Der Gott, der uns nicht passt

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B Vom Werden des Alten Testaments: Eine biblisch-historische Spurensuche

Mathias Nell

1 Fragen, die man besser nicht stellt …!?1

Auf den ersten Blick scheint die Sache für uns Freikirchler klar: Der Kanon2 des Alten Testaments besteht aus jenen 39 Büchern, die sich in unseren bevorzugten Bibelausgaben aus meist protestantischer Tradition finden. Logisch, dass der Apostel Paulus auch an jene 39 Bücher dachte, als er seinem jungen Freund Timotheus schrieb: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit […].“ Dieser bekannte locus classicus zur Inspiration der „Schrift“ aus 2Tim 3,163 führt den Ursprung aller „Schrift“ auf Gott selbst zurück.

Damit scheint bereits die Frage nach der Autorität jener „Schrift“ geklärt: Ist tatsächlich alle „Schrift“ „von Gott eingegeben“4, so besitzt auch „alle Schrift“ göttliche Autorität und ebenso ihren unbedingten Platz im Kanon der Heiligen Schrift(en): in unserer Bibel, dem „Wort Gottes“.

Doch stellt sich auf den zweiten Blick schon die legitime Anschlussfrage: Welche Schrift/en ist/sind mit „alle Schrift“ tatsächlich gemeint? Woher können wir sicher wissen, dass Paulus in 2Tim 3,16 wirklich jene uns vorliegenden 39 alttestamentlichen Bücher5 vor Augen hatte, wie wir es heute in gutmütig selbstverständlicher Weise annehmen? Natürlich: Werten wir den heutigen Umfang einer Bibel aus protestantischem Erbe als unantastbar und einzig-gültig, so lautet der Rückschluss gezwungenermaßen: „Alle Schrift“ meint jene 39 Bücher, die wir in unseren Bibeln finden. Diese Bücher befinden sich also deswegen im (protestantischen) Kanon, weil sie von Gott inspiriert sind. Gleichzeitig wird damit – meist stillschweigend, aber doch implizit – festgestellt: Weitere inspirierte, also von Gott eingegebene Bücher außerhalb „unseres“ alttestamentlichen Kanons gab und gibt es offenbar nicht. Denn wäre dies so, weshalb befinden sich diese Bücher dann nicht im Kanon?

Diese einfache Logik muss im Ergebnis gar nicht falsch sein, doch sollte sie sich mit kritischen Anfragen hinsichtlich ihres Werdegangs auseinandersetzen, z. B.: Woran lässt es sich festmachen, dass ausgerechnet jene 39 Bücher inspiriert und somit einen rechtmäßigen kanonischen Anspruch besitzen? Inwiefern und woran lässt sich denn Inspiration überhaupt feststellen? Muss nicht auch der Kanonisierungsprozess selbst – zumindest im weitesten Sinne – irgendwie unter göttlicher Inspiration, bzw. Führung, verlaufen sein? Und wie sind dann die zusätzlichen Bücher im alttestamentlichen Kanon der Römisch-Katholischen Kirche (RKK) zu bewerten?6

Denn der alttestamentliche Kanon der RKK beinhaltet noch sieben weitere, sog. deuterokanonische7 Bücher. Seit dem Konzil von Trient (ab 1546) gelten diese Bücher in der RKK, zusätzlich zu den bereits etablierten (protokanonischen) alttestamentlichen Schriften, als „inspiriert und damit auch als autoritativ“ (wenn auch „mit etwas geringerer Wertigkeit“8). 1870 wurde diese Entscheidung durch das Erste Vatikanische Konzil bestätigt. Dabei war es jedoch nicht so, dass die RKK jene deuterokanonischen Bücher aus dem Nichts in ihren Kanon als Reaktion auf Luther (bzw. zur Abgrenzung gegen den reformatorischen Schriftenbestand [s. u.]) aufnahm. Tatsächlich befanden sie sich dort bereits seit vielen Jahrhunderten und gehörten über mehr als ein ganzes Jahrtausend hinweg zum etablierten Standard des Alten Testaments (s. u.).

Ein genauerer Blick auf den Sachverhalt ist also nicht nur legitim, sondern letztlich sogar geboten, denn es sollte doch Sicherheit herrschen über den Umfang – und somit auch den Inhalt – jenes alttestamentlichen Kanons, dessen Texte im Rahmen des gesamtbiblischen Kanons für Lehre und Leben der Christenheit Basis, Maßstab und Richtschnur bilden.9

Der vorliegende Aufsatz beleuchtet den Prozess der Kanonisierung des Alten Testaments von dessen grundlegenden Anfängen im Frühjudentum und in der alten Kirche10 bis hin zu den heute allgemein verbreiteten und o. g. Formen.11 Hierfür werden wir uns zu Beginn knapp mit der Frage nach der Inspiration der alttestamentlichen Schriften auseinandersetzen, da diese Quaestio unmittelbar mit der Autoritätsfrage dieser Schriften zusammenzuhängt (und somit wiederum für deren Kanonizität relevant ist).

2 Die Inspiration des Alten Testaments – kurz und bündig

Dass die Inspiration des Alten Testaments für die frühen Christen feststand, ist vor allem in 2Tim 3,16 (s. o.) umfassend und klar auf den Punkt gebracht.12 Denn die dort genannte „Schrift“ bezieht sich als Terminus technicus in jedem Fall auf das gesamte Alte Testament (wie es im 1. Jh. n. Chr. vorlag), womit zugleich die Autoritätsfrage beantwortet ist:

Sie hat die Qualität einer „Heiligen Schrift“. Infolgedessen kann Paulus den Begriff „Heilige Schriften“ verwenden (Röm 1,2). „Heilig“ aber ist sie in dem Sinne, daß hier „die Worte Gottes“ vorliegen (Röm 3,2). Unser erstes Resultat lautet: Im NT wird das gesamte damalige „Alte Testament“ – sein Umfang interessiert hier noch nicht – als „von Gott eingegeben“ aufgefaßt. Dieses Resultat ist unter Exegeten auch weitgehend anerkannt.13

Der konsequent fraglose Umgang mit den alttestamentlichen Schriften im Neuen Testament14 bestätigt die Worte des Paulus, dass die göttliche Inspiration – und damit auch die Autorität – jener Schriften in der ersten Christenheit kein Diskussionsgegenstand war.15 Der Grund dafür wiederum liegt in Christus selbst. In Joh 5,39 bringt Jesus sein Verhältnis zu diesen Schriften auf den Punkt und bestätigt sie somit im Gesamten: „… sie sind es, die von mir zeugen.“ Diese neue – christologische – Sichtweise auf die alten Schriften16 erklärt auch prägnant deren weiterhin gültige Autorität in der frühen Kirche.17

3 Der Kanon des Alten Testaments

Wie zuvor erwähnt, hatte die früheste Christenheit von Anfang an „heilige Schriften“, eben jenen damals vorliegenden alttestamentlichen Kanon (s. o.), den sie mit ihrer neuen christologischen Lesart für sich übernahm.18 Genaugenommen kannten die ersten Christen sogar zwei19 Kanons: einen hebräischen und einen griechischen Kanon. Die Frage, ob hier tatsächlich von zwei Kanons die Rede sein sollte – da die Septuaginta allgemein als die Übersetzung der hebräischen Bibel20 bekannt ist – ist natürlich berechtigt. Die Tatsache aber, dass sich beide Textcorpora zumindest in den heute vorliegenden Fassungen hinsichtlich Umfang, Buchabfolge sowie auch inhaltlich unterscheiden, nötigt zu einem genaueren Blick.

3.1 Der Tanach im 1. Jh. n. Chr.

Der hebräische Kanon des Alten Testaments wird oft mit dem Kunstwort „Tanach“ oder „Tenak“ beschrieben,

das sich aus den Anfangsbuchstaben der drei Hauptteile zusammensetzt: Thora (urspr. Weisung) = 5 Bücher Mose, Nebiim (hebr.: Propheten), unterteilt in vordere (Jos, Ri, 1–2 Sam, 1–2 Kön) und hintere Propheten (Jes, Jer, Ez, 12–Propheten-Buch); Ketubim (hebr.: Schriften = Ps, Hi, Spr, Ruth, Hohl, Koh, Klgl, Esther, Dan, Esr, Neh, 1–2 Chr).21

Die Aufteilung in die drei genannten Hauptkategorien ist bereits um 180 v. Chr. durch Jesus Sirach belegt, der dabei „schon die Prophetenbücher in der kanonischen Ordnung, ja, sogar die Einheit der zwölf kleinen Propheten (49,10)“ kennt.22 Das Neue Testament selbst bestätigt diese Dreiteilung, wenn Jesus sich z. B. auf „das Gesetz des Mose, die Propheten und die Schriften (Lk 24,44)“ bezieht.23 Zwar wird noch immer diskutiert, welche Bücher sich zu welcher Zeit bereits innerhalb der genannten dreifachen Aufteilung befanden, sodass manche24 erst das 3./4. Jh. n. Chr. für die verbindliche Festlegung der Kanongrenzen am wahrscheinlichsten halten.25 Doch gibt es einige Hinweise, die für einen sehr stabilen jüdischen Kanon schon in der Mitte des 1. Jhs. sprechen.

Josephus’ Abhandlung „Contra Apionem“, die die fixierte Zahl der Kanonischen Bücher auf 22 beziffert, wird gewöhnlich auf etwa 93 n. Chr. datiert. […] Josephus referiert eine Tradition über die Schrift, die bei den Juden schon lange in Geltung stand und die er wahrscheinlich als Mitglied der pharisäischen Partei früh in seinem Leben kennengelernt hatte (ca. 56/57 n. Chr.). Demzufolge reflektiert Josephus eher die pharisäische Tradition um 50. n. Chr. als die um 70. […] Weiterhin belegt der Befund bei den alexandrinischen Kirchenvätern des 3. und 4. Jahrhunderts (Origenes und Athanasius), daß der biblische Kanon in Alexandria gemäß der jüdischen Tradition auch nicht aus mehr als 22 Büchern bestand.26

Gegen eine verbindliche Festlegung der Kanongrenzen erst im 3./4. Jh. n. Chr. spricht auch der Bericht von Melito von Sardes, der schon gegen Ende des 2. Jhs. „in den Orient“, genauer „an den Schauplatz der Predigten und Taten unseres Erlösers“ reist, „um „über die Bücher des Alten Testaments“, ihre Zahl und Reihenfolge genaue Erkundigungen einzubeziehen.“27 Melito berichtet seinem Bruder Onesimus, dass das im Orient geläufige griechische AT „exakt dem hebräischen Kanon“ entspricht (wenn auch mit anderer Reihenfolge und der typischen anderen Zählweise [s. u.]), mit Ausnahme des Buches Esther, „das hier wie in den meisten griechischen Kanonlisten fehlt“.28

Der Befund, daß das pharisäische Judentum eine fest fixierte Form der Schrift besaß, wird weiterhin durch die Tatsache unterstützt, daß Zitate aus den Apokryphen bei Philo, Josephus und dem Neuen Testament fehlen. Ähnlich zitieren Jesus Sirach, die Verfasser der Makkabäerbücher, Hillel, Schamai und alle Tannaiten des 1. Jahrhunderts niemals apokryphe Literatur als „Heilige Schrift“ […].29

Angesichts der großen Vielfalt und Popularität, welche die frühjüdischen apokryphen30 und pseudepigraphischen31 Schriften besaßen, wiegt dies umso schwerer.

Eine zu diskutierende Ausnahme stellt im Neuen Testament allerdings der Judasbrief dar. Dieser bezeugt als einzige neutestamentliche Schrift gleich zwei Bezüge auf frühjüdische außerkanonische Schriften: zum einen auf das 1. Henochbuch. Aus diesem wird in Jud 14–15 fast wörtlich 1Hen 1,9 zitiert: „Und siehe, er kommt mit Myriaden von Heiligen, damit er Gericht über sie halte. Und er wird vertilgen die Frevler, und er wird alles Fleisch überführen wegen aller Dinge, mit denen sie gegen ihn gehandelt und gefrevelt haben, die Sünder und Frevler.“32 Zuvor liegt in Jud 9 schon ein Bezug zur „Himmelfahrt des Mose“ vor, wo vom Kampf des Erzengels ­Michael mit dem Satan die Rede ist.33 Auch für diese beiden Bezüge gilt jedoch: Judas zitiert „an keiner Stelle diese Werke als ,Schrift‘ (der Begriff graphä [eig. Umschrift] wird nicht verwendet)“34 und Judas sagt „mit seiner Bezugnahme auf diese Texte nichts darüber aus, was er über die Bücher dachte, denen sie entstammen.“35

 

In jedem Falle lässt sich die Bezugnahme als eine Art biblisch-lehrmäßig abgedeckter Pragmatismus im Blick auf Judas’ Argumentationsziel bezeichnen, denn:

Weder in der älteren christlichen Überlieferung noch im Alten Testament noch in den übrigen Kapiteln des Henochbuches, einschließlich der Bildreden, findet sich eine Gerichtsprophetie, die alle die Prophetie von äthHen 1,9 auszeichnenden Elemente vereinigen würde. Eine argumentativ geeignetere Endgerichtsprophetie hätte Jud vermutlich nicht finden können. [...] Entscheidend für ihn war, dass die Endgerichtsprophetie für seine pragmatische Argumentation wie geschaffen war. Abgesehen davon, daß ihr wesentlicher Inhalt durch den urchristlichen Endgerichtsglauben gedeckt war, lassen sich übrigens fast alle ihre Motive und Details aus dem Alten Testament belegen, so daß Jud mit ihr der alttestamentlichen Tradition von Theophanieaussagen treu bleiben konnte.36

Auch wenn die Bezüge im neutestamentlichen Judasbrief eine diskutable Ausnahme darstellen (mögliche Bezüge zum 1. Henochbuch wurden auch in 1Kor 11,10 sowie in 1Petr 3,19f; 4,6; 2. Petr 1,10f; 2,4 und Jud 6 gesehen, wobei diese Anspielungen nur sehr schwach und daher eher unsicher auszumachen sind), so lässt sich daraus – gerade angesichts der großen Popularität der apokryphen Schriften – dennoch „nicht schließen, dass Henoch als kanonisch gegolten hätte oder dass die frühen Christen den Unterschied zwischen ,kanonischen‘ Schriften und anderen nicht beachtet hätten.“37

Zudem:

Der stärkste Beweis für einen fest fixierten hebräischen Kanon ergibt sich aus der Geschichte der Stabilisierung des masoretischen Textes. Material aus Qumran und den umliegenden Höhlen zeigt, daß der masoretische Text schon um 70 n. Chr. einen hohen Grad an Stabilität erlangt hatte. Überdies versuchte schon im 1. Jahrhundert v. Chr. eine proto-lukianische Rezension, die griechische Bibel in dem Sinne zu überarbeiten, daß sie die Septuaginta dem entstehenden hebräischen Text genau anpaßte. Ähnlich verhielt es sich [mit der] proto-theodotianischen Rezension, der Revision der griechischen Bibel am Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr., die wiederum die LXX in strenge Konformität mit dem proto-masoretischen Text brachte […]. Am wichtigsten ist es, daß diese Rezension die Bücher Daniel, Ruth und Klagelieder enthielt. Die Folgerungen für den Themenkreis des Kanons sind klar: Der Text eines Buches würde nicht korrigiert und stabilisiert worden sein, wenn das Buch nicht schon eine Art kanonischen Status erlangt hätte.38

Die im Zitat erwähnten Bücher „Daniel, Ruth und Klagelieder“ gehören der dritten Gruppe, den „Schriften“ an, welche am umstrittensten hinsichtlich ihrer Kanonizität im 1. Jh. ist.39 Wie Childs jedoch zeigt (s. o.), ist auch von der Zugehörigkeit dieser Bücher zum Kanon bereits zu Anfang des 1. Jhs. auszugehen.

Zu erwähnen sei noch die sog. Synode von Jamnia (ca. 95 n. Chr.)40, welche den letzten großen Meilenstein in der Kanonisierung der hebräischen Bibel darstellt. Explizites Wissen über deren Verlauf fehlt, doch vermutlich „aufgrund allgemeiner Übereinstimmung innerhalb des verbliebenen Judentums“ ging man

von dem aus, was allgemein als „Schrift“ in den Gottesdiensten gelesen wurde. Bei einigen Schriften ging es darum, ob sie im Kanon bleiben sollten: Ester (das Gott überhaupt nicht erwähnt), Prediger (dessen Skepsis und hedonistische Züge missfielen), Hoheslied (mit seiner erotischen Sprache), möglicherweise Sprüche und Hesekiel (,Widersprüche‘ zwischen der Priestergesetzgebung in Hes 40–48 und Ex 25–Num 10?) […] wurden angesprochen. Diskutiert wurde nicht darüber, ob neue Bücher in den Kanon eingefügt werden sollten, sondern ob alle im Kanon enthaltenen Bücher heilig genug seien […], um dort zu bleiben. Doch handelte es sich kaum um eine Ausgrenzung bestimmter Schriften, sondern um eine Bestandsaufnahme und die Festschreibung des traditionellen Bestandes zu einer normativen Größe.41

Auch wenn ein formaler Beschluss der sog. Synode von Jamnia unbekannt ist, so zeigt die Durchführung dieser Synode doch, dass die Juden am Ende des 1. Jhs. großen Wert darauf legten, die Kanonfrage zu klären. Die besprochenen Bücher belegen dabei deren bereits etabliertes Vorhandensein in der hebräischen Bibel.

Summa: Die Belege sind sehr überzeugend, daß letztlich innerhalb der Kreise des pharisäischen Judentums ein Konzept eines etablierten hebräischen Kanons mit einem relativ fixierten Umfang der Schriften und einem zunehmend autoritativen und stabilisierten Text während des 1. Jahrhunderts v. Chr. aufgekommen ist.42

Die o. g. Zahl von 22 kanonischen Büchern in der hebräischen Bibel braucht nicht zu befremden, da es sich hierbei lediglich um eine andere Zählweise desselben uns heute vorliegenden Materials handelt. „Die Zahl 22 erklärt sich wohl so, dass Rut zu Ri und Klgl zu Jer gerechnet werden. ,Die Zwölf‘ gelten als ein Buch, wie 1 u. 2Sam, 1 u. 2Kön, Esr u. Neh als je ein Buch zählen.“43 Ebenso die Zahl 24 begegnet als Angabe der kanonischen Bücher, doch liegt auch dort lediglich eine veränderte Zählweise zugrunde.44 Die jeweilige Zählweise war dabei sicherlich zielführend bedingt: Das hebräische Alphabet kennt 22 Buchstaben sowie 24 „das Doppelte der Anzahl der 12 Stämme Israels ist.“45

3.2 Die Septuaginta (LXX) im 1. Jh. n. Chr.

Eine Herausforderung sowohl für die Kanonfrage als auch mit ihr zusammenhängend die Frage nach der Autorität der einzelnen biblischen Texte scheint die Septuaginta darzustellen. Denn die maßgebliche Bibel der frühen Christen war nicht die hebräische Bibel, sondern deren Übertragung ins Griechische.

Die frühe christliche Kirche übernahm die heiligen Schriften des Judentums in Gestalt der griechischen Überlieferung des Alten Testaments, der Septuaginta (Abk.: LXX oder G). Dies hatte seinen Grund in der christlichen „Heidenmission“ – Griechisch war damals die „Weltsprache“ (wie heute Englisch) – und in dem immer dominierender werdenden Gewicht der „Heidenchristen“ innerhalb der jungen Kirche. Die LXX besaß im Diasporajudentum bereits ein hohes Ansehen. Nach dem Zeugnis des Aristeasbriefes wurde diese griechische Übersetzung der hebräischen Tora im 3. Jh. in der hellenistischen Metropole Alexandria von 72 jüdischen Gelehrten in nur 72 Tagen angefertigt, was freilich eine Legende ist. Tatsächlich entstanden die griechischen Übersetzungen in einem längeren Prozess ab dem 3. Jh. v. Chr. Die LXX bietet jedenfalls über die hebräische Bibel hinaus noch […] weitere Bücher, die fast alle ursprünglich in Griechisch verfasst waren.46

Bei diesen weiteren Büchern handelt es sich um die Schriften Judith, Tobit47, 1.–4. Makkabäerbrief, Oden, Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Psalmen Salomos, Baruch, Brief des Jeremia sowie um einige Textzusätze bei Daniel,48 zudem um das sog. Gebet Manasses in 2. Chronik und um Psalm 151.49 Einige dieser Schriften finden sich bis heute im alttestamentlichen Kanon der RKK (s. o.). Diese zusätzlichen Bücher des griechischen Alten Testaments stellen bei näherem Hinsehen jedoch kein tatsächliches Problem für die Frage nach dem Kanon im 1. Jh. n. Chr. dar:

Obwohl die LXX apokryphe Schriften enthält, die sich nicht in der hebr. Bibel finden, wäre es eine grobe Vereinfachung zu sagen, das griechisch sprechende Judentum bzw. Diasporajudentum hätte einen umfangreicheren Kanon gehabt als das palästinensische. Von einigen LXX-Fragmenten in Qumran abgesehen, […] stammen die meisten uns zugänglichen Manuskripte der LXX aus dem 4. Jh. n. Chr.; sie wurden von Christen und nicht von Juden überliefert. Die Anzahl der Bücher in den jeweiligen Ausgaben ist verschieden, sodass es schwierig ist, eindeutig zu sagen, was dazugehörte.50

Die in unterschiedlichem Umfang überlieferten zusätzlichen Bücher der LXX können also nicht als Hinweis auf verschollene Bücher im hebräischen Kanon dienen, da es sie dort offenbar nie gab.51 Sie waren dementsprechend auch den neutestamentlichen Autoren nicht (als kanonisch) bekannt. Dies wird zusätzlich durch die Tatsache gestützt, dass im Neuen Testament nirgends aus einem jener zusätzlichen Bücher zitiert oder auf ein solches verwiesen wird.52 Der Kanon der Septuaginta entsprach daher im 1. Jh. n. Chr. mit hoher Wahrscheinlichkeit dem der hebräischen Bibel.

4 Der hebräische und der griechische Text des Alten Testaments und deren Rezeption im Neuen Testament

Die konkrete Herausforderung zeigt sich an anderer Stelle. Sie besteht darin, dass die LXX keine 1:1-Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische darstellt, sondern den Bibeltext der einzelnen Bücher an Umfang und Inhalt gegenüber dem hebräischen Original z. T. stark verändert bezeugt. Bei einem Vergleich wird schnell deutlich, dass

die Übersetzer der Septuaginta nicht nur um Äquivalenz bemüht waren, sondern auch zur verdeutlichten und klärenden Interpretation des von ihnen übersetzten hebräischen Bibeltextes neigten. Die antiken Übersetzer der jüdischen Heiligen Schriften ins Griechische verband ein exegetisches Eigeninteresse, denn sie strebten mehrheitlich danach, diese Heiligen Schriften für Juden in einem (gegenüber Zeit und Ort ihrer Abfassung bzw. ihrer anfänglichen Überlieferung) veränderten sozialen, kulturellen und sprachlichen Umfeld so deutlich und verständlich wie möglich zu machen.53

So ehrenwert dieses Bestreben der antiken Übersetzer gewesen sein mag, so gehen damit zumindest nach heutigem Empfinden sachgemäßer Textrezeption doch große Probleme einher. Denn die LXX offenbart „verschiedene theologische Standorte ihrer Übersetzer; Worttreue und Zuverlässigkeit schwanken beträchtlich.“54 Zudem muss man sich vergegenwärtigen, dass es die LXX gar nicht gab, denn schon im 1. Jh. „gab es wohl keine zwei textidentischen Exemplare eines ins Griechische übertragenen Buchs der hebräischen Heiligen Schriften des Judentums.“55

Für die Juden des 1. Jhs. und auch für die neutestamentlichen Autoren – welche ja z. T. selbst jüdisch waren – stellte dies jedoch kein Problem dar: Philo und Josephus verwendeten die LXX „ausschließlich oder vorzugsweise“56 und das Neue Testament legt aus o. g. Gründen „nahezu ausschließlich die LXX für Texte des Alten Testaments zugrunde: ,Die Übereinstimmung von prophetischer Weissagung in der Gestalt, wie sie die griechische Bibel bot, und ihrer endzeitlichen Erfüllung im Christusgeschehen (vgl. Röm 1,2), war für sie evident.‘“57 Dies liegt wohl darin begründet, dass „die neutestamentlichen Vorstellungen von prophetischen Erfüllungen häufig nur im Wortlaut des griechischen Textes funktionieren.“58 Wo das den jeweiligen Autoren nicht reichte, zeigte sich bei ihnen dann auch die Freiheit (zugunsten ihres Zeugnisses über Christus), dass sie „das Alte Testament in einer Weise umformten, die zum ursprünglichen Sinn des hebräischen Textes in großer Spannung stand.“59 Dieses Verhalten – sowie auch das über lange Zeit hinweg problemlose Nebeneinander von hebräischer und griechischer Bibel überhaupt – lässt Rückschlüsse über die Autorität der alttestamentlichen Texte im Speziellen zu (für deren grundsätzlich unumstrittene Autorität s. o.): Offenbar nötigte die allgemein anerkannte Autorität der hebräischen Texte zu keiner literarischen Unantastbarkeit derselben (s. u.), sondern ließ sowohl sehr freie Übertragungen sowie – zumindest aus Sicht der frühen Christen – durchaus auch Enthebungen aus ihren ursprünglichen Kontexten zu ihren apostolischen, bzw. inspirierten Rezeptionen und Anpassungen im Neuen Testament zu. Eine verbindliche Autorität wohnte den Texten somit zwar inne, doch wie diese de facto aussah, bestimmte der (inspirierte) Ausleger.

Diese heute empfundene Spannung im Umgang mit den Texten kann zum einen schlicht dadurch gelöst werden, indem man die neutestamentlichen Autoren aufgrund ihrer besonderen Berufung und Inspiration durch Gott zu solch einem Handeln angeleitet und legitimiert sieht. Obwohl dieses Argument zunächst nach einer platten Ausflucht klingt, ist es doch unbenommen, dass sich diese Annahme mit dem Selbstzeugnis des Neuen Testaments deckt (s. o.). Gleichzeitig führt diese Sichtweise jedoch auch zu der Akzeptanz darüber, wie weit sich Inspiration und Führung Gottes am biblischen Text tatsächlich erstreckt: Sie zeigt sich nämlich nicht nur in der Abfassung neuer – nach unserer heutigen Bezeichnung „neutestamentlicher“ – autoritativer Schriften, sondern auch in der Änderung oder Anpassung bereits vorher inspirierter (alttestamentlicher) Schrift zur Integration in die neuen Texte und Situationen.

 

Vorausgehend dazu erklärt sich der freie Umgang mit den alttestamentlichen Textvorlagen im Neuen Testament aber auch dadurch, dass sich Autorität und Recht im Frühjudentum grundsätzlich „regelmäßig an großen Autoritäten orientiert und daher eher personal als codexhaft verstanden“ wird („daher auch im hellenistischen Judentum die Fiktion von Mose als Gesetzgeber […]“60). Die alttestamentlichen Texte – oder vielmehr deren Interpretationen – waren also sowieso in keiner Form unantastbar für jemanden, der in Lehrautorität stand (s. Jes 28,11f in 1Kor 14,21, was anschaulich zeigt, dass frühjüdische Auslegung des Alten Testaments auch dessen „Textänderung“ beinhalten kann).

Als solch eine Autorität verstanden sich auch die ntl. Autoren, insbesondere Paulus. Dies zeigt sich u. a. daran, dass der Apostel immer wieder auch in eigener Autorität spricht, wie z. B. in 1Tim 2,8 („Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort beten, …“ – eig. Hervorhebung.). Dass Paulus hier ein eigenes Gebot ausspricht, heißt nicht, dass er dies nicht im Einklang mit dem Willen Gottes täte, sondern es zeigt lediglich, dass er seine Entscheidung und Meinung hier nicht der anderer angleicht oder von jener herkommt. Dies wird eben an der Verwendung von boulomai deutlich, denn dies meint sowohl im Neuen Testament als auch „im hell. Griech. und auch in LXX“ (und somit also in der Sprache der Epheser, auch der dort lebenden Juden) „ein bewusstes Wollen als Folge einer bestimmten Überlegung, eine Willensentscheidung“, quasi „als apostolische Forderung“.61 Das Sprechen in eigener Autorität zeigt also gerade, dass Paulus sich selbst als normativer Vertreter einer neuen Richtung (zwar weitestgehend unabhängig von den bisherigen Lehransichten, aber immer noch) innerhalb des Judentums sah. Seine Verteidigungsrede vor dem Sanhedrin (Apg 23,6: „… ich bin ein Pharisäer“), deutet weiter darauf hin, dass Paulus sich selbst noch immer als Jude und das nicht nur im ethnischen Sinn verstand.

Man darf ja nicht vergessen, dass es vor der Vertreibung der Juden aus Jerusalem 70 n. Chr. so etwas wie ein normatives Judentum noch nicht gab, von dem Paulus sich hätte klar abgrenzen können. Es gab eine ganze Reihe verschiedener Strömungen innerhalb des jüdischen Volkes, die sich in ihrer Theologie z. T. erheblich unterschieden (s. Apg 23,8: Pharisäer und Sadduzäer). Paulus eben repräsentiert nun eine neue Richtung und legt in ihr als normativer jüdischer Gelehrter so auch das überlieferte Gesetz (neu) aus und zieht daraus seine Schlüsse und Anweisungen.62 Aus Sicht der Juden hatte Paulus also seine eigene (christliche) Schule gegründet und fungierte in ihr als normative Autoritätsperson, welche die alttestamentlichen Schriften neu (also christlich, bzw. christologisch) auslegte. Dabei wirkte sich sein Status natürlich auch auf den Verbindlichkeitsgrad seiner Auslegungen für „seine Schule“ (die Kirche Jesu) aus:

Die Paränese in neutestamentlichen Briefen unterscheidet sich hinsichtlich ihres Verpflichtungsgrades und ihrer rechtlichen Relevanz nicht von Sätzen der Torah. […] Offenbar machen wir uns oft falsche Vorstellungen über das Maß an Biblizismus zu neutestamentlicher Zeit. Jedenfalls wird eine Durchdringung und teilweise Verdrängung von biblischen Geboten durch Paränese nicht als Abfall vom Nomos angesehen, und im Übrigen kommt es darauf an, ob die Autorität dessen, der festlegt, welche Paränese gilt, mit der des Mose vergleichbar ist […]. Und für Jesus und Paulus ist das durch den Rahmen der Paränesen hinreichend sichergestellt […].63

5 Gab es einen kanonischen Text des Alten Testaments?

Die bisher erbrachten Ergebnisse zeigen: Zwar gab es um Christi Geburt schon einen sehr stabilen hebräischen Kanon autoritativer Schriften (s. o.), dessen Bücher sich auch exklusiv in der griechischen Übersetzung jenes Kanons gefunden zu haben scheinen (s. o.). Somit ist es durchaus legitim, nur von einem Kanon im 1. Jh. n. Chr. zu sprechen, obschon dieser in verschiedenen Sprachen vorlag.

Allerdings zeigt sich in der großen Freiheit des Frühjudentums (und somit auch des frühen Christentums) bezüglich ihres Umgangs mit den heiligen Schriften ebenso, dass das Kanonverständnis in jener Zeit als sehr weit in Bezug auf Inhalt und Sprache der einzelnen alttestamentlichen Texte zu bewerten ist. Genaugenommen scheinen sich Debatten über die Kanonizität einzelner Schriften immer nur auf die Bücher selbst, nicht aber auf die literarische Integrität und Bedeutung der Texte an sich bezogen zu haben (wie die z. T. sehr freien Übertragungen der LXX zeigen [s. o.]). Die Frage nach einer gemeinsamen, verbindlichen – also kanonischen – textlichen Basis des Alten Testaments, dessen Literalsinn auch die griechischen Übersetzungen bestmöglich zu bewahren und wiederzugeben hätten, stellte sich nicht.

Gab es also je einen kanonischen Text des Alten Testaments? Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass man diese Frage – wenn überhaupt – jeweils gesondert für den Text des Tanach und den Text der LXX stellen muss. Die Antwort lautet jedoch in beiden Fällen gleich: Nein, es gab und gibt keine offiziell kanonische Textform. Zwar bestand bei beiden Textcorpora im Laufe der Zeit das Bemühen, deren jeweilige Texte zu bereinigen und zu standardisieren (für den Masoretischen Text begann das schon im 2. Jh. n. Chr.; in Bezug auf den reinen Inhalt sogar schon im 3. Jh. v. Chr., ohne dass hier aber auf „exakte Wiedergabe“ des Konsonantenbestandes größter Wert gelegt wurde [Fischer 2009, 22]64) – ein Bemühen, welches letztlich zu den heute wissenschaftlich verantworteten Ausgangstexten für unsere Bibelübersetzungen führte65 –, jedoch kann keine Rede davon sein, dass die standardisierten Texte in irgendeiner greifbaren Form autoritativer waren als vor ihrer Standardisierung. Somit hatte und hat (es handelt sich hierbei um ein noch immer andauerndes Bemühen) der standardisierte Text eines Buches keinen Einfluss auf dessen Platz im Kanon. Daher brauchen wir uns an dieser Stelle nicht intensiver mit diesen Prozessen beschäftigen.

6 Der Kanon des Alten Testaments in der Kirchengeschichte

Wie oben gezeigt wurde, galt das Alte Testament den Christen im 1. Jh. noch uneingeschränkt als Autorität. Um 144 bereits gab es durch den reichen Reeder und Kaufmann Marcion jedoch einen ersten Versuch, „das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln zu trennen und das Neue des christlichen Glaubens in Antithese zum Judentum zu bestimmen.“66 So erklärte Marcion das gesamte Alte Testament für nicht mehr relevant für Christen und hatte auch „viele Verweise im Neuen Testament auf das Alte Testament herausgenommen.“67 Damit stieß er jedoch auf erheblichen gesamtkirchlichen Widerstand: „Die Mehrzahl der Gemeinden hat weder seine neutestamentliche Kanonreduktion mitvollzogen noch die neutestamentlichen Bücher als Ersatz, sondern stets nur als maßgebenden Zusatz zum Alten Testament verstanden.“68