Gespräche jenseits der Zeit

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Ihr Gesprächspartner sei damals ein europaweit anerkannter Philosoph, Aufklärer und Rektor der Universität Königsberg gewesen. Deshalb sei für Ihn klar gewesen, dass wahre Philosophie nur von Universitätsprofessoren gedacht und formuliert werden könne. Zudem habe sie kompliziert zu sein und dürfe erst mit deutlicher Verzögerung von der Öffentlichkeit verstanden und diskutiert werden.53 Dieser Linsenschleifer Baruch de Spinoza aus den Niederlanden des vorhergehenden Jahrhunderts habe Werke geschrieben, die sofort Skandale auslösten und zensuriert worden seien. Dies alles habe nicht in sein damaliges Bild eines menschheitsverbessernden Philosophen gepasst, der eine Gesellschaft in Ruhe und Frieden moralisch weiter bringen wollte. Doch der Friede und die Ruhe sei auch bei ihm schon bald durch die Ereignisse rund um die Französische Revolution gestört worden. In Preussen seien die Ideen der Aufklärung nun kritischer betrachtet worden und die Zensur sei verschärft worden. Seine geruhsame Gelehrtenwelt sei dadurch ins Wanken geraten und er habe feststellen müssen, dass obwohl erst noch von König Friedrich Wilhelm II als Rektor der Universität geehrt, auch er die politische Neuausrichtung des Monarchen zu spüren bekam. Die Neubesetzung des preussischen Kultusministeriums habe den Kampf gegen alle Aufklärer bedeutet. Gewisse Zensoren hätten sogar gewünscht, seine Publikationen zu untersagen.54 Um das Erscheinen seiner Werke trotzdem zu ermöglichen, habe er jeweils versucht eine Approbation für sie bei einer theologischen Fakultät einzuholen. Dies sei nicht einfach gewesen, da seine Werke immer kritischer gegenüber der Kirchenpolitik Preussens wurden. Und so kam es, dass auch er in hohem Alter fast zu einem Rebellen wurde, wie Spinoza zu seiner Zeit.

Wie er es persönlich mit der vermutlich ältesten Tradition der Menschheit – der Religion – hätte, fragen Sie ihn. Er erklärt Ihnen, dass er zu seiner Erdenzeit der Meinung gewesen sei, dass es eigentlich nur eine wahre Religion gäbe, welche innerlich und verborgen sei und sich in der moralischen Gesinnung eines Menschen ausdrücke: eine natürliche, allgemeine Weltreligion. Dieser zu folgen sei der wahre Gottesdienst. Alles, was ausser dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, sei blosser Religionswahn und Afterdienst Gottes. Die religiösen Zelebrierungen, der Ritus und der historische Glaube seien dazu da, den Menschen zum praktischen und moralischen Vernunftglauben zu führen. Er ergänzt: „Zur Festigkeit des Glaubens gehört das Bewusstsein seiner Unveränderlichkeit. Nun kann ich völlig gewiss sein, dass mir niemand den Satz: ‚Es ist ein Gott‘, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen? Also ist es mit dem Vernunftglauben nicht so, wie mit dem historischen bewandt, bei dem es immer noch möglich ist, dass Beweise zum Gegenteil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muss, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntnis der Sachen erweitern sollte.“55

Sie stellen fest, dass der Philosoph mit dem Konstrukt eines Vernunftglaubens einen Glauben, der unabhängig von der Geschichte ist, schaffen will. Einen Glauben, der dadurch angeblich unveränderlich gemacht werden kann. Als Gegensatz nennt der Philosoph den historischen Glauben, der in der Geschichte entstand und sich in der Geschichte der Menschheit artikuliert hat. Sie fragen ihn, warum religiöse Zelebrierungen und historischer Glaube – ja Religion allgemein – nicht auch einen anderen Sinn haben könnten, als den praktischen und moralischen Vernunftglauben. Und überhaupt sei der Begriff „Moral“ zu Ihrer Erdenzeit oft eher negativ und beengend wahrgenommen worden.

Man müsse mit dem Begriff „Religion“ vorsichtig umgehen, meint er. Das was der gemeine Mann unter Religion verstehe – Judentum, Islam, Katholizismus oder Protestantismus etc. – sei als verschiedene Arten von Glauben zu verstehen, nicht als unterschiedliche Religionen. Diese verschiedenen Glauben seien historischer Art und sehr konfliktanfällig. Bei Religionsstreitigkeiten und –kriegen ginge es in erster Linie immer um diesen sogenannten Kirchenglauben – den historischen Glauben.

Aber er verstehe Ihren Einwand und meint ergänzend, dass der historische Glaube zwar nie gegenüber dem Vernunftglauben überhand nehmen dürfe, ihn zu vertilgen aber auch nicht ratsam sei, „weil dadurch vielleicht dem Staate noch gefährlicher Atheism hätte entstehen können.“56 Der historische Glaube, der zwar manchmal den Hang zum Aberglauben habe, sei wichtig für das gemeine Volk. Es müsse aber klar zwischen Vernunftglauben und historischem Kirchenglauben unterschieden werden. Der Vernunftglaube beinhalte den guten Lebenswandel des Menschen und müsse allen Menschen durch ihre eigene Vernunft klar und überzeugend vorgelegt werden können. Er bedürfe keiner persönlichen Erfahrungsbestätigung oder Offenbarung. Jeder Mensch könne aus sich selbst, durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der der vollständigen Religion zum Grunde liegt, erkennen.

„Denn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewusstsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen ganzen, in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekten verschaffen kann. Der Begriff eines nach bloss rein moralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist.“57

Sie stellen fest, dass Ihr Gesprächspartner zu seiner Erdenzeit aus rein moralischen Gründen eine höhere Macht – also Gott – annahm. Für ihn hatten die wahre Religion und der Gottglauben seinen Ursprung im moralischen Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Für ihren Gesprächspartner würde es ohne Moral keine wahre Religion und keinen wahren Gottglauben geben. Zudem merken Sie, dass die Geschichte – der historische Glaube, wie er es nennt – von Ihrem Gesprächspartner als zweitrangig betrachtet wird. Das was für ihn zählt, ist die Vernunft: „Der reine Vernunftglaube dagegen bedarf einer solchen [historischen, MJ] Beurkundung nicht, sondern beweiset sich selbst.“58„Es mag mit der Geschichte stehen wie es wolle, denn in der Idee selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme und die freilich keine andere als reine Vernunftlehren werden sein können.“59 Er bezeichnet somit die Idee als wichtiger als die Geschichte. Was in Ihnen wiederum die Frage aufwirft, ob der Glanzpunkt der theologischen Wissenschaft – die moderne historisch-kritische Methode der Bibelauslegung60 – im Sinn Ihres Gesprächspartners als aufklärerisch bezeichnet werden kann? Er wisse zwar nicht genau, was diese historisch-kritische Methode beinhalte, aber grundsätzlich sei es wichtig, das Wesen der Religion historisch und kritisch zu beurteilen. Denn nur so könne der kirchliche Aberglaube vom Vernunftglauben klar getrennt werden. Bei der Beurteilung der Bibel müsse aber aufgepasst werden. Der Mann verblüfft Sie, als er plötzlich die Bibel zu zitieren beginnt – natürlich in Verbindung mit seiner Morallehre: „‘Nicht, die das sagen: Herr, Herr! Sondern die den Willen Gottes tun‘; mithin die nicht durch Hochpreisungen desselben (oder seines Gesandten, als eines Wesens von göttlicher Abkunft) nach geoffenbarten Begriffen, die nicht jeder Mensch haben kann, sondern durch den guten Lebenswandel, in Ansehung dessen jeder seinen Willen weiss, ihm wohlgefällig zu werden suchen, werden diejenigen sein, die ihm die wahre Verehrung, die er verlangt, leisten.“61

Sie wollen mehr wissen von seinem Verhältnis zur Bibel. Er erklärt Ihnen, dass kein auf die Bibel begründeter Glaube, selbst durch die verwüstendsten Staatsrevolutionen habe vertilgt werden können; „indessen dass der, so sich auf Tradition und alte öffentliche Observanzen gründete, in der Zerrüttung des Staats zugleich seinen Untergang fand. Glücklich! Wenn ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch, neben seinen Statuten als Glaubensgesetzen, zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält.“62

Sie sind sehr erstaunt: Der vor Ihnen stehende Aufklärer bezeichnet die Bibel nicht nur als Sammlung antiker Texte, sondern als reinste moralische Religionslehre und Grundlage eines unerschütterlichen Glaubens. Seine Lobrede auf die Heilige Schrift geht noch weiter: „Das Entstehen der Bibel als eines Volksbuchs ist die größte Wohlthat die dem menschlichen Geschlechte je wiederfahren ist. Ein jeder Versuch sie geringschätzig zu machen oder sie mit den Theophilanthropen63 gantz eingehen zu lassen ist Frevel an der Menschheit und wenn es ja Wunder geben soll so ist dieses Buch in welchem die Wundererzählungen nur zur historischen Bestätigung dessen was Religion durch die Vernunft gebietet beyläufig vorkommen das größte Wunder selbst nämlich ein ohne griechische Weisheit von Layen zusammengetragenes System von Religions- und Glaubenslehren welches mehr als irgend eines Wirkung aufs menschliche Herz zur moralischen Besserung desselben ausgeübt hat.“64

Man kann die Bibel also doch begeistert lesen und gleichzeitig die Ideen der Aufklärung gutheissen. Bibel und Aufklärung schliessen sich also nicht aus. Im Gegenteil, erklärt Ihnen der Mann, solange Aufklärung in der Welt bliebe, werde es nie ein für das Volk in Sachen der Religion „schicklicheres und kräftigeres“ Buch geben als die Bibel. Denn einem anderen aufklärerischen Buch würde „die Salbung der Geschichte“ fehlen und es könnte – aus aufklärerischen Gründen – nicht auf Wunder zurückgreifen. Das wiederum hätte zur Folge, dass es nie ein solches Ansehen erhalten würde wie die Bibel. „Die mosaische und christliche Religion wird nie aufhören als bis die Welt hierüber zur Einheit der Begriffe und der ihnen gemäßen Grundsätze der moralisch-practischen Vernunft unabänderlich wird gelanget seyn welches das Reich Gottes auf Erden seyn wird. Was man Erbauung nennt – nämlich das Gefühl der Erweckung zum besseren innern u. äussern Lebenswandel ist in ihr in der grössten Vollkommenheit anzutreffen die Bibel ist also das beste Organ desselben.“65

 

Sie fragen ihn, welchem Glauben er persönlich nahe gestanden habe: Er schaut Sie an und gibt zögernd Antwort: Er sei in einem frommen Hause aufgewachsen. Seine Eltern, vor allem seine Mutter, seien engagierte Kirchenmitglieder gewesen und hätten ihren Kindern eine gute Kindheit ermöglicht. Sie gehörten in Königsberg einer Kirchenfraktion an, die gesellschaftlich eher auf Ablehnung stiess.66 Dies und die Handwerker-Herkunft seiner Familie hätten ihn schon früh gelehrt, unabhängig vom Urteil anderer ein eigenes Denken zu entwickeln.67 Ausserdem habe es damals in Königsberg verschiedene andere Glaubensrichtungen gegeben. Zum Beispiel die Täufer, auch Mennoniten genannt, die über 100 Jahre vor seiner Zeit aus den Niederlanden nach Preussen geflohen seien. Diese hätten übrigens den besten Likör der ganzen Stadt gebrannt,68 auch Danziger Goldwasser genannt.69 Einfach herrlich. Der Whiskey sei von allen – inklusive ihm – sehr geschätzt geworden. Die Mennoniten seien nach einem ihrer Lehrer, Menno Simons, benannt worden. Sie seien Teil der Reformationsbewegung gewesen, welche grossen Wert auf die sogenannte Bergpredigt im Neuen Testament und die Orthopraxie gelegt hätten – also den ethisch gelebten Glauben und weniger auf die Orthodoxie – die Dogmatik. Dies habe ihn stets beeindruckt und an seine Idee der ethischen Vernunftreligion erinnert. Allerdings habe er den Geschichts- und Wunderglauben negativer interpretiert70 als Menno Simons.71

Königsberg sei eine kosmopolitische Stadt und eine wichtige Universitätsstadt gewesen, die er äusserst ungern gegen das Provinziantentum anderer deutscher Städte – wie beispielsweise Berlin oder Halle – habe eintauschen wollen. Zudem sei Königsberg während seiner Erdenzeit für fünf Jahre eine russische Stadt geworden.72 Dies sei eine spannende Zeit gewesen. Die Russen seien den Königsbergern sehr gutgesinnt gewesen und Königsberg habe von der Zeit unter dem Zar sehr profitiert. Übrigens sei die Stadt Königsberg in seinem Geburtsjahr durch den Zusammenschluss der Ortschaften Altstadt, Löbenicht und Kneiphof durch König Friedrich Wilhelm gegründet worden.73 Vielleicht sei er deshalb Zeit seines Lebens der Stadt am Pregel treu geblieben. Er habe diese grosse, weite Königsberger Welt von klein auf gekannt und schätzen gelernt. Mit der organisierten Religion habe er leider in seinen Jugendjahren sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Das Kollegium, das er besuchte, sei von sehr strengen Pietisten74 geführt worden, welche sie gezwungen hätten, jeden Tag an Andachtsgottesdiensten teilzunehmen und die einem sehr wenig Freiheit beim Lernen zugestanden hätten. Er und seine Mitschüler seien von morgens bis abends, Montag bis Samstag, voll eingespannt gewesen. Obwohl er persönlich nie atheistisch gesinnt gewesen sei, habe er je länger, je mehr nichts mehr mit dem pietistischen Glauben anfangen können. Wenn man mal den Goût des philosophischen Denkens geschmeckt habe, könne man nicht mehr zurück zu den pietistischen Glaubensvorstellungen. In einem selbst gedichteten Nachruf auf den Königsberger Theologen Lilienthal habe er geschrieben: „Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, des sind wir nur gewiss. Dem kann, wie Lilienthal, kein Tod die Hoffnung rauben, der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.“75

Zudem habe er am Ende seines Lebens die kirchliche Machtpolitik in Preussen zu spüren bekommen. Dies habe ihm klar gezeigt, dass die wahre Kirche nicht die preussische Staatskirche sein könne. Deshalb habe er in einer seiner letzten Schriften in Anlehnung an die Worte Jesu in den Evangelien76 geschrieben: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und an ihren Satzungen liege, dass Menschen verloren werden, sondern dass das Gehen in dieselbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Zelebrierung ihrer Gebräuche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient sein will.“77

Sie wollen von ihm wissen, was denn die wahre Kirche für ihn ausmache. Er erklärt Ihnen, die wahre Kirche müsse eine Einheit sein, welche zwar unterschiedliche Meinungen zulasse, aber in Ansehung der wesentlichen Absicht auf Grundsätzen errichtet sei, welche notwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen. Zudem müsse sie gereinigt sein vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei. Ihre einzige Triebfeder müsse das Moralische sein. Sie müsse als ein ethisches gemeines Wesen, als Repräsentantin eines Staates Gottes betrachtet werden. Sie solle weder monarchisch (unter einem Papst oder Patriarchen), noch aristokratisch (unter Bischöfen und Prälaten), noch demokratisch (als sektiererische Illuminaten) organisiert sein. „Sie würde noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie), unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können, sofern sein heiliger Sohn, der seinen Willen weiss, und zugleich mit allen ihren Gliedern in Blutsverwandtschaft steht, die Stelle desselben darin vertritt, dass er seinen Willen diesen näher bekannt macht, welche daher in ihm den Vater ehren, und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten.“78

Sie fragen nochmals, warum er sich so auf das Moralische fixiere. Gott und Religion könnten doch mehr sein als nur Moral und guter Lebenswandel. Er würde Ihre Frage in der neuen Welt anders beantworten, sagt er. Aber zu seiner Erdenzeit sei er überzeugt gewesen, dass es eine übersinnliche Ordnung gebe und die Natur ihren verborgenen Plan umsetze, indem sich die Menschheit moralisch weiterentwickle. Der Fortschrittsglaube sei eben eine wichtige Vorstellung der Aufklärung gewesen. Und er sei davon überzeugt gewesen, dass Fortschritt nur durch die moralische Entwicklung der Menschheit erreicht werden könne. Denn solange die Menschen in einer geschichtlichen Welt lebten, würden sie danach fragen, wie sie leben sollen, um der übersinnlichen, zeitlosen, natürlichen Ordnung zu entsprechen.

In der neuen Welt habe er aber festgestellt, dass die Moral tatsächlich nicht der einzige Grund für Gott und das Leben sei. Er sei nun froh, in dieser neuen Welt zu sein, wo er alles viel klarer erkenne. Wenn er diese Klarheit schon zu Erdenzeit gehabt hätte, hätte er seine Schriften klarer und wahrer formulieren können. Dies hätte ihm in der neuen Welt eine Menge Ärger erspart. Denn die Anzahl derer, die durch seine komplizierten Schriften zu Erdenzeiten gequält wurden, sei viel zu gross.

Sie fragen ihn, ob sein grosses Interesse an der Moral durch Begegnungen mit jüdischen Freunden entstanden sei. Im Judentum seien doch die Gesetze und der Lebenswandel so zentral. Der Mann schaut Sie erstaunt an und meint, er habe zwar einige jüdische Freunde gehabt und zahlreiche jüdische Studierende unterrichtet,79 aber er habe zu seiner Erdenzeit das Judentum als „den Inbegriff bloss statuarischer Gesetze“ betrachtet und behauptet, dass das Judentum „eigentlich gar keine Religion, sondern bloss Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter blossen politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten.“80 Er sei der Meinung gewesen, dass die jüdischen Zwangsgesetze bloss die äussere Handlung des Menschen betroffen hätten, jedoch gar nichts mit seiner Forderung nach moralischer Gesinnung zu tun gehabt hätten. Zudem habe er bemängelt, dass die jüdische Religion keinen Glauben an ein künftiges Leben beinhalten würde und man deshalb nicht von einem eigentlichen Religionsglauben sprechen könne. Denn das Fehlen der jenseitigen Dimension des Lebens führe dazu, dass die Menschen sich nur an die Gesetze hielten, weil sie sich eine Belohnung im Diesseits erhofften, statt aus reiner moralischer Gesinnung die Gesetze zu befolgen. Deshalb habe er gefolgert, dass der christliche Kirchenglaube – abgesehen von der Geschichte – nichts mit dem jüdischen Glauben gemeinsam habe. Zu unterschiedlich seien die beiden Konzepte. Das Christentum sei „eine völlige Verlassung des Judentums“. Allerdings, ergänzt er noch, habe er auch geschrieben, dass das Judentum zur Zeit der Entstehung des Christentums nicht mehr das unvermengte, altväterliche Judentum gewesen sei, sondern „schon viel fremde (griechische) Weisheit“ enthalten habe.81

Sie sind erstaunt, wie ein so gelehrter Mann das Judentum – eine der ältesten noch zu Ihrer Erdenzeit praktizierten Religionen – als keine eigentliche Religion bezeichnen kann, noch dazu behauptet, dass das Judentum keinen moralischen Anspruch an die Lebensführung der Menschen habe. Das Argument des fehlenden Jenseits-Glaubens verblüfft Sie. Denn zu Ihrer Erdenzeit kritisierten die Aufklärer die Religionen, weil diese sich angeblich ausschliesslich für die jenseitige Dimension interessieren würden und der diesseitigen Welt zu wenig Beachtung schenken würden.

Um Ihre Vermutung zu bestätigen, wollen Sie ihn noch nach seinem Namen fragen. Doch der „König von Königsberg“82 ist schon weg. Es bleibt Ihnen keine Zeit, ihm zu sagen, dass er der Retter des Königsberger Doms gewesen sei: Denn aufgrund seiner Grabstätte, welche an der Nordseite des Doms angebracht worden war, wurde das Gotteshaus vor der Zerstörungswut der aufgeklärten sowjetischen Besatzer verschont. Im Gegensatz zum alten Königsberger Schloss und der Altstadt, welche im Krieg und danach dem Erdboden gleichgemacht wurden.

10 Uwe Schultz, Immanuel Kant : mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 25. Aufl, Rowohlts Monographien (Reinbek b.Hamburg: Rowohlt, 2001), 44–49.

11 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, [Nachdr.], Reclams Universal-Bibliothek (Stuttgart: Reclam, 1961), 253.

12 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, Berlinische Monatsschrift, Nr. Dezember (1784): 481–94.

13 Auch „kopernikanische Wende“ genannt.

14 Wilhelm Weischedel, 34 grosse Philosophen in Alltag und Denken : die philosophische Hintertreppe, [6. Aufl.] (München: Nymphenburger, 1980), 224.

15 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 53.

16 Immanuel Kant und Christoph Horn, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), 62.

17 Weischedel, 34 grosse Philosophen in Alltag und Denken, 225.

18 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, [Nachdruck], Reclams Universal-Bibliothek (Stuttgart: Reclam, 2012), 38.

19 Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, Berlinische Monatsschrift, Nr. November (1784): 385–411.

20 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden : ein philosophischer Entwurf (Königsberg: Nicolovius, 1795).

21 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (Königsberg: Nicolovius, 1793).

22 Am 5. April 1795.

23 Vgl. Immanuel Kant, „Was heisst: sich im Denken orientieren?“, Berlinische Monatsschrift, Nr. Oktober (1786): 304–30.

24 Immanuel Kant, Jens Timmermann, und Heiner F. Klemme, Kritik der reinen Vernunft, Sonderausg (Hamburg: Meiner, 2003), Vorrede.

25 1729 – 1781.

26 Gotthold Ephraim Lessing schrieb auch das berühmte Drama: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise : ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen (Berlin: Voss, 1779) Uraufführung am 14.4.1783 in Berlin.

27 Yirmiyahu Yovel, The adventures of immanence (Princeton N.J: Princeton university press, 1989).

 

28 1646 – 1716.

29 Leibniz wollte vor der Veröffentlichung Einblick in das Manuskript von Spinozas Hauptwerk Ethik erhalten. Spinoza lehnte dies jedoch entschieden ab. Obwohl sich Leibniz zeitlebens offiziell immer von Spinoza distanziert hatte, können doch einige versteckte spinozische Inspirationen in Leibniz‘ Werk erkannt werden. Man vergleiche etwa die wichtige Rolle des Kraft–Begriffs oder des Determinismus bei Leibniz. Vgl. Daniel Schmicking in: Spinoza und Vogl, Die Ethik, XLVVII.

30 1743 – 1819.

31 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Breslau: Löwe, 1785).

32 1729 – 1786.

33 Moses Mendelssohn, Morgenstunden, oder, Vorlesungen über das Daseyn Gottes (Berlin: C. F. Voss und Sohn, 1785).

34 Michael Murrmann–Kahl, Der Pantheismusstreit, in: Georg Essen, Philosophisch-theologische Streitsachen : Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Wissen verbindet (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012), 99.

35 Friedrich Heinrich Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, Bd. 1/1, Jacobi Werke : Gesamtausgabe (Hamburg, Stuttgart: Meiner, Frommann-Holzboog, 1998), 16–17.

36 Moses Mendelssohn, Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings (Berlin: Voss, 1786).

37 Mendelssohn, Morgenstunden, oder, Vorlesungen über das Daseyn Gottes.

38 Moses Mendelssohn starb am 4. Januar 1786 in Berlin.

39 Kant wählte 1770 zu seiner Unterstützung bei der öffentlichen Verteidigung (Disput) seiner Habilitationsschrift De mundi seibilis atque intelligibilis forma et principiis gegen alle Einwände der philosophischen Fakultät der Universität Königsberg den Juden Marcus Herz zu seinem persönlichen Respondenten (Unterstützer). Vgl. Bettina Stangneth, „Antisemitische und Antijudaistische Motive bei Immanuel Kant?“, in Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2001), 55.

40 Martina Thom, Moses Mendelssohn, in: Hans Erler, Judentum verstehen : die Aktualität jüdischen Denkens von Maimonides bis Hannah Arendt (Frankfurt/Main: Campus-Verl, 2002), 97–98.

41 Moses Mendelssohn, „Über die Frage: was heisst aufklären?“, Berlinische Monatsschrift 4 (1784): 193–200.

42 Die Abhandlung wurde ein Jahr später publiziert: Moses Mendelssohn, Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften (Berlin: Haude und Spener, 1764).

43 Später: Preussische Akademie der Wissenschaften.

44 Gotthold Ephraim Lessing und Herbert Greiner-Mai, Lessings Briefe in einem Band, Bibliothek deutscher Klassiker (Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, 1983), 28.

45 Kant, „Was heisst: sich im Denken orientieren?“.

46 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage, 1781; 2. wesentlich veränderte und erweiterte Auflage 1787.)

47 Kant spielt hier vermutlich auf die Bezüge zu Euklid im Werk Spinozas an.

48 Karl Vorländer, Rudolf Malter, und Heiner Klemme, Immanuel Kant : der Mann und das Werk, Sonderausg. nach der 3. erw. Ausg. von 1992 (Wiesbaden: Fourier, 2003), 331.

49 Namentlich waren dies: Johann Gottfried Herder (1744 – 1803); Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 – 1854); Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831): „Überhaupt ist Spinoza ein solcher Hauptpunkt der modernen Philosophie, dass man in der Tat sagen kann: Du hast entweder den Spinozismus oder gar keine Philosophie.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Philipp Konrad Marheineke, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (2v.) (Berlin: Duncker und Humblot, 1844), 362.

50 Jacobi: „Ich liebe den Spinoza, weil er mehr als ein anderer Philosoph, zu der vollkommenen Überzeugung mich geleitet hat, dass sich gewisse Dinge nicht entwickeln lassen: vor denen man darum die Augen nicht zudrücken muss, sondern sie nehmen, so wie man sie findet.“ (Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, 1/1:28 (Bd. 1). Auch stellte Jacobi fest, dass Spinoza eher ein Mystiker als ein Ungläubiger gewesen sei. (Vgl. Christophe Calame, „Friedrich Heinrich Jacobi“, in Encyclopédie du protestantisme (Paris: PUF, 2006).

51 1694 – 1768.

52 1717 – 1786.

53 So geschah es beim Erscheinen seines Werks Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage, 1781; 2. wesentlich veränderte und erweiterte Auflage 1787.)

54 Schultz, Immanuel Kant, 155.

55 Kant, „Was heisst: sich im Denken orientieren?“.

56 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2012, 144.

57 Ebd., 134.

58 Ebd., 171.

59 Ebd., 209.

60 Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik : eine Einführung, 4. Auflage, Einführung Theologie (Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2013), 31.

61 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2012, 135.

62 Ebd., 139.

63 Theophilanthropen waren Mitglieder einer neu geschaffenen deistisch–humanistischen Religionsgemeinschaft in Frankreich zur Zeit der französischen Revolution. Die Mitglieder pflegten eine elementare Tugendlehre und wollten den Respekt für die Menschenrechte mit der Verehrung Gottes verbinden – ohne Priester und Dogmen.

64 Immanuel Kant, Vorarbeiten und Nachträge, photomech. Nachdr, Kant’s gesammelte Schriften. Abt. 3, Kant’s handschriftlicher Nachlass (Berlin: de Gruyter, 1969), 452, https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa23/Inhalt23.html., 6. September 2018.

65 Ebd., 451.

66 „Man nannte dieser Richtung auch Lutherischer Pietismus Königsberger Färbung“ in: Manfred Kühn, Kant : eine Biographie, 3. Aufl (München: C.H. Beck, 2003), 55.

67 Ebd., 61.

68 Horst van der Zijpp Quiring, „Königsberg (Kaliningrad Oblast, Russia)“, in Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online, 2018, http://gameo.org/index.php?title=K%C3 %B6nigsberg_(Kaliningrad_Oblast,_Russia).

69 Kurt Kauenhoven, „Alcohol Among the Mennonites of Northeast Germany“, in Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online, 2018, http://gameo.org/index.php?title=Alcohol_Among_the_Mennonites_of_Northeast_Germany.

70 „Entscheidend ist aber für Kant nicht der Geschichtsglaube – sei es an Jesu himmlische Sendung, Auferstehung und Himmelfahrt oder an seine Wunder. Der Lehrer des Evangeliums interessiert als Urbild der allein Gott wohlgefälligen Menschheit.“ Werner Zager, Entwicklungslinien im liberalen Protestantismus: von Kant über Strauss, Schweitzer und Bultmann bis zur Gegenwart (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017), 27–28.

71 Menno Simons und andere Täufer waren wiederum stark von der mittelalterlichen Reformbewegung der „Devotio moderna“ geprägt. Vgl. Markus Jost, La Bible à l’école d’Ignace de Loyola et de Menno Simons, Spiritualité (Toulouse: Domuni-press, 2016), 11–18.

72 1758 – 1763.

73 Kant wurde am 22. April 1724 geboren. Friedrich Wilhelm I (1688 – 1740) liess den Fusionsvertrag der drei Ortschaften am 28. August 1724 in Kraft treten.

74 Pietisten sind Mitglieder der im 17. Jahrhundert einsetzenden Erweckungsbewegung innerhalb des Protestantismus (Pietismus, lat. „Frömmigkeit“). Der Pietismus betonte das Ideal eines an der Bibel orientierten praktischen Christentums der tätigen Nächstenliebe. Er entstand als Gegenströmung zur lutherischen Orthodoxie, die sich den streng rationalen Denkformen verpflichtet fühlte und stark die kirchliche Verkündigung prägte. Die Vertreter der lutherischen Orthodoxie bezeichneten die Pietisten, wie ursprünglich auch die Täufer und Mennoniten, auf polemische Art und Weise auch als Schwärmer.

75 Vorländer, Malter, und Klemme, Immanuel Kant, 378.

76 Das Evangelium nach Matthäus 7,13–14.

77 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2012, 210–11.

78 Ebd., 131–32.

79 Stangneth, „Antisemitische und Antijudaistische Motive bei Immanuel Kant?“, 60.

80 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 2012, 165.

81 Ebd., 168–69.

82 Stangneth, „Antisemitische und Antijudaistische Motive bei Immanuel Kant?“, 54.

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