Judäer zwischen der autochthonen Bevölkerung, den eigentlichen Ägyptern, und den Griechen und Römern standen. Die Spannungen führten zu Pogromen (38 n. Chr.) und zum Diasporaaufstand (115–117 n. Chr.; s. u. 3.7.3). In der Kyrenaika (Nordafrika) bestand ein weiteres Zentrum des Diasporajudentums mit ähnlichen Bedingungen wie in Ägypten.

(Judentum in Syrien)

In Syrien mit seiner Hauptstadt Antiochien blieben Judäer seit frühhellenistischer Zeit weitgehend unbehelligt. Josephus berichtet sogar von einer besonderen Attraktivität des Judentums in dieser Region (bell. 7,45). Diese ruhige Lage wurde durch den ersten Aufstand in Judäa kurzzeitig unterbrochen (bell. 7,46–62), konnte aber anschließend wiederhergestellt werden.

(Judentum in Kleinasien und Griechenland)

In Kleinasien und Griechenland galt dies noch viel mehr: Das Verhältnis zwischen den judäischen Minderheiten und der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung war, abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten über die Tempelabgaben, unproblematisch. Es wurde zusätzlich durch rechtliche Regelungen der Römer abgesichert (ant. 14,185–267; 16,160–178). Das ökonomische Aufblühen Kleinasiens durch die Pax Romana trug dazu bei, etwaige Spannungen abflauen zu lassen. Weder die beiden Aufstände in Judäa noch jener in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde von den judäischen Gemeinden Syriens, Kleinasiens oder Griechenlands unterstützt.

(Judentum in Rom)

Wie alle anderen Völker des Mittelmeerraums stellten auch die Judäer eine Minderheit in der Bevölkerung der Stadt Rom. Spätestens im 1. Jh. v. Chr. konnten die Judäer politisch nicht mehr vernachlässigt werden (vgl. Cicero, Flacc. 66–69). Die Zahl der Judäer in Rom steigerte sich nach der Eroberung Judäas (69 v. Chr.) auf 20.000–30.000 Personen. Ihre Vereinigungen (collegia) waren ausdrücklich erlaubt (Josephus, ant. 14,213–216). Aus Inschriften lassen sich wenigstens elf Synagogen belegen. Durch römische Schriftsteller wie Ovid, Horaz, Petronius, Juvenal oder Tacitus wird deutlich, dass die Besonderheit judäischer Identität in Rom auffiel. Die Arbeitsruhe am Sabbat, die Beschneidung und die Speisegesetze, vor allem die Vermeidung von Schweinefleisch, wurden verspottet. Zugleich wurde die Übernahme judäischer Kultur und Religion durch Nicht-Juden als Verrat am Vaterland gewertet (Tacitus, hist. 5,5; Juvenal, Satiren 14,96–104). In der Zeit nach Augustus, der aufgrund seiner Verbindung mit Herodes auch die Judäer in Rom geschützt hatte, kam es deshalb zu Vertreibungen von Judäern: 19 n. Chr. durch Tiberius (Josephus, ant. 18,65–84; Tacitus, ann. 2,85) und 49 n. Chr. durch Claudius (Apg 18,2; Sueton, Claud. 25,4; s. u. S. 86). Deren Wirkung dauerte allerdings nicht lange an. Der erste Aufstand hatte abgesehen von der Abgabenverpflichtung (fiscus Iudaicus; s. u. 3.7.2) keine besonderen Folgen für die Judäer in Rom, vielmehr blieben sie auch in den folgenden Jahrhunderten unbehelligt.

 

(Keine erlaubte Religion)

Eine reichsweite rechtliche Anerkennung des Judentums durch die Römer als religio licita („erlaubte Religion“) ist allerdings eine wissenschaftliche Fiktion. Sie basiert auf einer Formulierung des Kirchenvaters Tertullian (apol. 21,1), hat aber keinerlei Basis im römischen Recht. Vielmehr zeigen Josephus und andere Autoren, dass lediglich aufgrund von einzelnen Vorkommnissen bzw. Beschwerden die Stellung von judäischen Minderheiten in bestimmten Gebieten zeitweise von den römischen Kaisern abgesichert wurde. Dies basierte allerdings auf der grundsätzlich permissiven römischen Einstellung gegenüber fremden Kulten: Solange diese die römischen Traditionen nicht in Frage stellten oder zu Unruhen führten, konnten die Völker des Imperium Romanum ihre althergebrachten religiösen Formen selbstverständlich beibehalten. Eine formale Anerkennung oder gar Erlaubnis des Judentums als Religion gab es hingegen nicht.

3.7.2 Tempelabgabe und fiscus Iudaicus

(Tempelabgabe vor 70 n. Chr.)

Jeder männliche Judäer zwischen 20 und 50 Jahren war seit späthellenistischer Zeit durch die Tora dazu verpflichtet, eine Abgabe von zwei Denaren pro Jahr an den Jerusalemer Tempel zu leisten (vgl. Ex 30,11–16; Philo, spec. leg. 1,76–78). Diese Abgabe wurde von den lokalen Synagogen eingesammelt und nach Jerusalem gebracht (vgl. Cicero, Flacc. 28,67–69; Josephus, ant. 16,28). Sie diente u. a. dazu, das tägliche Opfer zugunsten des Kaisers zu finanzieren, war also ein Akt der Loyalität gegenüber der römischen Herrschaft und Ersatz für den Kaiserkult. Auch darüber hinaus war die Tempelabgabe eine wesentliche Einkunftsquelle für den Tempel und Jerusalem.

(Fiscus Iudaicus)

Nach dem Ende des ersten Aufstandes in Judäa und der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) verpflichtete Kaiser Vespasian alle Angehörigen des judäischen Volkes, auch Frauen und Kinder sowie Sklaven und Sklavinnen, zu einer Kopfsteuer (Josephus, bell. 7,218). Sie war dem Wiederaufbau des Jupitertempels am Kapitol in Rom gewidmet. Domitian verschärfte die Eintreibung der Steuer (Sueton, Dom. 12,2), während sein Nachfolger Nerva Missstände beendete (Cassius Dio, hist. 68,1,2). Die Abgabe wurde aber bis in das 3. Jh. n. Chr. weiter erhoben. Für die Identitätsbildung des antiken Judentums war der fiscus Iudaicus trotz der Belastung ein wichtiger Faktor. Die Zugehörigkeit zum Judentum war damit nämlich auch zu einer staatlichen Angelegenheit geworden, die in zweifelhaften Fällen eine Entscheidung verlangte. Dies betraf Proselyten, Gottesfürchtige und jüdische Christusgläubige gleichermaßen (s. u. S. 290).

3.7.3 Die Aufstände in der Diaspora (115–117 n. Chr.)

(Diasporaaufstände)

Trajans Vordringen nach Osten bis an den Persischen Golf, während dem die Parther 115/116 n. Chr. besiegt wurden, bot Diasporajudäern in Ägypten und der Kyrenaika und in der weiteren Folge auch auf Zypern und in Mesopotamien die Gelegenheit, Aufstände gegen die griechisch-römische Bevölkerung zu beginnen (vgl. Cassius Dio, hist. 68,32,1–3; Euseb, h. e. 4,2,1–5). Cassius berichtet von Massenmorden durch Judäer, die nach der Niederschlagung der Aufstände durch römische Truppen zu blutiger Rache führten. Das Diasporajudentum in Ägypten, der Kyrenaika und auf Zypern wurde 117 n. Chr. so gut wie ausgelöscht. Das hatte sicherlich auch Folgen für Christusgläubige, die entweder selbst judäischer Herkunft waren oder als Judäer betrachtet wurden. Unser mangelndes Wissen über die frühe Entstehung des Christentums in Nordafrika ist vor allem auf diesen radikalen Schnitt zurückzuführen.

3.7.4 Die Septuaginta

(Septuaginta)

Zwischen 250 und 100 v. Chr. entstand vor allem in Ägypten die Septuaginta (LXX), die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Der Aristeasbrief beschreibt dies als Unternehmen des Königs Ptolemaios II., was bezweifelt werden kann. An der LXX lässt sich exemplarisch erkennen, wie wichtig griechische Kultur und Bildung für die in Alexandria und anderen Städten des hellenistischen Kulturraums wohnhaften Judäer war. Die heiligen Schriften wurden in der Diaspora nur noch in dieser Form gelesen und ausgelegt. So sind von dem hellenistisch-jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.–50 n. Chr.) zahlreiche exegetische Werke erhalten, in denen er die LXX mit den Methoden der sog. alexandrinischen Schule auslegte. Aber auch Flavius Josephus und den neutestamentlichen Autoren galt die LXX als die Heilige Schrift.

3.7.5 Synagogen

(Die Bezeichnung Synagoge / Die Bezeichnung Proseuche / Die religiöse Funktion der Diasporasynagogen)

Zu den wesentlichen Errungenschaften des Diasporajudentums gehörte die Entwicklung der Synagoge als landsmannschaftlicher Vereinigung ab dem 3. Jh. v. Chr. (s. o. 2.2.3.3). Die Bezeichnung συναγωγή/synagōgē („Zusammenkunft“), die auch von nicht-jüdischen Gruppierungen verwendet wurde, konnte sowohl für die Personengemeinschaft als auch für deren Versammlungsgebäude verwendet werden. Die Synagoge, die auch als προσευχή/proseuchē („Gebetsstätte“; vgl. Apg 16,13) bezeichnet wurde, versammelte Mitglieder der judäischen Diaspora einer Stadt, wobei bei einer größeren Zahl an Judäern auch mehrere Synagogen an einem Ort möglich waren, z. B. in Damaskus (Apg 9,2), Salamis (Apg 13,5) oder Rom (s. o. S. 75). Die Treffen am Sabbat oder zu Festzeiten, deren genaue Rekonstruktion für das 1. Jh. n. Chr. unsicher bleiben muss, waren neben den Feiern in den Haushalten wesentliche Elemente des religiösen Lebens in der Diaspora. Zu ihnen gehörten die Lesung und Auslegung der Schrift, Gebete und Psalmen, Räucheropfer sowie gemeinsame Mahlzeiten (vgl. nur Lk 4,16; Apg 13,15; 15,21). Frauen nahmen an diesen Feiern ebenfalls teil (Lk 13,10–17; Apg 16,13; Josephus, ant. 14,260). Je nach ihrem lokalen Status waren Synagogen bzw. Politeuma (s. o. S. 75) auch berechtigt, interne Rechtsfragen zu entscheiden und Strafen zu vollziehen (2Kor 11,24). Die Leitung der Synagogen durch Vorsteher (άρχισυνάγωγος/archisynagōgos) sowie die Mitwirkung von Ältesten (πρεσβύτερος/presbyteros) und anderen Funktionären geschah analog zu paganen Vereinigungen. Auch Frauen trugen diese Titel.

(Synagogen in Palästina)

Auch in Palästina entstanden ab dem 1. Jh. v. Chr. Synagogen, deren Funktion allerdings deutlich weiter zu denken ist. Sie waren nicht nur Orte religiöser Feiern, sondern darüber hinaus Versammlungsräume der Bevölkerung. In Jerusalem bestanden zur Zeit des Zweiten Tempels keine Synagogen, mit Ausnahme jener, die von Diasporajudäern betrieben wurden (Apg 6,9), wie die Synagoge des Theodotos (CIJ II 1404).

3.8 Proselyten und Gottesfürchtige

Das antike Judentum, zum Teil in Palästina, vor allem aber in der Diaspora, hatte für einzelne Nicht-Juden eine gewisse Attraktivität. Die teilweise oder vollständige Übernahme jüdischer Religion und Kultur, das wird aus literarischen und inschriftlichen Quellen deutlich, war offenbar vor allem für gebildete Mitglieder der Eliten interessant. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem seltenen Fall des vollen Übertritts und anderen Formen der Annäherung.

(Proselyten)

Als Proselyten werden in der LXX Fremde bezeichnet, die im Land Israel wohnen (hebr. gēr; z. B. Ex 20,10; Lev 17; Num 15,14–16; Dtn 31,12). Während im hebr. Sprachgebrauch keine religiöse Bedeutung im eigentlichen Sinn zu erkennen ist, ist das in der LXX bereits verändert, da sich in der Diaspora auch Nicht-Juden dem Volk Israel anschlossen. Zahlreiche Texte, wie der Roman „Joseph und Aseneth“ oder Ausführungen bei Philo und Josephus, beschreiben solche Konversionen. Proselyten unterwarfen sich der Tora, verehrten ausschließlich den Gott Israels und wurden Mitglieder der Synagoge (vgl. Jdt 14,10; Tacitus, hist. 5,5,2). Für Männer schloss dies die Beschneidung ein. Obwohl Proselyten nach Rechten und Pflichten als Teil des judäischen Volkes galten, war ihr Status nicht dem geborener Judäer gleich. In Qumran galten sie als die geringste Gruppe der Israeliten (CD 14,3–6). Auch Philo konnte trotz allen Lobes für den Mut zur Konversion (virt. 216–219) auch distanzierende Töne anschlagen (vit. Mos. 1,147), und die rabbinischen Texte zeigen eine hochambivalente Haltung.

(Helena und Izates von Adiabene)

Von einem illustrativen Beispiel zwischen Sympathie und Konversion berichtet Josephus (ant. 20,17–53): Königin Helena von Adiabene am Tigris und ihr Sohn Izates waren so sehr dem Judentum zugeneigt, dass sich Izates eigentlich beschneiden lassen wollte. Das sei aber zunächst unterlassen worden, und sogar sein judäischer Lehrer Ananias habe dies befürwortet (20,38–42). Man könne Gott, so formuliert Josephus die Worte des Ananias, „auch ohne Beschneidung verehren“ (20,42). Später habe sich Izates allerdings doch noch beschneiden lassen, nachdem ihn nämlich ein anderer Judäer darüber belehrt habe, dass nur derjenige Gott wirklich verehre, der das ganze Gesetz einhalte. Dazu gehöre eben auch das Gebot der Beschneidung (20,43–48). Diese Geschichte, auch wenn sie von Josephus stilisiert erzählt wird, zeigt recht deutlich, dass die Frage nach dem Heil für Nicht-Juden im Judentum unterschiedlich beantwortet wurde.

(Sympathisanten des Judentums)

In der Apostelgeschichte verwendet Lukas für die Sympathisanten und Sympathisantinnen die Bezeichnungen „Gottesfürchtige“ (φοβούμενοι τὸν θεόν/phoboumenoi ton theon: Apg 10,2.22; 13,16.26) bzw. „Gottesverehrer“ (σεβόμενοι τὸν θεόν/sebomenoi ton theon: Apg 16,14; 18,7). Sie begegnen auch in späterer Zeit für Personen, die in einer mehr oder weniger ausgeprägten Art und Weise die Kultur der Judäer bzw. das Judentum schätzen (s. u.). Für sie war die intellektuelle und wortzentrierte Verehrung eines einzigen Gottes ein attraktives Gegenstück zu den paganen Kulten und dem damit verbundenen praktizierten Polytheismus. Hinzu kamen Lebensregeln wie die Zehn Gebote, die antiken Tugenden durchaus entsprachen. Und schließlich sind die – im Vergleich zu paganen Opferkulten – geradezu asketischen Feste der jüdischen Synagogen zu nennen, die auf Nicht-Juden einen gesitteten Eindruck machten.

(Formen der Sympathie für das Judentum)

Eine geringere Nähe, aber doch Sympathie oder Unterstützung wird vor allem durch Inschriften deutlich, die zeigen, dass auch Nicht-Juden die Interessen einer lokalen Synagoge förderten. Wie sehr dahinter eine inhaltliche Begeisterung für judäische Religion und Kultur stand, lässt sich selten bestimmen. So ehrten ein judäisches Politeuma in der Kyrenaika in Nordafrika einen Förderer namens M. Tittius (ca. 24 n. Chr.; CJZC 71) und möglicherweise eine Synagoge in Phrygien die Priesterin des Kaiserkults Julia Severa für die Stiftung eines Gebäudes (um 100 n. Chr.; IJO II 168). Aus dem 4. Jh. n. Chr. stammt eine Inschrift, die 54 Gottesfürchtige nennt, zusammen mit 68 Judäern und 3 Proselyten (Aphrodisias, IJO II 14). Nach Lk 7,5 erbaute der Hauptmann von Kapernaum aus Liebe zum judäischen Volk die lokale Synagoge. Bei Josephus finden sich einige Belege für diese Faszination an judäischer Kultur und Religion im syrischen Raum: So hätten sich in Damaskus fast alle Frauen dem Judentum angeschlossen (bell. 2,560), und in Antiochien seien zahlreiche Griechen so etwas wie ein Teil der Synagoge geworden (bell. 7,45). Josephus bezeichnet auch Poppaea Sabina, die Ehefrau von Kaiser Nero, als eine Frau, die Gott verehrte (ant. 20,195; vgl. 20,252).

(keine jüdische Mission)

Im Hintergrund dieser verschiedenen Formen von Unterstützung, teilweiser Übernahme judäischer Kultur oder Konversion stand jedoch kein aktives Werben des Judentums um Konvertiten. Ein missionarisches Bemühen, das als Analogie zur frühchristlichen Verkündigung des Evangeliums verstanden werden könnte, gab es nicht. Allerdings war das Judentum auch keine Mysterienreligion. Judäer legten in unterschiedlichem Ausmaß ihre Traditionen offen, oft zur Abgrenzung, aber auch im Bemühen um Verständnis. Die Aussage in Mt 23,15, wonach Pharisäer und Schriftgelehrte über Land und Meer gingen, um einen Proselyten zu gewinnen, nimmt dies polemisch auf. Es handelte sich aber mehr um Werbung durch gelebten Glauben, der in der frühen Kaiserzeit durchaus anschlussfähig war.

 

Literatur

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